Boys Don't Cry ist die fiktionalisierte Darstellung einer tragischen Ereigniskette, die sich im November 1993 im ländlichen Bundesstaat Nebraska zutrug. Teena Brandon, eine junge Frau von 20 Jahren, zog von Lincoln nach Falls City (ein bäuerlicher Ort mit 5.200 Einwohnern), wo sie sich als junger Mann, Brandon Teena, kleidete und ausgab. Sie freundete sich mit einer Reihe von Leuten an, darunter einige Mädchen aus dem Ort. Als ihr Geheimnis herauskam, wurde sie von zwei ehemaligen Freunden, John Lotter und Tom Nissen, geschlagen und vergewaltigt. Obwohl Brandon sie identifiziert hatte, wurden die zwei Männer von der Polizei nicht verhaftet und erschossen sie und zwei potentielle Zeugen eine Woche später. Vor Gericht sagte Nissen gegen Lotter aus und erhielt drei Mal lebenslänglich; Lotter sitzt derzeit in der Todeszelle.
Kimberly Pierce (Regie und Drehbuch) und Andy Bienen (Drehbuch) haben im großen und ganzen diese schreckliche Begebenheit bemerkenswert einfühlsam dramaturgisch bearbeitet. In Amerika heutzutage, bei der gegebenen Ignoranz und reaktionären Entwicklung, ist es immer erstaunlich auf ein Werk zu treffen, das irgendwie die Dinge richtig begreift oder auch nur im wesentlichen richtig begreift. Wenn man die Massenmedien sieht, müsste man zu dem Schluss kommen, dass niemand in den Vereinigten Staaten versteht, warum jemand lebt, stirbt oder überhaupt irgend etwas tut.
Boys Don't Cry handelt von jungen Leuten in Amerika; das heißt, der Film handelt vom Elend. Vom Elend, von verschiedenen verzweifelten Versuchen es zu überwinden, und wie diese Versuche unterdrückt oder zunichte gemacht werden. Teena/Brandon (Hilary Swank) kleidet sich wie ein Junge und kommt nach Falls City, weil sie es leid ist, in Lincoln immer "Lesbe" gerufen zu werden. Sie glaubt, dass sie in dem neuen Ort, wo sie niemand kennt, glücklicher sein wird. Lana Tisdel (Chloë Sevigny), in die sich Brandon verliebt, arbeitet in einer Fabrik, wo sie Spinat abwiegt, lebt mit ihrer Mutter, die zuviel trinkt, und träumt davon, eine professionelle Karaoke-Sängerin zu werden. Sie verliebt sich in Brandon, weil er sie besser behandelt als die anderen Jungen. Sie will irgendwo hingehen, Hauptsache raus aus Falls City.
Bei John (Peter Sarsgaard) und Tom (Brendan Sexton III) läuft wenig bis gar nichts gut. Keine Arbeit, keine Zukunft. Sie haben bereits eine Zeit im Gefängnis verbracht. John ging früher mit Lana und fühlt immer noch etwas für sie. Sie machen Brandon zu ihrem Kumpel. Als herauskommt, dass "er" eine Frau ist, werden sie verrückt vor Eifersucht und dem Gefühl der Erniedrigung. Aber es gibt auch etwas befriedigendes in der Entdeckung. Für diese beiden, die in der Gesellschaft ziemlich weit unten stehen, ist hier offensichtlich jemand noch weiter unten.
Viele Dinge sind in Boys Don't Cry wundervoll umgesetzt. Die Verzweiflung wird eingefangen. Einige der frühen Szenen mit Sevignys Lana sind besonders eindringlich. Sie trifft Brandon zum ersten Mal in einer Bar, wo sie und ein paar Freunde aufstehen und über "Die blauesten Augen in Texas" singen. Sevigny hat diese schläfrigen Augen und eine Art, die Arroganz und Selbstverleugnung zu gleichen Teilen kombiniert. "Wer bist du?" fragt sie auf unverschämte Weise, als sie das erste Mal an Brandon vorbeigeht. Als sie sich das nächste Mal treffen, irrt Lana betrunken in einem Lebensmittelgeschäft umher und versucht den Ladenbesitzer zu überreden, ihr Bier zu verkaufen.
Die Art und Weise, in der die Beziehung zwischen Lana und Brandon beginnt, ist gut gehandhabt. Sie fühlen etwas füreinander und das Geschlecht macht nicht viel aus. Es gibt für Lana ausreichend Hinweise darauf, dass Brandon weiblich ist, aber sie entscheidet, diese zu ignorieren. Das wirkt glaubhaft.
Auf ihre eigene Weise weist die Geschichte darauf hin, wie durcheinander gesellschaftliche, familiäre und sexuelle Beziehungen in den Vereinigten Staaten geraten sind. Die Welt, in der diese jungen Leute leben, hat wenig gemein mit dem, wie Amerika sich selbst offiziell darstellt. Sie leben in einer Art anarchistischen Existenz, abgeschnitten von direktem Einfluss auf alle offiziellen Institutionen - Parteien, Kirchen, Gewerkschaften - die sich nur noch aufgrund des Trägheitsgesetzes bewegen. Es ist kaum eine Utopie, dieses Leben von aussichtslosen Jobs, Alkohol, Drogen, kleineren und nicht ganz so kleinen Konflikten mit dem Gesetz. Aber Pierce und Bienen zeigen, dass es hier auch noch etwas anderes oder den Wunsch nach etwas anderem gibt.
Einige Kommentatoren schreiben über diese Charaktere als ob sie eine exotische Lebensform darstellten. In respektablen Publikationen äußern sich Kritiker mit Verachtung über "Unterschichtsmüll" ("trailer trash"). Tatsächlich leben Dutzende Millionen Menschen unter Umständen, die den gezeigten nicht unähnlich sind. Sie haben nicht teil am Boom der Aktienmärkte, daher zählen sie auch nicht.
Eine andere Art, die soziale Frage zu umgehen, besteht darin über "Homophobie im Kernland" zu klagen. Selbstverständlich sind Vorurteile gegen Homosexuelle ein Gift, das konkret bekämpft werden muss. Aber niemand hat das Recht, überrascht zu sein, dass eine solche Hoffnungs- und Kulturlosigkeit Rückständigkeit erzeugt. Empörung über das Schicksal von Teena Brandon und Matthew Shepard ist flach, wenn sie nicht begleitet wird von Empörung über das Elend, das zur Entstehung dieser Tragödien beigetragen hat.
Ich kenne nicht die unmittelbaren Motive der Macher des Films. Pierce war die Tragödie offenbar unter die Haut gegangen. Sie brauchte fünf Jahre, um das Geld für den Film aufzutreiben und besetzte die Rollen von Boys Don't Cry. Sie sagte einem Interviewer: "Der ganze Punkt ist, dass ich mich in Brandon verliebt habe. Ich fühlte, dass diese Geschichte erzählt werden musste. Die Berichterstattung in den Medien war von Anfang an sehr sensationslüstern. Niemand dachte sich in den Charakter hinein. Niemand wusste jemals von der Liebesgeschichte. Es ging mir darum, ihn zu ehren. Es ging mir darum, die Mechanismen des Hasses zu erkunden, damit so etwas nie wieder passiert."
Auch wenn ihre Ansichten teilweise beschränkt sind, war Pierce ehrlich genug, sich die Umstände, die Brandons Tod umgaben, genau anzusehen. Man könnte sagen, dass sie mittels ihrer künstlerischen Integrität über die allgemeine Tragödie, die der individuellen Tragödie zugrunde liegt, stolperte.
Ich denke, dass die Filmschaffenden allerdings an einem bestimmten Punkt den Streifen, den sie gerade drehten, selbst als beängstigend empfanden. Hätten sie ihren Kurs beibehalten und aus der Geschichte des Schicksals von Teena Brandon eine von Herzen kommende Anklage des amerikanischen Lebens gemacht, wohin sie natürlich von sich aus tendiert, dann wäre das Werk in ihrem eigenen Milieu und in den Medien nicht so gut angekommen. Unglücklicherweise kamen sie ein wenig zu früh wieder zu Sinnen‘.
Auf diese Art verliert Boys Don't Cry seinen Weg, als sich der Film seinem Ausgang in Brandons Vergewaltigung und Ermordung nähert. Oder es ist wohl eher so, dass der Film seinen Weg zurück findet auf einen doch vorhersehbaren und ausgetretenen Pfad, die Geschichte von heiligen gegen monströse Individuen. Hatten wir am Anfang eine ungezogene, unverschämte Lana, die benommen durch die Geschäfte stolpert, ist sie nun nüchtern geworden und hat das stereotype Aussehen einer verliebten Frau‘. Ein Fortschritt ist dies nicht unbedingt. Swank als Brandon verliert ihre Kanten. Tom und John werden zu klischeehaften Figuren, reinen Schurken. Alles in dem Film wird zäher und langsamer.
Ein Beispiel: Brandon und Lana haben beschlossen, gemeinsam wegzulaufen. Dann bekommt Lana, nicht überraschend, Bedenken. Als Brandon in ihrem Zimmer auftaucht, lässt Lana sie und das Publikum durch Körpersprache, eine Grimasse und einsilbige Antworten wissen, dass sie Vorbehalte hat. Warum serviert man uns die Information plötzlich auf einem Tablett? Der Film verliert die Scharfsinnigkeit in dem Moment, in dem sein Fokus enger wird, in dem er dem größeren und furchterregenderen Bild den Rücken zukehrt. Dies lässt sich erklären. So lange, wie ihr Verständnis und ihre Intuition in Bezug auf die heutigen Verhältnisse die Filmmacher leiteten, flossen die Ereignisse und Dialoge organisch, leicht, durch ihre eigene Kraft. Sobald Pierce und Bienen aber anfangen, sich um die Erfüllung ihrer eigenen und anderer Leute Erwartungen an den Film zu sorgen, als sie sich selbst Grenzen setzen, um die Mechanismen eines "Verbrechens aus Hass" aufzudecken, in diesem Moment verliert Boys Don't Cry seine Kraft.
Die Vergewaltigung und der Mord werden ausgedehnt und in detaillierten Bildern dargestellt. Wiederum legt dies nahe, dass die Filmmacher nicht recht wussten, wie sie ihre Geschichten enden lassen oder was sie betonen sollten. Also nehmen sie den anspruchslosesten Weg hinaus und entsetzen einfach das Publikum. Das ist nicht allzu schwierig. Es gibt immer vieles, mit dem man Menschen entsetzen kann. Unglücklicherweise könnten einige Zuschauer auch den leichten Weg hinaus nehmen und sich zwar an die Gewalt erinnern, aber das Vorhergegangene vergessen: das verhältnismäßig scharfsichtige Portrait eines Teils der Bevölkerung, der so verroht und entfremdet ist, dass die schließliche Explosion beinahe als unvermeidlich erscheint. In jedem Fall gibt es hier genug nüchterne und treffende Darstellung, die diesen Film zu einem der besseren amerikanischen Streifen des Jahres machen.