Am 6. September starb der japanische Filmemacher Akira Kurosawa im Alter von 88 Jahren in seinem Heim in Tokio. Zwischen 1943 und 1993 hatte er 28 Filme gedreht, und er zählt zu jener Generation europäischer und asiatischer Regisseure, deren Werk in den fünfziger und sechziger Jahren die internationale Filmkunst prägte. Dabei fallen einem Namen ein wie Federico Fellini, Ingmar Bergman, Michelangelo Antonioni, Satyijat Ray, Luis Buñuel, Luchino Visconti, Robert Bresson und Roberto Rossellini - alles Männer, die heute nicht mehr arbeiten oder bereits gestorben sind.
Auf dem Höhepunkt seines Schaffens legte Kurosawa eine ungewöhnliche visuelle und intellektuelle Lebendigkeit an den Tag. Was immer seine Schwächen waren - und es gab Momente, in denen seine Emotionen die Oberhand über seine Konzepte gewannen - so spürt man doch immer, daß Kurosawa keinem Problem und keinem Widerspruch aus dem Weg ging. Ob seine Filme in mittelalterlichen Wäldern oder in modernen Großstadtschluchten spielen, immer zeigen sie gewaltige, fast übermenschliche Konflikte. Er schuf, wie es ein Kritiker ausdrückte, "dichte fiktive Welten", in denen sich seine Faszination für die menschliche Natur und die Probleme der Gesellschaft frei ausleben konnte.
Kurosawa wurde 1910 in Tokio als jüngstes von acht Kindern in eine Familie hinein geboren, die im Rang der Samurai stand. Sein Vater war Instruktor an einer Militärschule. Der zukünftige Regisseur weigerte sich, eine militärische Laufbahn einzuschlagen, und zeigte statt dessen schon früh Interesse an der Malerei. Als Teenager besuchte er eine private Kunstschule. Seinen Biographen zufolge faszinierte ihn ganz besonders die russische Literatur. Später sollte er Werke von Dostojewski (Der Idiot) und Gorki (Nachtasyl) für den Film bearbeiten, und eine Geschichte von Tolstoi (Der Tod des Iwan Iljitsch) hatte offensichtlich Einfluß auf einen weiteren seiner Filme (Ikiru). Über Dostojewski sagte er einmal: "Ich kenne niemanden, der so viel Mitleid aufbrachte wie er... Normale Leute verschließen die Augen vor einer Tragödie; er aber schaut gerade hin." Shakespeares Stücke hatten ebenfalls Einfluß auf ihn und lieferten ihm Stoff für einige seiner Werke.
Weil er von der Malerei nicht leben konnte, nahm Kurosawa 1936 eine Stellung als Regieassistent bei einer führenden japanischen Filmgesellschaft an. Nach sieben Jahren als Assistent führte er 1943 in seinem ersten Film, Sanshiro Sugata, Regie. Darin geht es um einen jugendlichen Judo-Champion und seine Suche nach geistiger Erleuchtung.
Engel der Verlorenen (1948), ein weiteres Werk, das von Dostojewski beeinflußt war, wird im allgemeinen als Kurosawas erster richtiger Film angesehen. Man könnte sagen, daß dieser Film, wie auch Streunender Hund (1949) zur "neo-realistischen" Phase des Regisseurs gehört. Im letzteren Film wird einem frischgebackenen Polizisten (dargestellt von dem jungen Toshiro Mifune) in einem überfüllten Bus sein Revolver gestohlen. Als die Waffe bei mehreren kriminellen Delikten zum Einsatz kommt und jemand damit ermordet wird, fühlt er sich verantwortlich und verfolgt den Schuldigen durch die Hinterhöfe einer japanischen Stadt. Der junge Verbrecher ist ein Mann seiner Zeit, seine Kriegserlebnisse haben einen "verrückten Hund" aus jenem "streunenden Hund" gemacht, auf den der Titel anspielt. Die eindrucksvolle Schlußsequenz zeigt einen Zweikampf in einem Schlammfeld. Als es dem Polizisten schließlich gelingt, den jungen Mann in Handschellen zu legen, heult dieser wie ein verwundetes Tier; - ein aufwühlender Moment.
Rashomon - das Lustwäldchen (1950) war der Film, der Kurosawa internationale Anerkennung eintrug, als er beim Filmfestival von Venedig 1951 den Goldenen Löwen und 1952 den Akademiepreis für den besten ausländischen Film gewann. Neben Die sieben Samurai (1954) ist er heute noch Kurosawas bekanntester Film. Rashomon erzählt ein und dieselbe Geschichte - in vier verschiedenen Versionen: Ein Holzfäller beobachtet, wie ein Bandit in den Wäldern einen Samurai und dessen Braut überfällt. Die Vorstellung, daß es "die einzig wahre Version" nicht geben kann, ist sicherlich ein Thema, das in vielen Nachkriegsfilmen immer wieder auftaucht, und das ist kein Wunder.
Ikiru - Einmal wirklich leben, 1952 gedreht, ist einer von Kurosawas bemerkenswertesten Filmen. Er erzählt die Geschichte eines Regierungsbeamten, der entdeckt, daß er an Bauchkrebs leidet und nur noch wenige Monate zu leben hat. Wie der Erzähler sagt: "Man könnte schwerlich behaupten, daß er noch richtig lebt." Seine Arbeit ist nervtötend und unwichtig, sein Sohn gedankenlos und ohne Gefühle. Zuerst wendet er sich dem Alkohol und der Prostitution zu, um das Leben zu spüren oder wenigstens seine letzte Tage noch mit Inhalt zu füllen. Aber dadurch fühlt er sich nur noch schlechter. Darauf versucht er, zusammen mit einer jungen Frau seine Jugend noch einmal zu durchleben. Auch das führt zu nichts. Am Ende entschließt er sich, den Rest seines Lebens in den Dienst anderer Menschen zu stellen, und kämpft für die Umwandlung eines sumpfigen Grundstücks in einen Kinderspielplatz.
Ikiru war der erste jener Filme, die ein Kommentator "das halbe Dutzend zwischen 1952 und 1963 entstandener Meisterwerke" nannte. Diese Jahre waren ohne Frage Kurosawas glücklichste Periode. Außer dem Film Die Sieben Samurai - in dem eine Gruppe von Kämpfern ein Dorf gegen Banditen verteidigt - schuf er in dieser Zeit Ein Leben in Furcht (1955) - die Geschichte eines Mannes, der durch seine Angst vor einem Atomkrieg wahnsinnig wird -; seine fesselnde Version von Macbeth, Der Blutthron (1957), die im mittelalterlichen Japan spielt und, wie es heißt, T. S. Eliots Lieblingsfilm war; seine Version von Gorkis Nachtasyl (1957); ein weiteres eindrucksvolles Stück aus Japans Feudalzeit, Die verborgene Festung (1958); seine Darstellung der Korruption in der kapitalistischen Welt, Die Schlechten schlafen gut (1960) - offensichtlich eine Abwandlung von Hamlet; Yojimbo - der Leibwächter (1961), das sich entfernt auf Dashiell Hammetts Rote Ernte stützt, - es handelt von einem Samurai-Kämpfer, der in einer Stadt Arbeit sucht, in der sich zwei Fraktionen bekämpfen; dann die Fortsetzung davon: Sanjuro (1961). 1963 drehte Kurosawa Zwischen Himmel und Hölle, einen Film über eine mißglückte Entführung, der sich auf eine amerikanische Kriminalgeschichte stützt.
In der Periode des Wiederaufbaus nach dem Krieg war Kurosawa in seinem Element; mit seinem Glauben an die menschlichen Fähigkeiten, an dem er allem Anschein zum Trotz hartnäckig festhielt - und mit Hilfe der klassischen Literatur, die für ihn Mittel zur Erkenntnis der Realität war - fand er Anklang bei weiten Kreisen in Japan und darüber hinaus, und es gelang ihm, sie zu inspirieren. Als Japan jedoch erneut aufstieg und seine Bedeutung in der Welt wuchs, schuf dies vielleicht Probleme, die über Kurosawas Wirkungsfeld hinausgingen? Oder war es eher so, daß sich ein großer Teil seiner Zuhörer durch seine gefühlsbetonte Haltung und seinen Humanismus nicht länger angesprochen fühlten? Jedenfalls galt Kurosawa plötzlich als veraltet, als in den sechziger Jahren eine neue Generation von Filmschaffenden auftauchte. Mit Dodes'ka-Den - Menschen im Abseits (1970) schien er sich in einer Sackgasse zu befinden; es war ein groteskes Werk, das kein Publikum fand. Im Dezember 1971 unternahm Kurosawa einen Selbstmordversuch.
Er erlebte einen neuen Aufschwung mit dem Film Uzala der Kirgise (1975), der in der Sowjetunion gedreht wurde, und mit seinen zwei Epen, Kagemusha - der Schatten des Kriegers (1980) und Ran (Chaos) (1985), einer Abwandlung von König Lear. Bis in seine achtziger Jahre drehte er noch Filme, wie Rhapsodie im August (1991), eine Verarbeitung des Atombombenabwurfs von Nagasaki.
Man kann in Kurosawas Filmen europäische und amerikanische Einflüsse - von Eisenstein bis John Ford - ausmachen. Er wurde sowohl gerühmt, als auch geschmäht, weil er der "westlichste" der großen japanischen Regisseure war. Umgekehrt hat auch Kurosawa nicht wenige europäische und amerikanische Filmemacher und Trends inspiriert, darunter den sogenannten "Spaghetti-Western". So stützt sich Sergio Leones Film Für eine Handvoll Dollar (1964), einer seiner berühmten Filme mit Clint Eastwood, ganz direkt auf Yojimbo - der Leibwächter. Eine Besprechung wies im Vergleich amerikanischer Western mit ihren japanischen und italienischen Gegenstücken darauf hin, daß Italien und Japan im zweiten Weltkrieg beide besiegte Länder waren, und folgerichtig hätten ihre Filmhelden "das Vertrauen in die Geschichte als den normalen Ablauf menschlichen Handelns verloren. Was Kurosawa und Leone gemeinsam haben, ist ein sentimentaler Nihilismus, dem Überleben wichtiger ist als Ehre und Rache wichtiger als Moral."
Es ist keine Beleidigung, festzustellen, daß Kurosawas allgemeine Stilrichtung das Melodrama war. Im Gegenteil, wie ein anderer Kommentator sehr richtig bemerkte, "hatte der Regisseur eine wundervolle Gabe, die melodramatische Stimmung zu adeln und so Situationen zu retten, in denen jeder andere an den Klippen der Lächerlichkeit zerschellt wäre." Kurosawa war ein ernsthafter Künstler, ein großer Künstler. Jeder Mann und jede Frau, die das menschliche Leben studieren wollen, sollte sich mit seinen wichtigsten Filmen vertraut machen.