Seit seiner Ankunft in Indien am 5. Januar wird der 14jährige tibetanische Mönch Ugyen Trinley Dorje durch die internationalen Medien gereicht. Seine kurzen öffentlichen Auftritte und noch kürzeren Äußerungen werden geradezu schwärmerisch ausgewalzt, wobei man in der Regel die Erklärungen und Kommentare der selbsternannten tibetanischen Exilregierung des Dalai Lama kritiklos übernimmt. Trinley Dorjes Flucht aus Tibet wurde zu einer Art Abenteuerroman ausgeschmückt. Die obskuren religiösen Riten, die seine Ernennung zum 17. Karmapa Lama umgaben, wurden zum Gegenstand eingehenden Interesses und umfassender Reportagen.
Einige Journalisten verleihen gar dem Mythos der Reinkarnation eine gewisse Glaubwürdigkeit. Demnach seien auf den 14Jährigen die geistigen und geistlichen Fähigkeiten des 16. Karmapa Lama übergegangen, der 1981 in einem Krankenhaus in Chicago gestorben war. Hingerissen schrieb Anfang Februar eine Korrespondentin des Boston Globe, der junge Mönch zeige "bereits dieselben herausragenden Qualitäten. Er verbindet brillante Geistesblitze mit Demut, Haltung mit schelmischem Humor - eine unwiderstehliche Mischung, die seinem Mentor [dem Dalai Lama] weltweit Sympathie für die tibetanische Sache einbrachte." Das Lob seiner Eigenschaften krönt die Schlussfolgerung, dass "ein solcher Charakter bei einem 14jährigen Jungen unglaublich erscheint", und das Zitat eines kanadischen Studenten, wonach "etwas von innen aus ihm herausstrahlt".
Eine solche Vorzugsbehandlung wird wenigen 14jährigen dieser Welt zuteil, schon gar nicht, wenn sie aus wenig entwickelten und verarmten Ländern stammen. Auch verwendet man nicht viel Zeit und Mühe auf die Schilderung etwa von Kulturpraktiken der Eingeborenen von Papua-Neu Guinea oder des Glaubensverlusts der peruanischen Indios. Das Interesse der internationalen Medien an den Feinheiten des tibetanischen Buddhismus und den Aktivitäten seiner hohen Lamas hängen mit anderen, umfassenderen Problemen auf dem indischen Subkontinent und darüber hinaus zusammen.
Den Presseberichten zufolge floh Tinley Dorje am 28. Dezember aus dem Kloster Tsurphu nahe der tibetanischen Hauptstadt Lhasa. Wenige Tage zuvor habe er angekündigt, er wolle sich aus religiösen Gründen zurückziehen. Von seinem Fenster aus sprang er in ein wartendes Auto mit zwei geübten Fahrern. Zusammen mit seiner Schwester und mehreren weiteren Fahrgästen ging es eilig zur nepalesischen Grenze. Über Reise durch Nepal und dann weiter nach Neu-Delhi kursieren unterschiedliche Darstellungen - viele enthalten einen romantischen Pferderitt, andere schildern den eher prosaischen Gebrauch öffentlicher Verkehrsmittel, und wieder andere gehen davon aus, dass er und seine Begleiter schlicht mit einem Linienflug aus der nepalesischen Stadt Pokhara eintrafen.
Wie der Wagen allerdings den chinesischen Sicherheitskontrollen innerhalb Tibets entging und wie die Gruppe ohne Pass und Papiere zwei Staatsgrenzen passieren konnte, woher überhaupt das Auto und das notwendige Geld stammten - all dies bleibt recht verschwommen. Über eines scheinen sich sämtliche Berichte einig zu sein: Am Abend des 4. Januar nahm er in Neu-Delhi ein Taxi und fuhr mehrere hundert Kilometer weit nach Dharmsala am Fuße des Himalaya im Nordwesten Indiens - dem Sitz des Dalai Lama.
Noch unklarer als die Route sind jedoch die Gründe seiner Flucht. Der 14Jährige hatte in Tibet eine wahrhaft behagliche Kindheit verbracht, mit reichlich Spielsachen, Limousinen samt Chauffeuren und Reisen durch ganz China. Für die chinesische Staatsbürokratie war Trinley Dorje von besonderem Wert, da er als einziger hoher Lama sowohl vom Dalai Lama als auch von Peking anerkannt wurde. Als 17. Karmapa Lama steht er der einflussreichen Sekte Karma Kagyu vor und folgt in der Hierarchie des tibetanischen Buddhismus an dritter Stelle nach dem Dalai Lama und dem Panchen Lama.
Seit seiner Ankunft in Dharmsala hat der Junge die meiste Zeit wie unter einer Käseglocke verbracht. Seine kurzen öffentlichen Erklärungen über die Unterdrückung in Tibet waren auf die politischen Bedürfnisse des Dalai Lama und dessen Exilregierung zurechtgeschneidert. Trinley Dorje sei, so heißt es, aus Tibet geflohen, weil er sich "wie in einem goldenen Käfig" gefühlt habe. Die offizielle Version soll wohl vorgeben, dass ein jugendlicher Hitzkopf kurzerhand in sein Auto gesprungen und, völlig überraschend für den Dalai Lama, Peking und Neu-Delhi, unangemeldet in Indien aufgetaucht sei.
Sollte man diese unvermittelte und eigenmächtige Flucht aus dem "goldenen Käfig", so unwahrscheinlich sie ist, für bare Münze nehmen, dann ist Trinley Dorje nun vom Regen in die Traufe gekommen. Sollte er sich von den chinesischen Behörden in Tibet ausgenutzt gefühlt haben, so wird er in Dharmsala rasch feststellen, dass er nun als Faustpfand in den politischen Intrigen innerhalb der tibetanischen Exilgemeinde und in der breiteren strategischen Gleichung der regionalen Machtpolitik herhalten muss.
Tibetanische Fraktionspolitik
Um die Ursachen zu verstehen, muss man sich zunächst zumindest kurz mit den erbitterten Fraktionskämpfen innerhalb des tibetanischen Lamatums und mit der recht eigenartigen Reinkarnations-Politik befassen. Trinley Dorje ist nicht der einzige, der Anspruch auf die Reinkarnation des Karmapa Lama erhebt - es gibt noch mindestens zwei weitere Jugendliche, die, mit Unterstützung rivalisierender Lamas und deren jeweiliger Organisationen, darauf beharren, dass gerade in ihren Körpern der Geist des toten Mönchs eine neue Gestalt angenommen habe.
Bei diesem Streit geht es weniger um geistige Angelegenheiten oder um Feinheiten der Religionsauslegung, als um irdische Machtgier und erhebliche Summen Geldes. Während die meisten der 130.000 Tibeter in Indien, Nepal und Bhutan sich mit der Bebauung kleiner Felder, Kleinhandwerk oder Kleinhandel mühsam über Wasser halten, konnte die religiöse Hierarchie durch Investitionen und Spenden, insbesondere durch die Ausbeutung des westlichen Interesses am tibetanischen Buddhismus erheblichen Reichtum anhäufen.
Die Karma-Kagyu-Sekte, welcher der Karmapa Lama vorsteht, verfügt über ein weitläufiges reiches Kloster in Rumtek im nordindischen Sikkim, wo die Symbole seiner Führung verwahrt werden - eine schwarze Krone, die angeblich aus dem Haar von 100.000 Feen, Dakinis genannt, gewoben sei und Zauberkräfte besitze. Die Sekte verfügt außerdem über ein Zentrum in den USA, wo sich der 16. Karmapa Lama hauptsächlich aufhielt, und über ein umfangreiches Unternehmensgeflecht. Der Wert des wohltätigen Karmapa Charitable Trust wird von einer Milliarde Dollar an aufwärts geschätzt.
Nach dem Tod des vorherigen Karmapa Lamas im Jahr 1981 wurden vier Regenten beauftragt seine Reinkarnation zu ermitteln. Der älteste Regent, Kunzig Shamar Rinpoche, auch Sharmapa genannt, zerstritt sich dabei mit den anderen und mit dem Dalai Lama. Die Wahl Trinley Dorjes beruhte dann auf Hinweisen, die der 16. Karmapa Lama hinterlassen haben soll, die man allerdings erst 1992 wunderbarerweise in einem Talisman fand, welchen ein anderer Regent, Tai Situ Rinpoche, am Körper trug.
Shamar bestritt die Wahl, und der nun einsetzende Streit nahm wiederholt heftige Formen an. Die New York Times schrieb: "Am 2. August 1993 brach ein erneuter Kampf aus, heftiger noch als der erste. Die Versionen liegen so weit auseinander wie der innere Frieden und das ferne äußere Universum. Fest steht, dass die Spaltung innerhalb der Klostermauern nicht mehr gekittet werden kann. Dutzende Mönche verbrachten jene Nacht in den Wäldern - oder im Krankenhaus oder im Gefängnis." Die dem Dalai Lama treu ergebenen Mönche kontrollieren nach wie vor das wertvolle Kloster.
Shamar ließ nicht locker. Im März 1994 hob er im Rahmen einer Zeremonie in Neu-Delhi eine andere Reinkarnation - Thinley Thaye Dorye - als alternativen 17. Karmapa Lama auf den Thron. Dies wurde zum Anlass eines ziemlich schmutzigen sechsjährigen Rechtsstreits vor indischen Gerichten. Ein Artikel des Indian Express, "Kurze Geschichte der Lama-Kriege", nennt nicht weniger als sechs Verfahren vor unterschiedlichen Gerichten in ganz Indien, die jedoch bis auf eines abgewiesen wurden. Shamar residiert derzeit in einem Kloster, das der indische Präsident dem 16. Karmapa im Jahr 1979 geschenkt hatte. Er besitzt außerdem noch einige gut ausgestattete Häuser in Indien sowie Land in Nepal.
Doch es gibt noch einen dritten Anwärter auf die Reinkarnation des Karmapa Lama: Dawa Zangpo Sherpa. Die Hindustan Times berichtete am 5. März über seine Warnung, jeder Versuch des neuen Jungen aus Tibet, das Rumtek-Kloster zu betreten, werde "ein größeres Law-and-Order-Problem" heraufbeschwören. Seine Gruppe, die 1998 und 1999 das Rumtek-Kloster vergeblich zu erstürmen versuchte, behauptet, dass 60 Prozent aller Anhänger der Kagyu-Sekte in Sikkim den von Tai Situ Nominierten nicht anerkennen.
Tibet und geopolitische Interessen
Bei diesen Intrigen geht es nicht nur um Geld. Die Fraktionskämpfe im tibetanischen Buddhismus überschneiden sich mit der regionalen Politik. Was Shamar angeht, so beschäftigte er nicht nur die Gerichte mit der kniffligen juristischen Frage, welcher Junge die wahre Reinkarnation darstelle, sondern beschuldigte auch Tai Situ und die übrigen Lamas der Agententätigkeit gegen Indien im Auftrage Chinas. Die indische Regierung nahm diese Vorwürfe so ernst, dass sie Tai Situ von 1994 bis 1998 die Einreise nach Indien verwehrte und ihm bis heute nicht gestattet, Sikkim oder das Rumtek-Kloster zu betreten.
Unabhängig davon, ob die Anschuldigungen gegen Tai Situ wahr sind oder nicht, kann die Flucht seines Schützlings nach Dharmsala zu einer Eskalation der Spannungen zwischen Indien und China führen. Nach wie vor bestehen ungeklärte Grenzstreitigkeiten, die in den sechziger Jahren bereits zu bewaffneten Zusammenstößen geführt hatten. Peking hat stets empfindlich auf die politischen Aktivitäten der tibetanischen Exilregierung auf indischem Boden reagiert und Wert darauf gelegt, dass diese nicht offiziell anerkannt werde. Indien seinerseits benutzt Tibet als Druckmittel gegenüber China, das mit Indiens Rivalen Pakistan verbündet ist.
Peking wäre eindeutig verärgert, wenn die indische Regierung dem Jungen, den China als Karmapa Lama anerkannt hat, nun irgend einen offiziellen Rang einräumen und ihn als Werkzeug zur Agitation für die Unabhängigkeit Tibets benutzen würde. Doch die indische Presse, die sich hinsichtlich Tibets und der Reinkarnationspolitik durchaus abgeklärter zeigt, als ihre westlichen Pendants, hält es für möglich, dass die Dinge in Wirklichkeit ganz anders stehen, als sie an der Oberfläche erscheinen. Peking, so mutmaßt sie, spielt sein eigenes Spiel.
Die Hindustan Times stellte im Januar unter der Überschrift "Wie fügt sich China in das Karmapa-Puzzle ein" die Hypothese auf, dass Peking vielleicht bemüht sei, den jungen Mönch in die tibetanische Exilführung einzuschleusen, weil er recht gefügig sei. Erste polizeiliche Ermittlungen in Indien, so die Zeitung, ließen nicht darauf schließen, "dass der junge Lama und seine Begleiter tatsächlich durch das engmaschige chinesische Sicherheitsnetz schlüpften. Im Gegenteil, die Ermittlungen legen nahe, dass sie ihre chinesisch besetzte Heimat ganz ungehindert verlassen konnten, woraus man schließen muss, dass Peking ihrer Abreise zumindest nichts entgegensetzte...
Sollte sich der junge Lama die geistlich unverzichtbare Schwarze Krone sichern und das Kagyu-Hauptquartier Rumtek beziehen, so könnte seine Anwesenheit in Indien den chinesischen Plänen hinsichtlich Sikkims und der tibetanischen Exilgemeinde durchaus zupass kommen. Wer Rumtek kontrolliert, kontrolliert auch das auf 1,2 Milliarden Dollar geschätzte weltweite Vermögen der Schule und den Einfluss über viele Buddhisten, die in dem strategisch wichtigen indischen Himalaya-Gebirgszug von Arunchal Pradesh nach Ladakh leben. Indiens dem entsprechende Besorgnis wird durch die Tatsache unterstrichen, dass China auf seinen Landkarten Arunchal Pradesh immer noch als sein eigenes Gebiet ausweist, Sikkim als unabhängig, und (von ihm nicht besetzte) Teile von Jammu und Kashmir als umstritten."
Hier fühlt man sich so langsam an den Roman Kim von Rudyard Kipling erinnert, in dem ein jugendlicher Agent in dem Great Game mitspielt, das die britischen Kolonialherren während des 19. Jahrhunderts an den Nordgrenzen Indiens vollführten. Die Hindustan Times hält es für möglich, dass Tai Situ und der Dalai Lama in ein kompliziertes Intrigennetz mit Teilen der chinesischen Bürokratie verstrickt sind. "Die umstrittene Zustimmung des Dalai Lama zu Chinas Karmapa ging auf rein politische Erwägungen zurück", stellt sie fest. "Indien hat das Spiel des Dalai Lama noch nicht durchschaut."
Shamar seinerseits manövriert ebenfalls umsichtig zwischen Indien, China und Taiwan. In dem oben genannten Artikel des Indian Express heißt es: "Er unterhält sehr enge Beziehungen zu Kathog Shingchong Tulku, einem Amtsträger der chinesischen Kommunistischen Partei, der angeblich vor zwanzig Jahren wegen anti-indischer Aktivitäten aus Dehradun [Indien] deportiert wurde. Tulku lebt heute in Chengdu in der chinesischen Provinz Szechwan und ist eine Schlüsselfigur im Kampf gegen den Dalai Lama."
Der Dalai Lama und die CIA
Mehr ist über die politischen Machenschaften im Hintergrund der Flucht des Jungen kaum geschrieben worden. Sowohl Indien als auch China wollen diesen Aspekt nicht an die große Glocke hängen. Indien duldet Trinley Dorje den Aufenthalt als Flüchtling, gewährt ihm jedoch kein politisches Asyl. Peking hat Neu-Delhi zu erkennen gegeben, dass es mit dieser Regelung einverstanden ist. Hinter all dem steht die grundlegende Tatsache, dass die Politik der verschiedenen Fraktionen in Tibet stets mit der Politik für die gesamte Region und mit den geopolitischen Interessen der Großmächte verbunden war. Die Tibet-Frage hängt zusammen mit dem langen Grenzstreit zwischen Indien und China, mit dem erbitterten Konflikt zwischen Pakistan und Indien insbesondere hinsichtlich Kaschmirs, und mit umfassenderen strategischen Fragen, die mit dem Kampf um das Öl und die Mineralien in Zentralasien in Verbindung stehen.
Seit Jahrhunderten bildet die tibetanische Hochebene eine strategische Schlüsselposition in der Region. Lange Zeit befand sie sich unter chinesischer Vorherrschaft. Nach der chinesischen Revolution von 1911 benutzten sie die Briten in Indien als Puffer gegen China und Russland. Kurz nach der Eroberung Pekings durch Maos Armeen 1949 besetzte die chinesische Armee Tibet, und 1951 wurde es offiziell zum Teil Chinas erklärt.
Es gelang den chinesischen Stalinisten jedoch nicht, eine stabile gesellschaftliche Grundlage für ihre Herrschaft zu schaffen. Die religiösen und kulturellen Fragen behandelte Peking ausnahmslos mit der Pranke des von chinesischem Chauvinismus gesättigten Staatsbürokraten. Die chinesische Politik war nicht in der Lage, soziale Ungleichheit, Armut und kulturelle Rückständigkeit zu überwinden. China versuchte daher, durch eine Kombination aus brutaler Unterdrückung und Anbiederung an den tibetanischen Buddhismus seine eigene, offiziell sanktionierte Lama-Hierarchie zu schaffen, vermittels derer sich die Politik vor Ort manipulieren ließe.
Das rücksichtslose Verhalten Chinas in Tibet rief oppositionelle Tendenzen hervor. Während des gesamten Kalten Krieges konnten die USA diese benutzen, um Druck auf Peking auszuüben. Die bisherigen US-Administrationen anerkannten die Exilregierung des Dalai Lama zwar nicht offiziell, unterstützen die tibetanische Priesterschaft jedoch mit diplomatischen, finanziellen und sogar militärischen Mitteln. Nachdem China Tibet 1950 unter seine Kontrolle genommen hatte, finanzierte und trainierte die CIA Tibeter zwecks Spionage- und Guerilla-Aktivitäten gegen die chinesischen Behörden.
Seit ehemalige Agenten in jüngster Zeit begannen, ihre Erinnerungen an den Kalten Krieg zu veröffentlichen, sickern einige Einzelheiten über die Operationen der CIA in Tibet durch. Ein Artikel der amerikanischen Zeitschrift Newsweek wies vergangenen August darauf hin, dass die Aktivitäten der CIA bis ins Jahr 1956 zurückreichen. Zwar bestreitet der Dalai Lama, um sein Image als Mann des Friedens nicht zu gefährden, jede direkte Beteiligung, doch sein älterer Bruder Gyalo Thondup stand im Zentrum dieser Operationen. Die Zeitschrift schreibt: "Gyalo Thondup sagt heute, er habe seinen weltfremden Bruder nicht über alle seine Geheimdienst-Verbindungen zu jener Zeit informiert: Es war ein sehr schmutziges Geschäft.'"
Die Newsweek erläutert: "Von 1958 an trainierten amerikanische Beamte in Camp Hale in Colorado etwa 300 Tibeter. Die Rekruten wurden in Spionage-Fotografie und Sabotage, Morsen und Minenlegen ausgebildet. Zwischen 1957 und 1960 warf die CIA mehr als 400 Tonnen Ladung für den Widerstand ab. Dennoch wurden neun von zehn Guerilleros, die in Tibet kämpften, von den Chinesen getötet oder begingen Selbstmord, um ihrer Gefangennahme zu entgehen. Dies geht aus einem Artikel des Luftfahrt-Historikers William Leary im Smithsonian's Air & Space Magazine hervor."
Diese Aktivitäten gipfelten 1959 in einem fehlgeschlagenen Aufstand in Tibet, der von den chinesischen Sicherheitskräften rücksichtslos niedergeschlagen wurde. Der Dalai Lama, seine engsten Mitstreiter und Tausende weitere Tibetaner flohen nach Nepal und Indien. Sie errichteten eine Exilregierung, die während der gesamten sechziger Jahre von den USA und der CIA Unterstützung erhielt. "Mitte der sechziger Jahre", so Newsweek, kostete die Tibet-Operation Washington jährlich 1,7 Millionen Dollar. Dies geht aus Geheimdienstdokumenten hervor. Davon entfielen 500.000 Dollar als Unterstützung auf die in Nepal stationierten Guerilleros und 180.000 Dollar auf den Dalai Lama."
Nach Washingtons Annäherung an Peking 1972 ging die offene Unterstützung für den Dalai Lama und die tibetanische Guerilla zu Ende. Die Newsweek zitiert die recht verbitterte Bemerkung des Dalai Lama: "Sie [die CIA] hatten so getan, als ob ich nach meiner Ankunft in Indien mit großer Unterstützung würde rechnen können. Es ist eine traurige, eine sehr traurige Geschichte... Die Hilfe der USA war sehr, sehr beschränkt." Im Jahr 1974 war der Dalai Lama schließlich gezwungen, öffentlich zur Einstellung des bewaffneten Widerstands in Tibet aufzurufen.
Obwohl die USA und andere Westmächte Peking nicht durch zu enge Verbindungen zur Exilregierung des Dalai Lama verärgern wollten, ließen sie das möglicherweise noch nutzbringende politische Werkzeug nicht völlig fallen. Der Friedensnobelpreis wurde dem Dalai Lama 1989 zweifellos für seine Dienste in der Vergangenheit verliehen. Weiterhin gewährt man ihm "inoffizielle" Audienzen bei politischen Führern und das Bad in der stets ehrfürchtigen Anbetung der internationalen Medien.
Ebenso wie Taiwan war Tibet stets ein politisches Steckenpferd der extremen Rechten in den USA, insbesondere der Republikanischen Partei. Die anti-China-Lobby verfügt sowohl in der Demokratischen als auch in der Republikanischen Partei über erheblichen Einfluss. Es ist nicht ausgeschlossen, dass im Zuge einer Verhärtung des Präsidentschaftswahlkampfes die Tibet-Frage ebenso wie die Frage der Beziehungen zu China aufs Tapet kommen wird.
Die Bewegung "Freiheit für Tibet"
Die Bewegung "Freiheit für Tibet", die es in gewissen Kreisen der Mittelklasse zu einer gewissen Berühmtheit gebracht hat und zu deren Unterstützern so bekannte Figuren wie der Schauspieler Richard Gere zählen, verfügt in den USA und auch anderswo zweifellos über eine gewisse Glaubwürdigkeit. Nicht wenige Menschen fühlen sich durchaus zu Recht von den Repressalien der chinesischen Bürokratie abgestoßen und verabscheuen Pekings Grobheit gegenüber der Sprache und den kulturellen Traditionen der einfachen Tibeter.
Auf einige üben auch die religiösen Lehren des Dalai Lama eine gewisse Faszination aus. Dieses Phänomen hat allerdings mehr mit der tiefen Perspektivlosigkeit unter breiten Schichten der Bevölkerung des Westens zu tun, als mit jeglicher innerer Tiefe des tibetanischen Buddhismus. Nicht wenige Menschen fühlen sich vom politischen Establishment ausgeschlossen, sehen aber zugleich keinen Ausweg aus den enormen sozialen und politischen Problemen von heute. In einer Gesellschaft, die ganz von Individualismus durchdrungen ist, sucht so mancher eine individuelle Lösung für seine Ängste und persönlichen Krisen. Der tibetanische Buddhismus bietet nicht nur einen exotischen Lebensstil, sondern verkündet auch die geistige Erlösung des Individuums aus eigener Kraft. Darüber hinaus rechtfertigt der Buddhismus Gleichgültigkeit und Tatenlosigkeit angesichts von Leid, Armut und sozialer Ungleichheit mit der reaktionären Lehre, dass die Welt eben so beschaffen sei und dass der Einzelne aufgrund seiner Untaten in früheren und heutigen Reinkarnationen selbst die Schuld an seinem Leiden trage.
Das Resultat dieser recht obskuren Mischung aus Religion und Politik ist die Forderung der "Freiheit für Tibet"-Bewegung nach einem unabhängigen Tibet und nach der Rückkehr des Dalai Lama samt seiner Mönchs-Gefolgschaft in ihre prunkvollen Klöster in Lhasa. Schließlich war Tibet vor 1950 eine in rückständigen, halbfeudalen Verhältnissen verwurzelte Theokratie aus der Vergangenheit. Der Dalai Lama und die obersten Lamas waren nicht nur religiöse Führer, sondern auch mit absoluter Macht ausgestattete, bisweilen brutale politische Despoten. Die gesellschaftlichen Verhältnisse in Tibet vor 1950 sind ebenso heiß umstritten wie seine Geschichte und Politik. An dieser Stelle genüge der Hinweis, dass selbst die Hardliner unter den Befürwortern eines unabhängigen Tibet zugeben, das Leben für die Mehrheit der Tibetaner unter der Herrschaft des Dalai Lama sei hart gewesen.
Mary Craig etwa zeichnet in ihrem mit einem Vorwort des Dalai Lama versehenen Buch "Tears of Blood - A Cry for Tibet" ("Blutige Tränen - der Ruf nach Tibet") folgendes erschreckendes Bild: "In dieser eigenartigen, von Lhasa aus verwalteten Bürokratie gehörte alles Land dem Staat. Ein großer Teil war in Form von vererbbaren Landgütern an Aristokratenfamilien oder bedeutende Kloster vergeben. Die Regierung hielt einige Anwesen für den eigenen Gebrauch zurück, doch der größte Teil der verbleibenden bebaubaren Bodens wurde in Streifen an Kleinbauern verpachtet.
Es war eine mittelalterliche Feudalgesellschaft. Der tibetanische Bauer war ohne Zweifel Eigentum seines Herrn, egal, ob er Staatseigentum, klösterliche Anwesen oder den Boden einer der etwa zweihundert großen aristokratischen Familien bebaute. Als Gegenleistung für ein kleines Stück eigenes Land musste er ein gewisses Pensum abarbeiten. Den größten Teil seines Ertrags musste er seinem Herrn abliefern, für sich und seine Familie konnte er kaum das Nötigste behalten. Der Grundbesitzer durfte nicht nur die Höhe der Pacht nach Belieben festlegen, sondern auch drakonische Strafen verhängen, sollte der Bauer seinen Forderungen nicht nachkommen. Die Todesstrafe sowie das Abschlagen von Gliedmassen waren in gewissen Regionen an der Tagesordnung."
Im nächsten Atemzug verkündet Craig jedoch: "Das Leben des einfachen Tibeters war hart, aber es war nicht die von der chinesischen Propaganda dargestellte reine Hölle... Im allgemeinen erfüllte die Tibeter nicht das Bewusstsein, niedergedrückt oder ausgebeutet zu werden, und ihr ungeheurer Lebenswille wurde nicht durch einen Freiheitswunsch getrübt, den sie nie gekannt hatten... Ungeachtet der gähnenden Kluft hinsichtlich der Einkünfte und des materiellen Besitzes verspürten die Armen derart wenig Hass auf die Reichen, dass es in der gesamten Geschichte Tibets nur selten zu Volksaufständen kam."
Sie hatten Nahrung, Unterkunft und Kleidung - was sollten sie sonst noch wollen? Jedenfalls rebellierten sie nicht, also mussten sie zufrieden gewesen sein. Man spürt hier dieselbe abstoßende Gleichgültigkeit und dieselbe Verachtung gegenüber dem Schicksal der Unterdrückten, wie sie bei den Lamas selbst herrschten und wie man sie - unter Berücksichtigung gewisser Abwandlungen - ohne Zweifel auch bei den Apologeten etwa des britischen Raj in Indien oder des zaristischen Russlands antrifft.
Natürlich musste die tibetanische Theokratie in den letzten fünfzig Jahren ihren Ton etwas ändern, und sei es nur, weil die Patrone des Dalai Lama in den USA den Kalten Krieg immerhin unter dem Banner der Demokratie führten. Wenn man jedoch die "Leitlinien für die künftige Tibetpolitik" liest, die sich auf der offiziellen Website der Exilregierung befinden, so staunt man, wie beschränkt ihre Vorstöße für eine "Demokratisierung" sind.
Ihr Plan für ein "demokratisches" Tibet wimmelt von Widersprüchen, nicht zuletzt fällt ins Auge, dass er in erster Person vom Dalai Lama im Stile eines absoluten Monarchen verfasst ist. Er beschönigt die Periode vor 1950 als eine Zeit, in der unter den Königen und Dalai Lamas "Frieden und Glück herrschten". Aus unerfindlichen Gründen hält er es dennoch für notwendig, "den unerfreulichen Aspekt unseres Gesellschaftssystems zu reformieren". Er hat sich entschlossen, "in der künftigen Regierung Tibets keinerlei Rolle zu spielen", behält sich aber dennoch die Ernennung des Interimspräsidenten vor, der die Übergangsregierung bilden soll.
Der Dalai Lama vollführt einen schwierigen Balanceakt zwischen vielen Kräften, auch innerhalb der tibetanischen Exilgemeinde. Während eine Handvoll Lamas über bedeutende Vermögen verfügen, lebt die überwiegende Mehrheit der Tibeter in Indien, Nepal und Bhutan in Armut. Den eigenen Zahlenangaben der Exilregierung zufolge liegt die Arbeitslosenrate unter den Exil-Tibetern bei 18,5 Prozent, und viele leben in Unterkünften ohne einfache sanitäre Einrichtungen, ohne sauberes Wasser. Viele verfügen weder über eine annehmbare Wohnung, noch haben sie Zugang zu normaler ärztlicher Versorgung oder zu Bildungseinrichtungen. Erst im Jahr 1990 konstituierte sich die Exilregierung im Rahmen ihrer "Demokratisierung" als Versammlung der Abgeordneten des tibetanischen Volkes auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts. Doch selbst jetzt behält sich der Dalai Lama noch das Recht vor, Abgeordnete zu nominieren, und die wichtigsten buddhistischen Sekten verfügen alle über eigene Deputierte.
Wenn man sich von der Medienhysterie nicht blenden lässt, dann bietet die Welt von Dharmsala, in die sich der 14jährige Mönch aus Tibet begeben hat, einen wenig erbaulichen Anblick. Es zeigt sich das recht unschöne Bild eines tibetanischen Lamatums, das tief in rückständigem Aberglauben steckt, in schmutzige Intrigen um Geld und Macht verstrickt ist und ein bereitwilliges Werkzeug der Großmachtpolitik in der Region darstellt.