Zu den historischen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründen des Kriegs auf dem Balkan

Ein Radio-Interview mit dem Chefredakteur des WSWS, David North

David North, der Chefredakteur des World Socialist Web Site, gab am 15. April dem Radiosender KVMR ein Interview. Sitz des Senders ist das kalifornische Sacramento, das Gespräch führte Chamba Lane. Wir veröffentlichen hier die Übersetzung der Abschrift.

C. Lane: Dürfen wir Dich beim KVMR willkommen heißen, David?

D. North:Ja, gern.

CL: Stelle Dich doch eingangs kurz vor und sage uns, weshalb Du für unsere heutige Sendung der Richtige bist.

DN:Ich bin Chefredakteur des World Socialist Web Site, einer Online-Publikation des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Es nimmt von einem sozialistischen, marxistischen Standpunkt aus Stellung zu international wichtigen Ereignissen, zu Fragen der Politik, Wirtschaft und Kultur.

CL: Bevor wir auf die historischen Hintergründe zu sprechen kommen, möchte ich gern über das Timing von Clintons jüngster Eskapade sprechen. In der Türkei, im Irak, in ganz Afrika dulden wir ethnische Säuberungen, ja unterstützen sie sogar. Wir lassen zu, daß das algerische Militär seine eigene Zivilbevölkerung in weitaus größerer Zahl abschlachtet, als dies im Kosovo geschieht. Wir haben sogar Milosevic freie Hand gelassen, in Bosnien eben dies zu tun, was wir ihm jetzt im Kosovo vorwerfen, und nichts dagegen unternommen. Nun beginnen wir einen Krieg bei schlechter Witterung, während wir doch wissen, daß unsere lasergesteuerten Missiles nur bei guter Sicht präzise treffen. Darüber hinaus müssen wir gewußt haben, daß dies die Zivilbevölkerung zur Flucht in die Berge treiben würde. Und wenn wir wenigstens einen Monat gewartet hätten, dann hätten sie bei relativ trockenem Wetter fliehen und sich verbergen können, anstatt, wie jetzt, bei Kälte und Regen. Aus welchem Grund hat Clinton diesen Krieg gerade jetzt begonnen, wenn nicht, um zu verhindern, daß der Kongreß, die Medien und das amerikanische Volk sein mögliches China-Gate unter die Lupe nehmen? Wie siehst Du das ganze Timing, einmal abgesehen von der Parallele zu "Wag the Dog"?

DN:Ich kenne diese Interpretation. Zu der Entscheidung, wann genau der Krieg begonnen wurde, mochten verschiedene Faktoren beitragen. Allerdings glaube ich nicht, daß man diesen Krieg einfach aus den unmittelbaren Problemen der Clinton-Regierung heraus erklären kann.

CL:Ich habe nicht versucht, den Krieg von diesem Standpunkt her zu rechtfertigen. Es geht mir nur um den Zeitpunkt, er hätte den Krieg ja auch zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt beginnen können. Das Problem existiert ja schon lange.

DN: Ja. Es gibt aber auch andere, politische und militärische Faktoren. Man müßte einmal die Beziehungen untersuchen, die die US-Regierung zur UCK aufgebaut hat, denn sie haben bei der Wahl des Zeitpunkts für die Bombardierungen gewiß eine Rolle gespielt. Die "Verhandlungen" - wenn man es überhaupt so bezeichnen will - in Rambouillet basierten auf der Annahme, daß die NATO mit Erfolg wieder dieselbe Formel gegen die Serben verwenden könne, die sie gemeinsam mit der kroatischen Regierung bereits 1995 benutzt hatte. Die Vereinigten Staaten nahmen an, daß die Kombination von Luftschlägen der NATO und einem Bodenkrieg der UCK - oder bereits die Androhung einer solchen Kombination - zur serbischen Kapitulation führen werde.

CL: Mit Sicherheit hat die Regierung die Stärke der UCK überschätzt.

DN:Das glaube ich auch. Dazu kam eine gewisse Unverfrorenheit. Doch der Druck auf die Clinton-Regierung Serbien anzugreifen war sehr groß. Ganz unabhängig von Clintons Überlegungen über den kurzfristigen Nutzen, den ihm ein Krieg bringen könnte, kam der wirkliche Druck aus der Elite der herrschenden Klasse, die in der Politik die Richtung vorgibt.

CL: Weshalb?

DN:Meiner Ansicht nach muß man dies im Zusammenhang mit der politischen Lage seit dem Ende des Kalten Krieges sehen. Innerhalb der herrschenden Elite gab es eine umfangreiche Debatte über die Rolle der USA in der Weltpolitik. Wenn man die politischen Fachzeitschriften verfolgt, dann findet man verblüffend offene Aussagen über die globalen Ansprüche Amerikas. Ich sehe die Intervention auf dem Balkan in einem breiteren Zusammenhang. Man sollte die Frage stellen, wie dieser Krieg in zehn oder zwanzig Jahren beurteilt werden wird. Vermutlich werden die Historiker feststellen, daß nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die militärischen Aktivitäten Amerikas stark eskalierten. Sie werden wohl zu der Schlußfolgerung kommen, daß die Vereinigten Staaten versuchten, die durch den Zusammenbruch der UdSSR hervorgebrachten Gelegenheiten auszunutzen, um sich eine absolut unanfechtbare Vormachtstellung in der Welt zu verschaffen. Die militärischen Interventionen sollen die Weltposition der USA in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht stärken. So wird dieser Krieg jedenfalls in vielen anderen Teilen der Welt aufgefaßt.

CL: Du beziehst Dich auf unsere Eskapaden in Panama, Somalia...

DN:Ja. Und wenn man noch einmal zurückblickt, dann sind in den letzten acht oder neun Monaten nicht weniger als vier Länder von den USA bombardiert worden: der Sudan, Afghanistan, Irak - den wir jeden Tag bombardieren - und nun Serbien. Ich kenne kein anderes Land der Welt mit einem ähnlichen Register.

CL: Aber beim Sudan und Afghanistan ging es nicht um militärische Zwecke, sondern um die Innenpolitik, weil Clinton hier zuhause Probleme hatte. Seine Person kam dadurch aus den Schlagzeilen heraus.

DN:Das könnte schon ein Faktor gewesen sein. Aber es ist ja nicht das Werk eines einzelnen Mannes. Es muß innerhalb der herrschenden Elite der USA - der Kapitalistenklasse - ein gewisser politischer Konsens herrschen, der solche Aktionen begünstigt. Ein Mann allein kann keinen Krieg vom Zaun brechen.

CL:Bei der Bombardierung dieser Fabrik im Sudan hatte man den Eindruck einer One-Man-Show. Wen mußte er denn um Erlaubnis fragen? Ging er vorher zu den Oberkommandierenden? Ich glaube nicht.

DN: In jedem Fall wirst Du feststellen, daß es diesen Konsens gibt. Genau wie man die Ereignisse auf dem Balkan nicht mit dem "bösen Milosevic" erklären kann, so kann man meiner Meinung nach auch die amerikanische Außenpolitik nicht mit dem "bösen Clinton" erklären. Natürlich spielen Persönlichkeiten eine gewisse Rolle. Individuelle Ziele, Bestrebungen - all dies kann dazu beigetragen haben. Aber wenn die Geschichte dieser Ereignisse geschrieben wird, dann wird der Skandal vom letzten Jahr meiner Meinung nach nicht als gewichtiger Faktor gewertet werden - höchstens in folgendem Sinne: Hinter der Krise der Clinton-Regierung standen enorme innere politische Spannungen, die in einer sehr eigenartigen Form die Tatsache zum Ausdruck brachten, daß sich die Vereinigten Staaten hinsichtlich ihrer Sozialpolitik in einer Sackgasse befinden. Unter der Oberfläche existiert ein unvorstellbares Potential für erbitterte Klassenkonflikte. Die inneren gesellschaftlichen Widersprüche - die im Rahmen des bestehenden politischen Lebens in Amerika nicht gelöst werden können - verschaffen sich nach außen hin Luft, in Form äußerst gewalttätiger militärischer Überfälle auf vorgebliche Feinde der USA.

Ein Anrufer:Es handelt sich ja nicht um eine unilaterale Aktion der USA. An der Entscheidung waren 19 Nationen beteiligt. Sie entspricht den NATO-Richtlinien, denen der Kongreß 1949 in Übereinstimmung mit der Verfassung zustimmte. Hätten Sie es für besser gehalten, sich auf sich selbst zurückzuziehen und die Augen davor zu verschließen, was dieses nette sogenannte christliche Volk den Moslems antut, genau wie wir früher ignoriert haben, was die Nazis den Juden antaten? Oder meinen Sie nicht, daß wir irgend wann einmal Stellung beziehen mußten, denn wenn man nicht für eine Sache eintritt, dann wird man selbst zum Opfer werden.

DN:Die Frage der ethnischen Säuberung wird von den Medien zur Rechtfertigung der amerikanischen Intervention benutzt. Ich halte für sehr wichtig, Chamba, was Du eingangs der Sendung bemerkt hast: Die USA beziehen eine äußerst doppeldeutige Haltung gegenüber diesen Vorfällen. Die amerikanische Haltung gegenüber ethnischen Säuberungen hängt ganz davon ab, wer sie begeht. Nur einen Monat vor Beginn dieses Krieges beteiligten sich die USA an der illegalen Verschleppung des Führers der kurdischen nationalen Bewegung. Laut dem Menschenrechtsbericht des Außenministeriums sind in den letzten 15 Jahren zwischen 500.000 und zwei Millionen Kurden aus ihren Dörfern vertrieben worden...

DL:Das nennt man ethnische Säuberung...

DN:Ja, in ihrer schlimmsten Form. Die USA bezieht solchen Ereignissen gegenüber eine durch und durch heuchlerische Haltung. Am Montag lud Madeleine Albright einen Vertreter der kroatischen Regierung zu einem eigens einberufenen Diner des Außenministeriums. Gemeinsam mit der kroatischen Regierung hatten die USA die bisher größte ethnische Säuberung der Balkankriege geplant - die Vertreibung von 100.000 Serben aus der Provinz Krajina im Jahr 1995. Ich möchte dem Anrufer, der diese Frage stellte, die Lektüre der soeben erschienenen Memoiren des amerikanischen Sonderbotschafters Richard Holbrooke empfehlen. Er gibt zu, daß er die kroatische Offensive unterstützt hatte. Noch ein weiterer Punkt. Ein Untersuchungsausschuß des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag hat zum Schrecken der US-Regierung Dokumente zutage gefördert, die das ganze Ausmaß der vom kroatischen Regime begangenen ethnischen Säuberungen aufzeigen. Weshalb verurteilten die USA so etwas, wenn es von der serbischen Regierung getan wird, und unterstützen es, wenn die kroatische Regierung der Täter ist? Sie messen mit zweierlei Maß. Das WSWS ist gegen alle ethnischen Säuberungen. Was stattfindet, ist eine Tragödie für alle Völker des Balkan. Wenn man sie beenden will, dann muß man die Wurzeln und Ursachen dieser Greueltaten, ihre politischen und wirtschaftlichen Gründe erforschen, anstatt sie in opportunistischer Weise für eigene Militärinterventionen auszunutzen.

CL:Könntest Du eine weitere Frage beantworten?

Anrufer: Ich freue mich über Ihre Einsichten in die Probleme unserer Welt. Wir haben schon lange Probleme, und jetzt verschlimmern sie sich, aber zumindest dürfen wir jetzt dank der weltweiten Medien davon erfahren. Um diese Probleme zu lösen, ist es an der Zeit, unseren Geist auf Vergebung einzustimmen... es ist die telepathische Wut, die all dies befeuert. Um alle diese Probleme, von Tibet bis Europa, zu heilen, sollten wir liebende Gedanken hegen...

DN:Mit Telepathie kenne ich mich nicht aus, aber wer unsere Ansichten genauer kennenlernen möchte, der sollte sich unsere Web Site anschauen, unter Fehler! Textmarke nicht definiert., das World Socialist Web Site.

CL:Ich war in Jugoslawien, als Tito an der Macht war, und von diesen Spannungen war überhaupt nichts zu spüren. Es ging dem Land sehr gut. Wie konnte das Land in diese Situation herabsinken, die wir jetzt haben? Und wie um Himmels willen kam es zu diesen Grenzen, die, was die Verteilung der Bevölkerung angeht, so völlig unrealistisch sind?

DN:Das ist ganz wichtig. Die Geschichte der jugoslawischen Republik unter Tito war eine widersprüchliche Erfahrung. Kurz, es gab bedeutende soziale Fortschritte. Ich würde Titos Politik nicht als sozialistisch bezeichnen - sein Handlungsrahmen war national, nicht internationalistisch geprägt. Aber im breitesten Sinne enthielt Titos Programm sozialistische Elemente. Die Industrie wurde verstaatlicht. Man versuchte, den sozialen Interessen der Arbeiterklasse entgegenzukommen. Natürlich waren die Ergebnisse im Rahmen eines unterentwickelten Landes beschränkt. Titos Politik war der Versuch, die alten kleinlichen Balkan-Nationalismen - den kroatischen, serbischen, slowenischen usw. - durch einen jugoslawischen Nationalismus zu ersetzen. Von den siebziger Jahren an spitzte sich die wirtschaftliche Krise in Jugoslawien jedoch immer mehr zu. Die weltweite Rezession hatte große Auswirkungen. Jugoslawien geriet in immer stärkere Abhängigkeit von Krediten des IWF. Die Zuspitzung der ethnischen Spannungen läßt sich auf die Folgen der Forderungen zurückführen, die der IWF im Rahmen der Schuldentilgung erhob: Zerstörung des sozialen Sicherungsnetzes, sinkende Einkommen, Inflation und Arbeitslosigkeit. Die Politik des IWF trug sehr stark zur wirtschaftlichen Destabilisierung Jugoslawiens bei, und die wirtschaftliche Destabilisierung mündete sehr rasch in ethnische Konflikte.

DL:David, drang der IWF in Jugoslawien ein, während Tito noch an der Macht war, oder erst danach?

DN:Es begann unter Tito. Ungeachtet seines Konflikts mit der UdSSR war Tito durch die politische Schule des Stalinismus gegangen. Entsprechend reagierte er auf den Druck, dem er 1948 ausgesetzt war. Er versuchte, Jugoslawien in eine Zwischenstellung zwischen der UdSSR und den USA zu positionieren.

CL:Das gelang ihm hervorragend - wie konnte er so dumm sein, den IWF hereinzulassen?

DN:Ich glaube nicht, daß es etwas mit seiner Klugheit oder Dummheit zu tun hatte. Meiner Ansicht nach verfolgte er eine gewisse pragmatische Politik...

CL:Er war der einzige kommunistische Führer, der sich nicht dem russischen Lager anschloß und es fertig brachte, zwischen den USA und Rußland zu bleiben. Er ist der einzige, dem das gelang. Das mußt Du ihm doch zugute halten.

DN:Ich würde sagen, daß ihm auch andere Alternativen offenstanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bestand auch die Möglichkeit einer internationalistischen Linie, um zu versuchen, die Ereignisse in Jugoslawien nach Möglichkeit mit einer europäischen Revolution zu verknüpfen. Er entschied sich gegen diese Option. Er reagierte auf die sowjetischen Drohungen und den sowjetischen Druck mit dem Versuch einer Annäherung an die USA. Die USA begrüßten dies eine Zeit lang, weil sie in Tito einen Knüppel sahen, mit dem sie auf die UdSSR einprügeln konnten. Tito vollführte einen Balanceakt. Doch leider basierte seine Strategie, wenn er auch ein hervorragender Taktiker war, auf einer beschränkten, falschen Perspektive: daß der Sozialismus auf nationaler Grundlage aufgebaut werden könne. Das war nicht möglich, schon gar nicht in einem wirtschaftlich zurückgebliebenen Land. Während des Nachkriegsbooms der fünfziger und sechziger Jahre waren die Schranken dieser Perspektive nicht so offensichtlich. Titos Manöver zeitigten vorübergehende Resultate. Eine Zeitlang konnte er den nationalen Spannungen entgegenwirken, die unter der Oberfläche bestehen geblieben waren. Denke daran, daß die USA aufgrund des Kalten Krieges die Einheit Jugoslawiens unterstützten. Aber die Veränderung der internationalen Umstände brachte den grundlegenden Mangel von Titos Programm zutage. Tito strebte dann westliche Unterstützung an, um die Entwicklung der Industrie weiterzuführen. Gewiß geschah dies mit den besten Absichten, langfristig hatte es jedoch schwere, gefährliche Folgen. Als die Bedienung der Schulden fällig wurde, nahm - insbesondere vor dem Hintergrund der 1974 einsetzenden Weltrezession - der Druck zu. Tito starb im Alter von 88 Jahren, ich glaube 1980. Von da an ging es bergab. Die verschiedenen Republiken - die getrennte wirtschaftliche Interessen entwickelt hatten - wurden von Fraktionen der herrschenden Parteibürokratie regiert, die von regionalen Standpunkten ausgingen. Dadurch wurde das Überleben des jugoslawischen Staates langfristig in Frage gestellt.

CL:Nach Somalia gingen wir wegen angeblich humanitärer Gründe, und später stellte sich heraus, daß es wir wegen des Öls dort waren. Jetzt sind wir aus angeblich humanitären Gründen im Kosovo, sind wir Deiner Meinung nach wieder hinter irgend welchen Rohstoffvorkommen her? Ist das einer der Gründe, weshalb wir zu dem Schluß gekommen sind, daß diese ethnische Säuberung nicht stattfinden darf, während die ganzen anderen ethnischen Säuberungen auf der Welt durchaus hinnehmbar sind?

DN: Ja, das ist eine Überlegung. Ich habe gerade noch einmal einen Artikel gelesen, der im letzten Juli in der New York Times erschien. Darin befaßt sich Chris Hedges mit den enormen Mineralienschätzen im Kosovo, wo Blei und Zink, Cadmium, Silber und Gold in großen Mengen vorkommen. Der Kosovo verfügt auch über die größten Kohlevorkommen der ganzen Welt. Man rechnet mit unerschlossenen 17 Milliarden Tonnen Kohlereserven, das ist meines Wissens die dreifache Weltproduktion. Ja, es gibt dort erhebliche Reichtümer, und mit Sicherheit ist das ein Faktor in den Kalkulationen der verschiedenen Mächte, ein Faktor für ihre Haltung gegenüber dem Kosovo und seiner Zukunft. Das ist eine Rückkehr zum Imperialismus alter Prägung. Dessen Begriffe tauchen jetzt im politischen Vokabular wieder auf: "Protektorate", "Einflußsphären", und bald wird auch wieder von "Kolonien" die Rede sein. Mir fiel besonders ein Artikel in Foreign Affairs auf, in dem es hieß, das größte Problem der außenpolitischen Elite Amerikas bestehe heute darin, daß die USA zwar genügend Macht haben, um zu tun, was sie wollen, aber kein Anliegen, keine Sache, um die Bevölkerung mitzuziehen und zu begeistern. Die Regierung versucht, diesen Mangel zu beheben, indem sie den Angriff auf Serbien zum Krieg für Menschenrechte erklärt. Letztes Jahr war die große Sache, mit der die Clinton-Regierung hausieren ging, die Zerstörung von "Massenvernichtungswaffen". Heute sind es die "ethnischen Säuberungen".

CL:Das ist das jüngste Schlagwort und die neueste Rechtfertigung für "business as usual".

DN:Man könnte es auch nennen: "Zurück in die Zukunft".

CL: Man spricht von den getrennten Republiken in Jugoslawien und von Kämpfen um ihre Grenzen. Wie sind diese Grenzen entstanden, sind es die ursprünglichen Grenzen, oder sind es Grenzen, die die Jugoslawen für die ursprünglichen halten, oder sind es künstliche Konstrukte, wie so viele nationale Grenzen?

DN: Es sind künstliche Kontrukte. Die Balkanstaaten wurden im Zuge der europäischen Großmachtdiplomatie geschaffen, die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht. Die Grenzen der Balkanstaaten widerspiegelten die Konflikte zwischen dem russischen, dem österreich-ungarischen und dem osmanischen Reich. Die nationalen Bestrebungen der Balkanvölker wurden alle ständig von den Intrigen der Großmächte unterlaufen. Die Spaltung der Halbinsel auf der Grundlage religiöser und sprachlicher Unterschiede war ein Hindernis für die wirtschaftliche und demokratische Entwicklung. Die weitsichtigsten Leute auf dem Balkan - die Sozialisten - wollten durch eine freiwillige Union der "Südslawen" eine stärkere und sinnvollere Grundlage für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung schaffen. Das Jugoslawien, das aus dem Ersten Weltkrieg hervorging, war ein Zusammenschluß Kroatiens, Serbiens und Sloweniens, in dem jedoch Serbien dominierte. Die Struktur, die aus dem Partisanenkampf hervorging, hatte ein weitaus größeres demokratisches Potential. Man versuchte, chauvinistischen Tendenzen insbesondere unter Serben und Kroaten entgegenzusteuern. Titos Jugoslawien hatte innere Grenzen, wie jene unserer Staaten, die in langen Verhandlungen und komplizierten Kompromissen ausgehandelt worden waren, um die alten Spaltungen abzuschwächen. Alle möglichen politischen Überlegungen flossen in die inneren Grenzziehungen ein. Zum Beispiel verlieh Tito dem Kosovo ursprünglich den Status einer autonomen Republik, um, wenn ich mich recht erinnere, Albanien in den jugoslawischen Bundesstaat hereinzuziehen. Die Grenzen Bosniens wurden so gezogen, daß es als Puffer zwischen Kroatien und Serbien dienen sollte. Alle verschiedenen ethnischen Gruppen sahen im Bundesstaat den letztlichen Garanten ihrer demokratischen Rechte und einer fairen Verteilung der nationalen Ressourcen.

CL:Diesen Punkt halte ich für außerordentlich wichtig und möchte ihn nochmals betonen. Jugoslawien hatte unter Tito Bestand, weil er zwischen diesen verfeindeten Fraktionen vermittelte und der jugoslawische Staat damals stark genug war, allen Minderheiten Bürgerrechte zu garantieren.

DN:Genau. Er versuchte auch an die Arbeiterklasse Jugoslawiens zu appellieren, was ein ganz entscheidender Faktor war. Das Streben nach Einheit entstammte der jugoslawischen Arbeiterklasse. Eine Grundaussage der sozialistischen Bewegung auf dem Balkan, die in das neunzehnte Jahrhundert zurückreicht, lautete, daß die Einheit des Balkans aus dem Kampf der Massen von unten hervorgehen werde - im Gegensatz zu den kleinlichen dynastischen Konflikten, die zu einem Krieg nach dem anderen und zu endlosen Blutbädern führten. In diesem Sinne lebt in Personen wie Milosevic und Tudjman wieder etwas auf, wogegen die Arbeiterklasse des Balkan zu Beginn dieses Jahrhunderts gekämpft hat und dem sich auch Tito in seinen besten Zeiten entgegenstemmte.

Selbst wenn man davon ausgehen wollte, daß es keine verborgenen geopolitischen und ökonomischen Motive gebe - eine gewagte Annahme -, dann bliebe die Intervention der USA und Europas in die jugoslawische Krise von 1991-92 dennoch in zweierlei Hinsicht völlig verantwortungslos und destruktiv: erstens bestanden sie darauf, daß die inneren Grenzen der Republiken - die nur im Rahmen des Bundesstaates einen Sinn ergaben - als internationale Grenzen anerkannt wurden. Dadurch gerieten die Minderheiten - die Kroaten in Serbien, die Serben in Kroatien - in eine Lage, die sie als bedrohlich empfanden. Zweitens stimmten sie der Auflösung Jugoslawiens zu, ohne Garantien zu verlangen, daß die demokratischen Rechte der Minderheiten innerhalb der Republikgrenzen gewahrt bleiben würden. Die ganze Herangehensweise war doppeldeutig und unlogisch. Auf der einen Seite hatten die USA und Europa kein Interesse am Fortbestand der territorialen Integrität Jugoslawiens. Auf der anderen Seite beharrten sie auf der territorialen Integrität der Republikgrenzen, die nur im Rahmen Gesamtjugoslawiens einen Sinn ergaben. Die Intervention Europas und der USA war der sichere Weg in die Katastrophe.

CL: Das haben Europa und die USA von außen entschieden?

DN: Interessanterweise wandten sich die USA zunächst gegen eine übereilte Auflösung Jugoslawiens. Doch als die deutsche Regierung auf die Unabhängigkeit Kroatiens drängte - wobei sie sich auf ihre eigenen historischen Interessen in Mitteleuropa besann...

CL: Das stinkt nun wirklich zum Himmel! Wenn Deutschland plötzlich für die kroatische Unabhängigkeit eintrat, muß man sich daran erinnern, daß sich Kroatien im Zweiten Weltkrieg auf die Seite der Nazis gestellt hatte...

DN: Und es gab in den vierziger Jahren fürchterliche Massaker. Um aber auf 1991 zurückzukommen: Zahlreiche Balkanexperten warnten davor, daß die Internationalisierung der inneren Grenzen zu Vertreibungen ganzer Volksgruppen und zur Wahrscheinlichkeit eines ethnischen Bürgerkrieges führen werde. Was würde in den USA passieren, wenn sich ein Staat lostrennen würde, und sich Afro-Amerikaner plötzlich in einem "unabhängigen" Land wiederfänden, das sich der Bundesverfassung nicht länger unterwirft? Die Leute würden sich plötzlich die Frage stellen, ob ihre Bürgerrechte noch gewahrt blieben. Man kann sicher sein, daß dies zu einer Situation führen würde, die sich nicht groß von Bosnien unterscheiden würde.

CL: Man muß sich nur an die sechziger Jahre in den USA erinnern und sich vorstellen, was passiert wäre, wenn sich Alabama oder Mississippi für unabhängig erklärt hätten.

DN: Genau. Das hätte Bürgerkrieg in den Staaten bedeutet. Dennoch schlossen sich die USA in der Kroatien-Frage den Deutschen an und unterstützten dann auch die bosnische Unabhängigkeit, was sicherstellte, daß die ganze Situation explodierte. Damit will ich nicht die nationalistische Politik rechtfertigen, die alle Fraktionen vor Ort betrieben. Aber man muß begreifen, daß die Politik der USA und der wichtigsten europäischen Mächte selbst nach ihren eigenen Maßstäben gänzlich verantwortungslos war. Ich weiß, daß die Medien eine ungeheure Verwirrung schaffen, weil sie die Ereignisse und Entwicklungen völlig aus dem historischen Zusammenhang reißen - als ob die Krise in Jugoslawien nur ausgebrochen sei, weil ein böser Mann dies oder jenes getan hat. Man findet immer einen Saddam Hussein oder Milosevic oder Osama bin Laden, um die diversen Militäraktionen der USA zu rechtfertigen.

Anrufer: Ist es wahr, daß wir nicht einfach in diese Länder hineingehen und sie mit Hilfe unserer Notenbank beherrschen können, weil sie das Bankensystem nicht so wie wir respektieren, und daß uns deshalb uns nichts anderes übrig bleibt, als sie zu verteufeln und wie verrückt zu bombardieren?

DN: Ich denke, das spielt da hinein. Vielleicht sollte ich darauf hinweisen, daß man sich Bosnien ansehen sollte, wenn man die wesentlicheren Kriegsziele besser verstehen will. Bosnien ist in ein wirtschaftliches Protektorat des IWF verwandelt worden. Sein Bankensystem und seine Währung stehen unter der Kontrolle ausländischer Verwalter, die vom IWF ernannt worden sind. Natürlich behaupten die USA, daß sie auf dem Balkan keine wirtschaftlichen Interessen hätten; ihr Angriff auf Serbien entspringe ausschließlich selbstlosen und humanitären Motiven. Aber worin bestehen die objektiven Folgen ihres Vorgehens? Vom Standpunkt der historischen Entwicklung dieser Region und ihrer Beziehung zum Weltkapitalismus findet ein grundlegenderer Prozeß statt. All die neuen "unabhängigen" Staaten werden reorganisiert und in das globale System der kapitalistischen Produktion und des kapitalistischen Finanzwesens reintegriert. Ein großer Teil der alten Industrie ist aus der Sicht des Weltkapitalismus ineffektiv und unproduktiv. Er muß vernichtet werden - entweder, indem man ihn durch Kapitalmangel zur Schließung zwingt, oder mit den gewaltsameren Mitteln der Cruise Missiles. Die Unterwerfung weniger entwickelter Wirtschaften unter die fortgeschritteneren ist in der Geschichte des Kapitalismus stets ein sehr brutaler Prozeß gewesen, und so ist es auch heute.

Anrufer: Könnten wir dies als Kolonialisierung durch die Banken bezeichnen?

DN:Ich denke ja.

Anrufer: Was stecken wir denn da genau hinein, und wieviel können wir herausholen?

DN: Wie gesagt, was mit den Bomben getan wird, ist nur eine dramatischere Form dessen, was mit einem großen Teil der russischen Industrie geschah. Die Auswirkungen der kapitalistischen Restauration auf die frühere Sowjetunion sind fürchterlich. Ich kenne kein anderes Land, in dem die Industrieproduktion jemals innerhalb von nur einem Jahrzehnt um 60 bis 70 Prozent gefallen ist. Genau dies geschah aber in der früheren UdSSR.

Anrufer:Ist es nicht erstaunlich, daß die Amerikaner alle ihre Prinzipien vergessen haben und gar nicht merken, daß es uns auch über die Hutschnur ginge, wenn sich Alabama für unabhängig erklären und dann die Bundesregierung dort in einen Bürgerkrieg verwickelt würde, und wenn dann Frankreich hier herüber käme, einmarschieren und sagen würde: Es gefällt uns nicht, wie ihr mit dieser Sache umgeht?

DN: Ja, aber bevor wir der amerikanischen Bevölkerung vorwerfen, daß sie sich dem Krieg nicht entgegenstelle, sollten wir uns die Rolle der Medien ansehen. Die Öffentlichkeit wird mit Propaganda bombardiert. Die amerikanischen Medien präsentieren eine sehr schmale Bandbreite an Meinungen.

Anrufer: Sie meinen also, daß die amerikanische Öffentlichkeit keinen Zugang zu vollständigen und richtigen Informationen hat und deshalb keine wirklich durchdachte Entscheidung treffen kann?

DN: Zumindest halte ich es für außerordentlich schwierig. Ich denke aber auch, daß die Erfahrung immer mehr Menschen zur Suche nach Antworten veranlassen wird. Vielleicht haben Sie einen anderen Eindruck, aber mir kommt es nicht so vor, als gebe es eine große öffentliche Unterstützung für diesen Krieg. Mein Eindruck ist, daß die Leute wie vor den Kopf gestoßen und beunruhigt sind.

CL:Hältst Du die Meinungsumfragen für zutreffend, oder sind sie auch gefärbt?

DN:Die Umfragen widerspiegeln wohl, was die Leute empfinden, wenn ihnen bestimmte Fragen gestellt werden. "Möchten Sie, daß die ethnischen Säuberungen aufhören?" Natürlich. Wenn sie den Hintergrund der Ereignisse kennen würden, dann würden sie eine viel kritischere Haltung einnehmen.

CL: Was meinst Du, David, wohin das alles führen wird? Immerhin gibt es hier eine unwahrscheinlich starke Macht, welche die Medien, das Militär, das Geld und die Gesetze kontrollieren kann.

DN:Die gesamte politische Lage ist von einer großen Krise in der internationalen Arbeiterbewegung geprägt. In dem Maße, wie der Arbeiterklasse nicht nur in diesem Land, sondern international eine unabhängige politische Führung fehlt, hat sie keine Mittel in der Hand, um die Entwicklung hin zu einem neuerlichen Weltkrieg aufzuhalten. Das spürt man auf Schritt und Tritt. Wenn Leute wie Senator McCain sagen: "Für den Sieg muß alles unternommen werden", so muß man fragen: Was meint er damit? Wie viele Tausend Menschenleben sind sie bereit in Jugoslawien zu zerstören, wie viele Amerikaner sind sie zu opfern bereit, welche Waffen sind sie bereit einzusetzen? Und wenn an einem bestimmten Punkt die Russen mit hineingezogen werden, weil sie das Ganze als Bedrohung ihrer nationalen Interessen empfinden, dann könnten wir sehr rasch am Rande des dritten Weltkriegs stehen.

CL:Was uns vermutlich recht gelegen käme, weil unsere Militärindustrie und der Aktienmarkt...

DN:Laß‘ uns unterscheiden zwischen der Bevölkerung und denjenigen, die die Politik bestimmen.

CL: Du sprichst von Führungspersönlichkeiten, wir hatten einmal einen Führer, der hieß Martin Luther King Jr., und ein anderer hieß John Kennedy, mit denen sind sie leicht fertig geworden. Wenn man Führer hat, dann nicht unbedingt für sehr lange...

DN:Ich würde John Kennedy nicht mit Martin Luther King vergleichen. Was den historischen Ruf John F. Kennedys angeht, so hat er Vietnam zu verantworten. Er war ein Führer des amerikanischen Imperialismus.

CL:Er muß auch etwas Gutes getan haben, weshalb hätten sie ihn sonst einen Kopf kürzer gemacht?

DN:Rückblickend denke ich, daß der Mord an Kennedy - ebenso wie die Krise in den USA während des vergangenen Jahres - Ausdruck eines extrem scharfen politischen und gesellschaftlichen Konflikts war. Ich bin natürlich ein Gegner Clintons, halte aber dennoch die Ereignisse des letzten Jahres für eine rechtsgerichtete Verschwörung, um ihn unter Verstoß gegen die Verfassung aus dem Amt zu beseitigen, und zwar hinter dem Rücken der amerikanischen Bevölkerung.

CL:Clinton aus dem Amt zu beseitigen?

DN:Ja.

CL:Und Du bist ein Gegner Clintons?

DN:Ja, aber von links, nicht von rechts. Es wäre mir ganz recht, wenn Clinton durch eine Bewegung der amerikanischen Arbeiterklasse gegen diesen Krieg abgesetzt würde. Ich halte es nicht für richtig, dies korrupten Medien zu überlassen, die Sexskandale ausnutzen und die Leute nur verwirren, aber nichts zu ihrer politischen Bildung beitragen.

CL:Sie unterhalten uns und lenken uns ab.

DN:Genau darum geht es. Womit befaßten sich die Medien, während dieser Krieg vorbereitet wurde? Wie wurden die Leute politisch auf diese Ereignisse vorbereitet.

CL:Glaubst Du, daß es Teams gibt, die diese Ablenkung der amerikanischen Öffentlichkeit planen? Wie die Sache mit Monica?

DN: Ich glaube eigentlich nicht an Verschwörungstheorien. Ich denke, daß das politische Leben in diesem Land von seinem ganzen Charakter her einer bestimmten Logik folgt. Soziale Fragen und Klassenfragen werden unterdrückt. Die öffentliche Debatte in Amerika besteht zu einem guten Teil darin, den wirklichen Fragen auszuweichen. Wann sieht man schon Hinweise auf die Lage der Arbeiterklasse, auf die Spaltung der Gesellschaft, auf die unwahrscheinliche Polarisierung des Reichtums - die Tatsache, daß zwei Prozent der Bevölkerung über 40 bis 50 Prozent des Vermögens in diesem Land verfügen? Diese Fragen werden nicht offen angesprochen. Das führt dazu, daß unsere politischen Kämpfe in einer weitgehend unverständlichen Weise organisiert werden.

CL:Wie soll sich die Arbeiterklasse in den verschiedenen Teilen der Welt zusammenschließen? Wie stellst Du Dir das vor?

DN:Das einzige vernünftige und tragfähige Programm heute, in der Periode der globalisierten Produktion, ist der Aufbau einer vereinten politischen Bewegung der internationalen Arbeiterklasse.

CL: Meinst Du, daß Krieg je eine Lösung sein kann?

DN: Imperialistischer Krieg, nein. Ein weiterer Weltkrieg ist eine große Gefahr, gegen welche die Arbeiterklasse kämpfen muß. Viel von dem, was wir heute erleben, erinnert unheimlich an die Umstände, die den großen Weltkriegen des zwanzigsten Jahrhunderts vorangingen.

CL: Als ich in den sechziger Jahren in Jugoslawien war, bildete es das wahrscheinlich beste Beispiel dafür, wie Arbeiter ihr Land in die eigenen Hände nehmen. Man war dort ungeheuer stolz darauf, daß die Arbeiter die Fabriken besaßen. Das ist zerstört worden. Für mich war Jugoslawien eine führende Kraft in dieser Hinsicht. Und nun ist es zerstört.

DN:Wir könnten nun alle Widersprüche Jugoslawiens durchgehen, aber ich halte Deine allgemeine Aussage für richtig. Es gibt eine Alternative. Die Vorstellung, daß ethnische Kriege und Weltkriege unvermeidlich seien, ist demoralisiert und falsch. Was geschehen ist, war eine Folge der ökonomischen Entwicklung, der Globalisierung des Weltkapitalismus auf der Grundlage rücksichtsloser Marktprinzipien. Das ist es, was Menschen auf der ganzen Welt in fürchterliche Not bringt. Die Ereignisse in Jugoslawien werden als schreckliches Beispiel sinnlosen Tötens hervorgehoben. Aber Szenen wie in Jugoslawien - Bruderkriege, Vertreibung - findet man überall auf der Welt. Kein Jahrzehnt dieses Jahrhunderts - mit Ausnahme vielleicht der vierziger Jahre - erlebte ein derart massives Anwachsen der Flüchtlingsbevölkerung. Die Wirtschaft ganzer Kontinente wird in Schutt und Asche gelegt. Ein großer Teil Afrikas befindet sich im Griff grauenhafter Epidemien. Der Preisverfall hat mehr Menschen auf der Welt das Leben gekostet, als selbst die Bürgerkriege. Das sind die schrecklichen Realitäten. Es gibt Länder in Afrika und Asien, wo 20 bis 25 Prozent der männlichen Bevölkerung HIV-positiv sind. Das sind Elendsepidemien, die auf Mangel und Not zurückgehen. Ein großer Teil der Länder Asiens hat seinen sogenannten Reichtum innerhalb der letzten anderthalb Jahre verloren. Diese Tatsachen und Phänomene hängen mit der Entwicklung des transnationalen Kapitalismus zusammen, mit einem Weltmarkt, der von mächtigen Finanzinteressen dominiert wird.

CL:Bitte teile unseren Hörern mit, wie man Deiner Meinung nach bzw. nach Ansicht Deiner Gruppe zum jetzigen Zeitpunkt mit diesen Problemen umgehen sollte. Wenn Ihr das Sagen hättet, was würdet Ihr genau jetzt tun?

DN:Keine Bomben auf den Balkan werfen. Die amerikanische Bevölkerung sollte als erstes die Forderung aufstellen: Hände weg vom Balkan. Das Bombardement muß eingestellt werden, und alle imperialistischen Mächte müssen abziehen.

CL:Einige Leute werden nun sagen, Du läßt sie sich eben einfach gegenseitig abschlachten.

DN:Zumindest müssen sie das demokratische Recht haben, ihre Probleme ohne Einmischung von außen zu lösen, ohne äußere Mächte, die gegenwärtig ihre großen Schwierigkeiten ausnutzen - deren Politik zu diesen Schwierigkeiten geführt hat, und die sie jetzt ausnutzen.

CL:Das erste, wofür Du eintreten würdest, wäre also: Nichts wie raus, und laßt sie in Ruhe?

DN:Das wäre das Allermindeste. Wenn ich zu einer Lösung ihrer Probleme beitragen könnte, dann würde ich diese Lösung durch die Vereinigung der Arbeiterklasse auf dem Balkan anstreben - man muß einen Weg finden, die Einheit wiederherzustellen, die durch den IWF und die verschiedenen nationalistischen Cliquen zerstört worden ist. Der kroatische Arbeiter, der serbische Arbeiter, der albanische Arbeiter - sie haben alle dieselben Probleme. Aus der vergangenen Geschichte kann man sicherlich viel lernen, um aufzuzeigen, welche Vorteile ein freiwilliger Zusammenschluß der verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf demokratischer Grundlage zu einem vereinten Ganzen hätte. Dieser Weg würde zu einer fortschrittlicheren Lösung führen als der Krieg, der die Balkan-Halbinsel lediglich in Armut und Elend stürzt.

Anrufer:Ich möchte Bill Clinton anrufen und ihm die Meinung stecken. Dieser Krieg macht mich wirklich wütend. Ich frage mich, was das Beste wäre. Hast Du seine Nummer?

DN:Laßt die Balkanvölker in Ruhe. Hört auf sie zu bombardieren!

CL:Ich möchte etwas aus Eurer Web Site vorlesen: "Welche ‚Unabhängigkeit‘ könnte der Kosovo haben? Er wäre von der ersten Stunde an nichts weiter als ein ohnmächtiges Protektorat des amerikanischen und europäischen Imperialismus. Und welcher ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Fortschritt wäre in diesem verarmten Zwerg- und Binnenstaat schon möglich? Die Rohmaterialien innerhalb seiner Grenzen - wie Kohle, Zink, Mangan, Kupfer und Bauxit - würden rasch in den Besitz großer transnationaler Konglomerate übergehen."

DN:Damit stimme ich überein. Ich bin froh, das geschrieben zu haben. Wir wissen, daß die Europäer eine wirtschaftliche Einheit anstreben, und die USA haben seit jeher den Vorteil ihrer Existenz als Kontinent. Wie soll also den Interessen der Balkanvölker durch ein Dutzend Zwergstaaten gedient sein?

CL:Ich fand es sehr interessant, daß Ron Browns Flugzeug ausgerechnet dann in Jugoslawien landete, als es in einigen Balkanprovinzen bereits Krieg gab, und da fliegt Ron Brown mit 34 Geschäftsleuten ein. Was zum Teufel wollten sie dort, wenn nicht nach Mitteln und Wegen Ausschau halten, um das Land zu zersplittern und für ihre Interessen auszuplündern?

DN:Mit Sicherheit nicht den Menschen Frieden und Wohlgefallen bringen.

CL:Wenn mit diesem Flugzeug Leute gelandet wären, die Konfliktlösung lehren, dann wäre das viel aufschlußreicher gewesen...

DN:Vielleicht hast Du im Wall Street Journal von gestern gesehen, daß Bechtel einen sehr umfangreichen Vertrag mit Kroatien unterzeichnet hat. Es gibt viele Konzerne, die sich auf der Grundlage dieses Krieges bereichern werden. Das ist eine Tatsache.

CL:Es geht weit über die Verteidigungsindustrie hinaus, die an der Ersetzung aller Waffen verdienen wird.

DN:Offenbar kostet dieser Krieg eine Milliarde Dollar pro Monat. Im Grunde wird er von der arbeitenden Bevölkerung Amerikas bezahlt. Das nenne ich einen Mißbrauch der Mittel der Bevölkerung.

CL:Und dies in einer Zeit, in der wir die Sozialhilfe kürzen und alle möglichen Sozialleistungen zusammenstreichen, und wir uns keine ordentliche Gesundheitsversorgung für unsere eigene Bevölkerung leisten könne, weil wir kein Geld haben.

DN:Jede Cruise Missile kostet wahrscheinlich mehr, als das Jahresbudget vieler öffentlicher Schulen in diesem Land.

CL: Worauf sind wir noch nicht eingegangen?

DN: Dieser Krieg ist ein bedeutender Wendepunkt in der Weltpolitik. Er bedeutet ein Wiederaufleben des Imperialismus in seinen gewalttätigsten Formen. Dieser Krieg scheint breite Massen der Bevölkerung überrascht zu haben, aber ich hoffe, daß er zu einem Überdenken politischer Perspektiven und zu einer Wiedergeburt des politischen Denkens führt. Die große Frage ist meines Erachtens, daß wir eine Alternative zu den Demokraten und den Republikanern brauchen. Ich sollte noch darauf hinweisen, daß das World Socialist Web Site in den USA mit der Socialist Equality Party zusammenhängt, und daß es uns um den Aufbau einer unabhängigen politischen Partei der Arbeiterklasse als Teil einer internationalen Bewegung der Arbeiterklasse geht. Unsere Bewegung ist keine nationale, sondern eine internationale Bewegung.

CL:Ich möchte an dieser Stelle bemerken, daß angesichts der Kontrolle über die Medien, und da die Meinungsumfragen von den Medien für die Medien gemacht werden, wir am Ende nicht wirklich wissen, wie die amerikanische Bevölkerung zu diesem Krieg steht. Wenn man mit seinen Freunden und Nachbarn spricht, so stößt man auf sehr wenig Unterstützung für diesen Krieg, und doch können wir gegenwärtig nichts dagegen tun.

DN: In einer Hinsicht sind wir sehr optimistisch. Seit das World Socialist Web Site vor wenig mehr als einem Jahr gegründet wurde, fand es eine umwerfende Resonanz. Wir haben täglich tausende Leser. Unsere Leserschaft ist sehr anspruchsvoll. Die Zuschriften, die uns erreichen, werden immer besser. Das Internet hat große Möglichkeiten für demokratische Auseinandersetzungen und Diskussionen geschaffen und erzeugt eine größere Öffentlichkeit. Wir sind sehr zuversichtlich, daß dies zur Wiedergeburt einer wirklichen, internationalen sozialistischen Bewegung führen wird, denn das ist es, was die Welt dringend braucht.

CL:Danke für das Gespräch.

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