Ein ehemaliger Agent des British Security Service, eines unter dem Namen MI5 bekannten Geheimdienstes, hat in einer eidesstattlichen Erklärung ausgesagt, dass diese Behörde während der späten sechziger Jahre Berichte eines Spions in der Führungsspitze der Workers Revolutionary Party erhalten habe.
Der Ex-Agent, David Shayler, lebt heute in Frankreich. Er hat Großbritannien verlassen, um nicht gerichtlich wegen der Preisgabe von Staatsgeheimnissen belangt zu werden. In seiner eidesstattlichen Erklärung vom 18. Februar behauptet Shayler, dass der betreffende Spion den MI5 über Geldspenden John Lennons an die WRP informiert habe.
Shayler gibt an, er selbst habe Einsicht in Ausschnitte einer MI5-Akte über Lennon erhalten. Der Musiker sei überwacht worden, weil seine sozialistischen und anti-imperialistischen Einstellungen der britischen herrschenden Klasse ein Dorn im Auge waren.
In Shaylers Erklärung heißt es, die Unterlagen "betrafen Lennons Unterstützung für die Workers Revolutionary Party (WRP), eine trotzkistische Organisation. Aus den Akten ging hervor, dass nach den Angaben einer Quelle innerhalb der WRP Lennon der WRP in den späten sechziger Jahren Zehntausende Pfund gegeben habe, und dass er um dieselbe Zeit auch der Irisch-Republikanischen Armee Geld zukommen ließ."
Shaylers Erklärung wurde einem Bundesbezirksgericht in Los Angeles zugefaxt, vor dem Professor Jon Wiener, ein Geschichtsdozent an der University of California, die Freigabe jener Unterlagen über Lennon beantragt hat, die der MI5 an das Federal Bureau of Investigation (FBI) weitergeleitet hatte.
Das FBI widersetzt sich der Freigabe mit der fadenscheinigen Begründung, die Überwachungsakte sei Eigentum eines anderen Staates. Dennoch entschied Richter Brian Q. Robbins vor zwei Wochen gegen das FBI und ordnete die Freigabe zweier Briefe an, in denen der MI5 die Ergebnisse seiner Operation gegen Lennon zusammenfasste. Die Dokumente dürften einiges Licht auf die Zusammenarbeit der US-amerikanischen und der britischen Regierung bei der Bespitzelung des großen Song-Writers und Musikers werfen. Erwartungsgemäß wird das FBI gegen den Richterspruch in die Berufung gehen.
Ironischerweise hatte der MI5 seine Spitzelberichte über Lennon nur zögerlich an das FBI weitergeleitet, weil er befürchtet hatte, dass diese Informationen dann irgend wann an die Öffentlichkeit gelangen würden. "Der MI5 dachte", schreibt Shayler, "dass das FBI die Informationen vielleicht an die Öffentlichkeit bringen und damit seine Quelle in der WRP kompromittieren würde."
Ein Artikel in der Londoner Sunday Times vom 20. Februar bringt einige zusätzliche Informationen. Die Journalisten John Harlow und Nicholas Rufford schreiben:
"Beamte der Abteilung F des MI5 überwachten bereits die WRP, die als ernste Bedrohung der Demokratie in Großbritannien galt. Der Geheimdienst hatte einen Top-Spitzel‘ in der Organisation, möglicherweise eben jene Person, mit der Lennon in Verbindung stand. So wurde letzterer für den MI5 zu einer legitimen Zielscheibe - sie wollten wissen, ob er ein Verschwörer oder einfach nur naiv war.
Deshalb legten sie eine allgemeine Akte über ihn an, die auch Zeitungsausschnitte und Klatsch enthielt.
Offenbar lag auch ein handschriftlicher Text von Lennons Working Class Hero‘ bei, dem politischsten seiner Songs. Der beschriebene Bogen, den er als Geschenk an die WRP geschickt hatte, war von dem MI5-Agenten in der Partei abgefangen worden. Heute wäre der Text auf Versteigerungen Tausende Pfund wert."
Der Artikel der Sunday Times erläutert auch die Anfänge der Zusammenarbeit von FBI und MI5:
"Anfang der siebziger Jahre, als Lennon dem FBI erstmals Sorgen bereitete, trat die Washingtoner Agentur mit der Bitte um Hintergrundinformationen an ihre britischen Kollegen heran. Diese Anfrage brachte den MI5 jedoch in Verlegenheit.
Lennons Aktivitäten gegen den Vietnamkrieg ärgerten die amerikanischen Behörden, und Nixon wollte ihn unbedingt diskreditieren. Der MI5 hatte ihm Prinzip nichts dagegen, fürchtete jedoch, dass jegliche Information, die er weiterleiten würde, seinen Mann innerhalb der WRP auffliegen lassen könnte.
In der Curzon Street, dem damaligen Hauptquartier des MI5-Geheimdienstes in der Londoner Innenstadt, einigte man sich auf einen Kompromiss. Der FBI erhielt eine Zusammenfassung der Lennon-Akte ohne jegliche Details, die den MI5-Agenten hätten gefährden können. Amerikanischen Quellen zufolge handelte es sich nur um wenige Seiten, die den FBI in seinem Vorhaben bestärken, ihn aber nicht übermäßig in Rage versetzen sollten.
In Washington kam die Botschaft offenbar an. Geheimagenten verfolgten den in Liverpool gebürtigen Sänger und seine Frau in irische Kneipen in New York, wo sie um Spenden warben. Die Agenten kritzelten sogar die Texte der Songs mit, die er aufführte. Sie notierten, dass er nach den Schüssen des Bloody Sunday 1972 erklärt habe: Wenn man sich zwischen der IRA und der britischen Armee entscheiden muss, dann stehe ich auf Seiten der IRA.‘"
Shaylers eidesstattliche Erklärung und der Sunday-Times -Artikel von Harlow und Rufford werfen ernste Fragen auf, die einer genaueren Untersuchung bedürfen. Seit mehr als zehn Jahren - zumindest seit Erscheinen des Buchs Spycatcher von Peter Wright, das die Regierung unter Premierministerin Thatcher zu verhindern versuchte - ist bekannt, dass der britische Staat versucht hatte, Agenten in die Workers Revolutionary Party einzuschleusen. Zum ersten Mal jedoch liegen jetzt glaubwürdige Informationen vor, die darauf schließen lassen, dass der Staat tatsächlich einen Informanten in den Führungskreisen der Organisation hatte.
Die WRP, bis 1985 die britische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, verfügte über eine beachtliche Anhängerschaft in der Arbeiterklasse und auch unter zahlreichen bekannten Persönlichkeiten aus Künstlerkreisen. Die Organisation, die sich bis 1973 Socialist Labour League nannte, verzeichnete während der sechziger Jahre ein rasches Wachstum. Es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass John Lennon den britischen Trotzkisten möglicherweise Geld gespendet hat. Viele britische Künstler ließen damals der revolutionären Bewegung Unterstützung zukommen.
Aufgrund der bisher zugänglichen Informationen lässt sich allerdings nicht beurteilen, ob Shaylers eidesstattliche Erklärung uneingeschränkt glaubwürdig ist, von den zusätzlichen Enthüllungen Harlows und Ruffords ganz zu schweigen. Eine Ungereimtheit in Shaylers Erklärung besteht darin, dass er von der Workers Revolutionary Party spricht, anstatt von der Socialist Labour League. Ein vom britischen Staat erstelltes Dokument hätte die Organisation vor dem Herbst 1973 als SLL bezeichnet. Möglicherweise hat Shayler einfach den bekannteren späteren Namen der Organisation verwendet, den politisch informierte Menschen eher kennen. Diese Inkongruenz dürfte sich mit der von Richter Robbins angeordneten Veröffentlichung der beiden zusammenfassenden Briefe aufklären.
Wenn Shaylers Angaben stimmen, dann müssen Sozialisten und alle Verfechter demokratischer Rechte in Großbritannien und weltweit nunmehr die Identifizierung des MI5-Agenten in der SLL/WRP fordern. Wichtig ist dies nicht nur, um die Person (oder Personen) zu entlarven, sondern auch, um einer neuen Generation von Sozialisten die Gefahren vor Augen zu führen, die von staatlicher Infiltration und Provokation ausgehen.
Rufford und Harlow schreiben, man könne "nicht wissen, welche Stellung der Spitzel in der WRP gegenwärtig einnimmt, obwohl es unwahrscheinlich ist, dass er oder sie noch aktiv ist."
Diesen Stand der Dinge können Sozialisten nicht hinnehmen. Erstens müsste sich feststellen lassen, ob Shaylers eidesstattliche Erklärung der Wahrheit entspricht. Es gibt ehemalige Führer der SLL/WRP, denen bekannt sein muss, ob John Lennon in den sechziger Jahren mit der Partei in Verbindung stand und ob er der Bewegung Geld spendete. Wenn dem so war, dann wussten aller Wahrscheinlichkeit nach nur relativ wenige Leute davon. Wenn es außerdem stimmen sollte, dass der Text von "Working Class Hero" abgefangen wurde, dann sollte man zu rekonstruieren versuchen, wer in der Organisation in der Lage gewesen wäre, den handschriftlichen Text in die Hände zu bekommen und an den MI5 weiter zu leiten.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale fordert die noch lebenden ehemaligen Führer der SLL/WRP - und überhaupt jedes Mitglied der Bewegung, das relevante Informationen haben könnte - auf, sich mit dem World Socialist Web Site in Verbindung zu setzen oder, je nach Wunsch, eine eigene Erklärung zu veröffentlichen.