Bertrand Tavernier, der erfahrene französische Filmregisseur, Drehbuchautor und Produzent ist ein warmherziger und geselliger Mensch mit einem enzyklopädischen Wissen über den amerikanischen und internationalen Film. In einem kulturellen Umfeld, in dem Zynismus dominiert und historischer Unkenntnis Vorschub geleistet wird, ist eine Figur wie Tavernier eine Seltenheit. Er ist ein Mensch, für den die Probleme der arbeitenden Bevölkerung von echtem Belang sind, der den gegen Immigranten gerichteten Gesetzen und dem Rassismus absolut feindlich gegenüber steht, und trägt entschlossen dazu bei, ein künstlerisches und intellektuelles Umfeld zu schaffen, das zu fortschrittlichen sozialen Veränderungen führt. Auf dem Filmfestival in Sydney sprach der Korrespondent der Socialist Web Site, Richard Phillips mit Tavernier.
Richard Phillips: Bevor wir auf Ihren jüngsten Film Es beginnt heute zu sprechen kommen, können Sie vielleicht kurz beschreiben, wie Sie zur Filmindustrie gekommen sind und welche Regisseure am Anfang ihrer Karriere den größten Einfluß auf Sie hatten?
Bertrand Tavernier:Seitdem ich 13 oder 14 Jahre alt war, wollte ich schon immer Regisseur werden. Ich denke, es waren vielleicht die Filme Bis zum letzten Mann und Teufelshauptmann von John Ford, die mir plötzlich klar machten, daß der Regisseur mit Bildern arbeitete. Als ich jung war, hatte ich viele Bücher von Jules Verne und Jack London gelesen, und ich verstand, daß sie mit Worten malten. Als ich die Filme von Ford sah, wurde mir klar, daß der Regisseur mit Bildern malte, die in Bewegung waren.
Viele Regisseure hatten Einfluß auf mich. Ich hatte ein Notizbuch, in dem ich Fotos von Filmen meiner Lieblingsregisseure aufbewahrte. Dazu zählten John Ford, William Wellman und andere, darum war es kein schlechter Anfang. Dann entdeckte ich das französische Kino - Jean Renoir, Jean Vigo und Jacques Becker - und später dann italienische Filme.
Ich wuchs als großer Fan von amerikanischen Filmen auf. Ich liebte Samuel Fuller, Delmer Daves und viele andere amerikanische Regisseure. Später schrieb ich zwei Bücher über das amerikanische Kino. Eines davon erschien in mehreren Ausgaben, zuerst unter dem Titel Zwanzig, dann Dreißig und nun Fünfzig Jahre des amerikanischen Kinos (Originaltitel:50 Ans de Cinema Americain). Es ist ein Buch mit 1.250 Seiten - ein Lexikon von beinahe 600 Filmemachern mit vielen Essays über Regisseure und Drehbuchautoren. Es geht auch auf die Zensur in Hollywood ein. Ich schrieb es zusammen mit Jean-Pierre Coursodon und ich denke, es ist ein gutes Buch.
Das andere Buch trägt den Titel Les Amis Americains(Die amerikanischen Freunde). Es enthält Interviews mit vielen amerikanischen Regisseuren von John Ford bis zu Robert Altman, von Robert Parish und Roger Corman und vielen anderen, die man vorher noch nicht interviewt hatte. Dazu gehörten auch Leute wie Sidney Buchman, der Autor von Mr Smith Goes to Washington und Herbert Biberman, Regisseur des Films Das Salz der Erde. Das Buch enthält einen umfassenden Abschnitt über die schwarze Liste. Ich lernte praktisch jeden kennen, der auf der schwarzen Liste stand und führt ein Interview mit vielen - John Berry, Joe Losey, Abe Polonsky und anderen. In zwei Jahren werde ich einen Folgeband mit dem Titel Les Amis Européens(Die europäischen Freunde) herausbringen, der Interviews und Essays über Michael Powell, Godard, Truffaut, Jean-Pierre Melville und viele andere enthalten wird.
Der erste Regisseur, mit dem ich zusammengearbeitet habe, war Jean-Pierre Melville. Zum Zeitpunkt, als ich an der Sorbonne studierte, führte ich ein Interview mit ihm. Ich brach daraufhin mein Studium ab und wurde zum dritten oder vierten Hilfsregisseur. Leider war ich ein sehr schlechter Hilfsregisseur. Ich war furchtbar.
RP:Warum sagen Sie das?
BT:Weil ich einfach schlecht war, das steht ganz außer Frage. Melville jagte mir schreckliche Angst ein. Während der Dreharbeiten verhielt er sich wie ein Tyrann und in dieser Zeit fühlte ich mich ganz elend. Am Ende sagte er mir, daß ich als Hilfsregisseur niemals erfolgreich sein würde. Ich denke, er hatte recht, aber er stellte mich dem Filmproduzenten vor und schlug vor, daß ich als Presseagent für die Firma, die Melvilles Filme produzierte, arbeiten solle. Das tat ich dann auch.
Danach arbeitete ich als freier Presseagent mit einem Freund zusammen, und diese Arbeit hat sehr viel Spaß gemacht, denn wir konnten uns die Filme aussuchen, die uns gefielen. Unsere Methode war eher die von Filmbegeisterten als von normalen Presseagenten. Wir konzentrierten uns nicht auf die Stars, sondern auf die Regisseure und Autoren, die Bedeutung des Films und seinen Platz in der Geschichte des Films. Wir legten auch Wert auf detaillierte Informationen und ausführliche Interviews mit den Regisseuren.
So hatten wir mit sehr sehr vielen Regisseuren zu tun - mit französischen, italienischen, amerikanischen Regisseuren und auch einigen Altgedienten wie Raoul Walsh, Howard Hawks und John Ford. Wir machten auch neue Filme, die wir entdeckt hatten, bekannt. Wir brachten Filme wie Gentleman Jim, Der freche Kavalier und Kein Platz für Eltern oder die Filme von Ida Lupino und vielen anderen neu heraus. Und so lernte ich über den Film.
Dann machte ich meinen ersten Film Der Uhrmacher von St.Paul. Es dauerte vierzehn Monate bis ich die Gelder für diesen Film beisammen hatte. Der Film wurde schnell und mit viel Leidenschaft gedreht. 1973 kam der Film heraus und er gewann den Louis-Delluc-Preis und den Silbernen Bären beim Berliner Filmfestival. Er war ein Erfolg.
Seitdem habe ich mehr als 20 Filme gedreht. Meist war es sehr schwierig, die Gelder für die Produktion aufzutreiben. Jedes Mal war es die gleiche Geschichte wie beim Film Der Uhrmacher von St.Paul: die Stories wurden abgelehnt, niemand wollte die Filme, die ich drehen wollte, finanzieren. Zwei meiner größten Filmerfolge, Um Mitternacht und Leben und nichts anderes,wurden von allen abgewiesen.
Und obwohl der Produzent selbst Um Mitternacht nicht ablehnte, konnte er doch kein Studio finden. Man wollte keine Story über Jazz, einen Schwarzen und insbesondere über einen alten Schwarzen. Man wollte das einfach nicht, und trotzdem erhielt der Film zwei Oscarnominierungen und konnte den Oscar für eine der Nominierungen auch gewinnen. Leben und nichts anderes gewann den Preis des Besten Ausländischen Films in Britannien, den Special Jury Award und den Cäsar für Philippe Noiret als bestem Schauspieler. Er gewann auch die Auszeichnung des Besten Ausländischen Films von den Kritikern der West Coast. Aber im Vorfeld wollte niemand diesen Film finanzieren. Das Gleiche passierte mit Auf offener Straße und mit beinahe allen meiner Filme.
RP:Sie erwähnten, daß Sie mit Hollywood-Regisseuren und Drehbuchautoren, die auf der schwarzen Liste standen, Interviews führten. Können Sie etwas zur Oscarpreisverleihung an Elia Kazan sagen?
BT:Ich kannte Kazan sehr gut. Ich habe ihn einmal sehr ausführlich interviewt und arbeitete als sein Presseagent für den Film Das Arrangement. Diese Aufgabe übernahm ich unter der Voraussetzung, daß er mit mir über die schwarze Liste sprechen würde, und das tat er auch.
Ich bewundere ihn als Regisseur oder zumindest bewundere ich einige seiner Filme sehr. Ich halte Fieber im Blut, Baby Doll/Begehre nicht des anderen Weib, Ein Gesicht in der Menge und Unter Geheimbefehl für wunderbare Filme, aber ich halte sein politisches Verhalten für schändlich.
Bei meinem Interview gab er nur Teilerklärungen für sein Handeln an, aber er sagte mir nicht alles. Im Gegensatz zu dem, was viele damals sagten, glaube ich nicht, daß Geld dabei eine Rolle spielte. Es war viel komplexer. Es war, als ob er amerikanischer als die Amerikaner sein wollte und dachte, das könnte er auf diesem Weg erreichen.
Die Behauptung, daß er aus antistalinistischen Gründen so handelte, nehme ich nicht ab. Das ist Unsinn, wie Martin Ritt sagte, wie hätte es Stalin wirklich schaden können, wenn man der Regierung Informationen über eine kleine Gruppe Theater- und Filmschauspieler und Schriftsteller zukommen läßt? Das kann ich einfach nicht akzeptieren, genauso wenig wie ich akzeptieren kann, was er in der New York Times über sein Vorgehen geschrieben hat. Gleichzeitig kann ich nicht all seine Werke verurteilen. Ich denke Die Unbezwingbaren ist ein Meisterwerk, und ich denke, sein Schuldgefühl ließ ihn einige der besten amerikanischen Filme machen.
Zweitens denke ich nicht, daß es richtig wäre, Kazan für alles die Schuld zu geben. Was ist mit den Leuten über ihm: Leute wie Louis B. Mayer und andere Filmstudiomogule, die diese schwarze Liste ins Leben gerufen haben, und die Agenten, die sie akzeptierten und durchsetzten? Diese Leute werden kaum zitiert, man hört über sie so gut wie nichts. Sie werden nicht angegriffen.
Kazans Verhalten war sehr, sehr schlecht, das steht außer Zweifel, aber die schwarze Liste hätte ohne Jack Warner und andere keinen Erfolg gehabt. Ich denke, es ist wichtig, alle die anderen bloßzustellen, die für die schwarze Liste verantwortlich sind.
Als ich die Interviews für mein Buch durchführte, legte ich einen besonderen Schwerpunkt auf Menschen mit gutem Verhalten, die manchmal in Vergessenheit geraten, wie Fred Zineman, Robert Wise und Otto Preminger, wobei letzterer nicht die ihm gebührende Anerkennung erhielt.
In der Zeit, als ich den Film Um Mitternacht bekannt machte, traf ich auf einen Presseagenten, der früher Kommunist war, und er erzählte mir, daß Preminger viele Jahre mit ihm zusammengearbeitet hatte. Er erzählte, wie das FBI in Premingers Büro gekommen war und wie Preminger die Zusammenarbeit mit dem FBI verweigerte und die Beamten wieder fortschickte. Dalton Trumbo sagte immer, daß Preminger der erste war, der die schwarze Liste brach.
Die Academy of Motion Picture Arts and Sciences, die den Oscar verleiht, hat die Existenz der schwarzen Liste nie bestätigt, sie sprach nie ihr Bedauern aus, noch zollte sie den Menschen, deren Karriere die schwarze Liste zerstört hatte, in irgendeiner Form Tribut. Es wäre richtig gewesen, den Menschen, deren Karriere in den USA zerstört war, eine Art globale Anerkennung zukommen zu lassen. Menschen wie John Berry, Jo Losey, Abe Polonsky, Jules Dassin und anderen.
RP:Können Sie Näheres zu Ihrer Arbeit mit Dirk Bogarde in Daddy Nostalgie und Dexter Gordon in Um Mitternacht sagen? Beide Filme haben heute für diese großartigen Schaulspieler Denkmalfunktion.
BT:Dirk Bogarde leistete einen großen Beitrag zu Daddy Nostalgie. Er war sehr belesen, mit scharfem Witz, aber warmherzig und lustig, und wir verstanden uns während der Dreharbeiten ausgezeichnet.
Ich hatte Dirks Arbeit jahrelang bewundert und er die meine. Er saß sogar in der Jury in Cannes, die mir den Preis für die Regie in Sonntag auf dem Lande verlieh, aber wir hatten einander nie kennengelernt, obwohl ich als Presseagent an mehreren Filmen von Joe Losey gearbeitet hatte. Ich liebte Bogarde in Loseys Filmen Accident - Zwischenfall in Oxford, Der Diener und Für König und Vaterland, aber ich liebte ihn auch in früheren Filmen wie Freiwild unter heißer Sonne, in denen er einfach einmalig ist.
Bogarde war ein sehr mutiger Schauspieler, der bereit war zu experimentieren und daran arbeitete, sein Image als Matinee-Star zu überwinden. Er kämpfte dafür, in Der Diener mitspielen zu dürfen und war sofort bereit, mit jemandem zusammenzuarbeiten, der auf der schwarzen Liste stand.
Eine der vielen wichtigen Beiträge, die er zu Daddy Nostalgie beigesteuert hat, war die Szene, in der er an der Tankstelle im Auto sitzt und mit seiner Tochter spricht. Wir hatten die Dreharbeiten für den Film gerade abgeschlossen, aber ich hatte das Gefühl, daß noch etwas fehlte, und ich erinnere mich an ein Gespräch mit ihm, in dem er über Schmerz sprach. Ich rief ihn an und bat ihn, eine Szene zu schreiben, die vermittelt, wie man sich fühlt, wenn man Schmerz empfindet. Colo Tavernier, meine Ex-Frau, hatte das Drehbuch geschrieben und es war großartig und enthielt Momente größter Feinfühligkeit, aber die Szene, die Bogarde schrieb, war einfach wunderbar. Ich glaube, ich änderte nur eine Zeile daran und dann drehten wir die Szene. Es war fabelhaft.
In gewisser Weise war er wie Michael Powell, ein Mensch, der keine Grenzen kannte und bereit war mit wirklich jedem zusammen zu arbeiten. Er war nicht einverstanden mit der Haltung, die mitunter in Britannien anzutreffen war und die das britische Kino als eine Insel für sich sehen wollte. Er suchte immer nach ernsthaftem und anspruchsvollem Engagement.
Dexter Gordon war prima, aber wieder auf andere Art. Er war sehr belesen und besaß einen ausgeprägten Sinn für Humor, ein umfassendes Wissen über den Film und unglaubliche Bewunderung für Schauspieler wie George Sanders, Richard Burton und James Mason. Dexter sagte, Mason ließe sich mit einem Tenorsaxophon vergleichen. Er steuerte 30 oder 40 Zeilen zum Film bei. Das Gespräch "Mögen Sie Basketball?" war sein Werk.
Es war jedoch schwierig, denn wir mußten ihn vom Trinken abhalten, und viele Male war die Grenzlinie zwischen Drehbuch und Wirklichkeit nicht klar. Wenn er betrunken war, konnten wir mit ihm nicht arbeiten und stellten die Dreharbeiten dann einfach ein. Trotz dieser Probleme hatte er eine unglaubliche Beziehung zur Kamera. Es war, als fühlte er das Ganze wirklich und wir mußten dramatische Szenen nie öfter als drei Mal drehen. Er lag immer richtig und hatte eine Qualität, die manche Schauspieler erst nach zwanzig Jahren erreichen. Als der Film in den USA herauskam, schrieb Marlon Brando einen Brief an Dexter, in dem stand, daß er zum ersten Mal in 15 Jahren etwas über Schauspielerei gelernt habe. Dexter las mir den Brief über Telefon vor und sagte, "Wer braucht nach diesem Brief noch einen Oscar?"
RP:Die meisten Ihrer früheren Filme, oder zumindest die Filme vor Auf offener Straße sind introspektiv. Sie handeln von Tod oder von Menschen, die auf ihr Lebensende zugehen. Es beginnt heute handelt vom Anfang des Lebens, von Lehrern und sehr jungen Kindern und die Hauptfiguren sind entschlossen, die Situation, mit der sie konfrontiert sind, zu verändern.
BT:Das ist richtig. Meine ersten Filme befaßten sich mit dem Tod und im allgemeinen mit älteren Menschen, sie handelten nie von Menschen meines Alters. Das geschah vielleicht unter dem Einfluß von John Ford. Er ist vielleicht der einzige amerikanische Regisseur, der viele Filme über alte Menschen gemacht hat. Erst jetzt produziere ich Filme über junge Menschen.
Ich nehme an, es gab einen Moment, der in mir eine Änderung ausgelöst hat, und ich mußte eine andere Beziehung zu meinem Publikum finden. Ich hatte es nun mit einem neuen Publikum zu tun, das hauptsächlich amerikanische Filme sah, ein Publikum, das viel weniger Wissen mitbrachte und nicht an Geschichte interessiert war. Das ist natürlich eine sehr sehr schlechte Situation. Mir gefiel das nicht, aber die Änderung der sozialen und politischen Situation in meinem Land erforderte, daß ich Filme produzierte, die etwas anders waren, weniger lyrisch, weniger kontemplativ, die dringlicher waren und sich mehr auf die Vorstellung von Freiheit, Energie und Tatendrang gründeten. Ich mußte mich selbst in Gefahr bringen, mußte sogar meine eigene innere Revolution machen. Meine Filme haben nun die gleiche Art von Energie wie die Hauptcharaktere - in meinem letzten Film Daniel - aber auch in Auf offener Straße und Capitaine Conan. Die Filme bewegen sich in der gleichen Geschwindigkeit wie die Hauptfigur.
In Auf offener Straße herrscht das gleiche Gefühl von Instabilität. Eines der größten Komplimente über meine späteren Filme stammt von Alain Resnais, der sagte, bei diesen Filme wüßte man nicht, wie die nächste Szene aussieht. Der Grund dafür ist, daß ich es mit Charakteren zu tun habe, die selbst nicht wissen, was als nächstes passieren wird. Meine Regie muß dieser Atmosphäre gehorchen und sie kreieren.
Tatsächlich produziere ich selten Filme, bei denen auf eine Aufnahme eine entgegengesetzte Aufnahme folgt usw. Ich versuche das stets zu vermeiden. Entweder mache ich eine lange Aufnahme, eine komplexe Kamerabewegung, oder ich breche die Szene mit einer unerwarteten Nahaufnahme ab. Ich versuche so zu arbeiten, um von den Regeln loszukommen und frei von formalen Konventionen zu sein. Häufig werden Filme mit zunehmendem Alter des Regisseurs kunstvoller und weicher. Meine Filme werden mit meinem zunehmenden Alter gewaltsamer, schärfer und schneller als zuvor.
Ich bin sehr stolz auf die Filme, die ich gemacht habe und es gibt nicht einen Film, von dem ich sagen könnte, daß ich ihn nicht akzeptieren kann oder gerne ändern würde. Ken Loach und Bob Altman würden wahrscheinlich das Gleiche über ihre Filme sagen. Das kommt selten vor. Viele Regisseure sehen sich ihre früheren Filme an und sagen, daß sie gezwungen waren, das eine oder andere zu machen, und würden sie den Film erneut produzieren, so würden sie einen Teil oder auch das Ganze ändern. Ein solches Gefühl habe ich überhaupt nicht.
RP:Sie sprachen von einem Wendepunkt in Frankreich, der eine Änderung Ihrer Filme auslöste. Können Sie Näheres dazu sagen?
BT:Diese Änderung in meiner Arbeit hatte seine Ursache im Aufsteigen der extremen Rechten, dem Verrat von Mitterrand und dem Gefühl, daß die Menschen die Kontrolle über die Realität verloren hatten und nicht finden wollten.
Heute versuchen die meisten französischen Politiker die Realität zu ignorieren, sie handeln, als wären sie völlige Autisten. Das macht mich sehr, sehr wütend. Für mich gibt es Dinge, über die man einfach nicht schweigen kann. Wenn wir in der Art und Weise, wie sie arbeiten, Filme produzieren würden, wären wir sehr schnell nicht mehr im Geschäft.
Ich lerne so viel vom Filmemachen. Vielleicht besteht der beste Nutzen des Filmemachens darin, wie Michael Powell in seinen Memoiren schrieb, daß er Filme gemacht hat, um zu lernen. Das ist meine Herangehensweise. Ich wußte nichts über Vorschulen bevor ich den Film Es beginnt heute machte, aber was ich herausfand, gab mir einen großen Respekt für Lehrer und all diejenigen, die für die Zukunft kämpfen.
Daniel, der Rektor der Schule ist ein Held, aber er ist auch ein Held, der Fehler macht. Er ist kein Schulrambo. Sein Verhalten gegenüber dem Sohn seiner Freundin ist nicht richtig. Er gibt ihm eine Ohrfeige; er versteht ihn nicht. Er macht einen Fehler mit Frau Henri und das hat dramatische Folgen, nachdem er sie von der Schule gefeuert hat. Er macht also nicht alles richtig, aber er ist einer der nicht besungenen Helden unserer Zeit, die von den politischen Machthabern, den Menschen über ihm in den Behörden und den Medien ignoriert werden.
Die Medien weigern sich, über solche Menschen zu berichten und auch wenn sie eine Fernsehserie über Lehrer produzieren, ist sie so unwirklich, daß es schon lächerlich ist. Es gibt nichts Wirkliches daran. Im französischen Fernsehen gibt es tatsächlich eine Fernsehserie über einen Lehrer, aber in seinen Klassen sitzen nur etwa 10 Schüler und bei jeder Folge befindet er sich in einer anderen Stadt. Das Ganze ist vollkommen verrückt und es passiert, nichts, das irgendwelche Konsequenzen hat, doch in Wirklichkeit sterben Menschen als Folge von Regierungsbeschlüssen. Das ist die Realität. Das Elend, mit dem viele Arbeiter konfrontiert sind, insbesondere in dem Gebiet, in dem der Film gedreht wurde, ist nicht abstrakt - es tötet Menschen jeden Tag.
Natürlich ist es viel moderner zynisch zu sein und nichts mit dem sozialen Kampf zu tun zu haben - man spricht einfach nicht über Lehrer und die Probleme, mit denen sie konfrontiert sind. Aber diese Lehrer, Sozialarbeiter und viele andere erhalten kleine Inseln der Zivilisation, des Lebens und Glücks in unserer Gesellschaft.
Jahrelang bekamen Lehrer und Rektoren, die gegen die Regierung kämpften, zu hören, "Das ist nicht Ihre Sache, Sie müssen den Kindern das Lesen und Schreiben beibringen". Aber wie kann man Kinder unterrichten, die nicht gegessen haben, oder die geschlagen werden? Hört der Handlungsspielraum eines Lehrers bereits an der Tafel auf?
Ich habe große Bewunderung für diese Fußsoldaten, die kämpfen und leiden. Wie Kipling sagte, erzähle mir die Geschichte des Fußsoldaten und ich erzähle dir die Geschichte jedes Krieges. Und das sind die Menschen, die die wichtigste Rolle in der Gesellschaft spielen, die wirtschaftliche Schlüsselrolle. Ich bin sicher, daß es Menschen wie Daniel in Australien und in jedem anderen Land gibt. Der Film versucht dies zu zeigen.
RP:Der Film zeigt die Auseinandersetzungen zwischen Daniel und den Beamten der örtlichen Regierungsbehörden und einem Bürgermeister, der behauptet Kommunist zu sein. Welche Gefühle hegen Sie für die Vertreter der 68er-Generation, die heute Teil des Establishment sind und Kürzungen in den sozialen Programmen durchsetzen?
BT:Es stimmt, daß es viele Menschen gibt, die Verrat begangen haben, Kompromisse eingegangen sind oder Macht akzeptiert haben. Einige von denjenigen, die 1968 Maoisten waren, sind heute Besitzer von eigenen Werbeagenturen oder andere, die sagten, sie wären Trotzkisten, halten hohe Posten in Gewerkschaften oder haben Regierungsämter inne. Viele französische Intellektuelle, die vor 1968 rechts waren, wurden anschließend zu Kommunisten, dann zu Maoisten und heute sagen sie, wir müßten unpolitisch sein, ohne je zuzugeben, daß sie in der Vergangenheit eine falsche Auffassung vertreten haben.
RP:Es scheint fast, als sei Ihr Film eine Reaktion darauf.
BT:Absolut. Der Film zeigt, daß diese Politiker den normalen Menschen keinerlei Beachtung schenken. Er versucht zuzuhören und zu respektieren, was normale Menschen jeden Tag ihres Lebens machen.
RP:Wie war die Reaktion auf diesen Film in Frankreich?
BT:Die Reaktion war unglaublich, ein riesiger und unerwarteter Erfolg, und von den Gemeinden, Lehrern, Sozialarbeitern und Erziehern wurde der Film begeistert aufgenommen. Wir erhielten Tausende von Briefen und Mitteilungen, die sagten, daß der Film richtig und völlig authentisch sei. Ich erhielt sogar einen Brief von einer Frau, die im Elektrizitätsministerium arbeitet. Sie teilte uns mit, daß das Ministerium im Herbst die Stromversorgung für viele Häuser abschaltet und sie im Winter nicht wieder anschließt. Tatsächlich soll nach der Veröffentlichung des Filmes ein Gesetz verabschiedet werden, das das Abschalten der Stromversorgung für Leute, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können, für gesetzeswidrig erklärt.
Einige Lehrer erzählten mir sogar, daß sie schon daran gedacht hatten, ihren Beruf aufzugeben, sich nun aber zum Weitermachen entschlossen hätten. Ein Lehrer meinte, der Film habe ihm den Mut gegeben, weitere drei Jahre zu kämpfen. Ich erhielt sogar einen Brief von einem Psychiater, der mit Lehrer zu tun hat, die unter Depressionen leiden und er verwendet den Film sehr oft und mit großem Erfolg. Es gab auch Berichte, daß einige Lehrer, die den Film gesehen hatten, die Schulräte von ihren Schulen fortschickten. Das ist ein großer Sieg.
RP:Und wie war die Reaktion von der Regierung und dem Bildungsminister?
BT:Ich habe den Film dem Bildungsminister vorgeführt, es kam aber zu keinem Austausch. Nach der Vorführung sagte er mir, die Szene zwischen dem Lehrer und Schulrat sei sehr treffend. Er sagte, ihm gefiele die Szene mit dem Lastwagen und dann wandte er sich ab, um einige Sandwiches zu essen. Ich wollte, daß er die Lehrer aus der Gegend oder Personen, die mit der Schule zu tun hatten, treffe, aber es war wirklich kein richtiges Gespräch mit ihm möglich. Nichts geschah. Die Ministerin für Soziales sagte, der Filme wäre völlig richtig und daß sie daran arbeite, Dinge zu verändern. Das muß sich aber erst noch zeigen.
RP:Können Sie zum Abschluß einiges zum Hintergrund von Jenseits des Stadtrings sagen, dem Film, den Sie 1997 zusammen mit ihrem Sohn als Reaktion auf die Antiimmigrationsgesetze der Regierung machten?
BT:Zu jener Zeit unterzeichneten 66 Filmregisseure eine Erklärung, die besagte, daß sie sich dem Debré-Gesetzesentwurf, einem von der rechten Regierung gegen Immigranten eingebrachten Gesetzesentwurf, widersetzten. Der Gesetzesentwurf sah vor, daß jeder, der Immigranten kannte, die keine legalen Papiere für ihren Aufenthalt in Frankreich besaßen, verpflichtet sei, diesen Umstand der Polizei mitzuteilen. Ich habe diesen Protest nicht initiiert, aber ich habe diese Protesterklärung sofort unterschrieben.
Wir erhielten alle ein Schreiben des Wohnungsministers von Paris, in dem stand, daß wir nichts über die Probleme der Integration wüßten, daß wir verwöhnte Kinder seien und einmal einen Monat lang in einem dieser Gebiete mit hohen Immigrationsraten leben sollten. Der Minister schrieb, wir würden dann sehen, welche schrecklichen Zustände in diesen Gebieten herrschten, und das würde unsere Gesinnung ändern. Jedem von uns wurde ein bestimmtes Gebiet zugewiesen, und ich beschloß zusammen mit meinem Sohn in dieses Gebiet zu gehen und die Menschen des Gebietes - Grand Pechers in Montreuil, etwas außerhalb der Pariser Innenstadt - kennenzulernen.
Wir trafen auf viele Menschen, die über dieses Schreiben wütend waren und so lernten wir uns kennen. Wir diskutierten miteinander und ich fragte, was ich tun könnte. Ich sagte, ich sei kein Politiker und das Einzige, was ich beisteuern könnte, sei einen Film über das Ganze zu drehen, und damit waren sie einverstanden.
Dieser Film war eine ungeheure Erfahrung und ich verbrachte und lebte sechs Monate in Montreuil. Ich lernte einige prima Menschen kennen und ich fahre sehr oft zu ihnen, um sie zu besuchen und mit ihnen zu Abend zu essen. Tatsächlich ist einer der Gründe, warum ich nicht länger in Australien bleiben kann, daß ich am 26. Juni zurück sein muß, um an der Taufe eines kleines Babys aus diesem Gebiet teilzunehmen. Ich bin Pate dieses Kindes, das nach dem Herausgeber des Films benannt ist.
Es gibt viele Dinge, die ich nie vergessen werde. Einer der Männer, die ich interviewte, ist Senegalese und er machte einige phantastische Bemerkungen zum Thema Integration. An einem Punkt sagte er, Integration sollte das Recht bedeuten, dort zu leben, wo man möchte und wie man möchte. "Frage ich Chirac", sagte er, "ob er integriert ist und wer ihn integriert hat?" Es war wirklich einmalig, wie er damit den Schwarzen Peter wieder denjenigen zugespielt hat, die von Integration reden.
Der Film hatte eine starke Wirkung und die Regierung erhöhte die Gelder für dieses Gebiet aufgrund des Films. Nun gibt es richtige Basketballplätze und andere Einrichtungen. Obwohl ich weiß, daß viele meiner Filme eine wichtige Rolle dabei gespielt haben, eine Diskussion über viele Themen anzuregen, ist es doch schwierig, die genaue Wirkung meiner Filme einzuschätzen, weil die Ergebnisse nicht immer so leicht feststellbar sind, und weil ich die Dinge nicht immer verfolge. Aber alle Menschen, die etwas damit zu tun haben, sagen, daß meine Filme wahr, real und genau sind. Ich bin sehr stolz, daß ich das erreicht habe - daß ich die Vorstellungskraft besitze, solche Filme zu produzieren. Als Regisseur ist es natürlich meine Aufgabe zu erfinden und zu träumen. Wie Michael Powell sagte, müssen wir träumen und erfinden und aus diesem Prozeß etwas hervorbringen, was die Welt verändert.
RP:Und Ihr nächstes Projekt?
BT:Ich arbeite gerade an einem Dokumentarfilm über Menschen, die der sogenannten Doppelten Strafverfolgung ausgesetzt sind. Das ist ein Gesetz, daß Menschen verfolgt, die gesetzeswidrig gehandelt haben, bei vielen von ihnen handelt es sich um Bagatelldelikte, die aber doppelt verfolgt werden, weil sie Immigranten sind. Ich stehe seit einem Jahr mit diesen Menschen in Kontakt, habe sie interviewt und Material gesammelt. Ich möchte auch ein Drehbuch überarbeiten, eine Art schwarzer Komödie über die Menschen, die während der Besetzung Frankreichs durch die Nazis Filme für deutsche Firmen produziert haben. Ich weiß noch nicht, ob ich das Drehbuch bekomme, werde das jedoch weiter verfolgen.