"Wie jede menschliche Hervorbringung wird die Technik niemals unfehlbar sein". Mit diesen Worten versuchte Bundespräsident Herzog auf der zentralen Trauerveranstaltung in Celle am 21. Juni, von den wahren Verantwortlichen für die schwerste Zugkatastrophe Deutschlands vor vier Wochen abzulenken. In Wirklichkeit sind die Toten und Verletzten Opfer des Profits geworden, der bei der deutschen Eisenbahn seit ihrer Privatisierung Ende 1994 an erster Stelle steht.
100 Menschen, darunter viele Kinder aus Bayern auf dem Weg in einen Pfingstferienurlaub, hatten auf grausige Weise ihr Leben verloren, als am 3. Juni um 10.59 Uhr der Hochgeschwindigkeitszug ICE 884 München-Hamburg bei einem Tempo von über 200 Stundenkilometern kurz vor dem Bahnhof Eschede (Niedersachsen) entgleiste. 88 Verletzte, unter ihnen viele Schwerstverletzte, liegen teilweise heute noch in den Krankenhäusern.
Als Ursache des Unglücks haben inzwischen die Untersuchungen der zuständigen Behörde, des Eisenbahnbundesamts, zweifelsfrei festgestellt, daß ein Radreifen des ersten Mittelwaggons von innen gebrochen war, sich sechs Kilometer vor der Unfallstelle vom Rad gelöst und an einer Weiche den Zug schließlich zum Entgleisen gebracht hatte. Dadurch krachte ein Waggon gegen den Pfeiler einer Brücke, diese stürzte ein und begrub einen Teil der Waggons unter sich.
Der Bundesbahnvorstand zeigte sich erschüttert und ließ erklären, ein solcher Radreifenriß sei bisher noch nie vorgekommen, erst am Tag vor dem Unglück sei der Zug gewartet worden, man habe ein solches Unglück nicht voraussehen können. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache.
Die Entwicklung des deutschen Hochgeschwindigkeitszugs fand unter Bedingungen einer Aufholjagd gegenüber der französischen und japanischen Konkurrenz statt. Dabei waren von Anfang an die Sicherheitsprobleme der Radsätze bekannt.
1988 haben Belastungstests des Fraunhofer Instituts für Physik in Darmstadt ergeben, daß gummigefederte Räder zu Rissen und Brüchen neigen. Bundesbahn-Experten hatten an diesen Tests teilgenommen, die Gefahren waren dem Bundesbahnvorstand und dem Bundesverkehrsministerium somit bekannt.
1991 wurde deshalb die erste ICE-Reihe mit besser belastbaren Monobloc-, also Vollstahlrädern ausgerüstet. Das aber führte zu starken Schwingungen und Rattern während der Fahrt, weil die alten Gleisanlagen, die die ICE-Zügen mitbenutzten, nicht für die schweren Züge ausgelegt waren. Doch um keine Zeit gegenüber der Konkurrenz zu verlieren und Kosten zu sparen, verzichtete der Bahnvorstand darauf, den ICE-Verkehr vollständig auf eigene neugebaute Trassen zu verlegen und die Züge mit einer speziellen Federung auszurüsten, wie dies in anderen Ländern, die Hochgeschwindigkeitszüge betreiben, der Fall ist.
Ab 1992 griff er stattdessen auf die gummigefederten Radsätze zurück, vor denen das Fraunhofer Institut gewarnt hatte - "aus Komfortgründen", wie Bahnsprecher es heute rechtfertigen. Warnungen vor Radreifenbrüchen begegnete der Bahnvorstand regelmäßig mit Verweis auf die Ultraschalluntersuchungen, mit denen man eine Materialermüdung rechtzeitig feststellen könne. Warnungen aus der Belegschaft wurden mit der Behauptung zurückgewiesen, die Radsätze hätten eine Überlebensquote von 99,9 Prozent.
Seit 1994 stellte jedoch der Bahnvorstand die Ultraschalluntersuchungen ein. Nur neue Radsätze wurden noch überprüft, nicht aber die von bereits laufenden Zügen. Begründet wurde dies mit "Problemen mit dem Dreck an den Rädern", die genaue Messungen unmöglich machen würden. Wartungsmitarbeiter bestätigten, daß die Überprüfung der Räder nur noch durch "Taschenlampe und Augenschein" und "Abtasten" stattfand. Eine jetzt erstellte Studie des Technischen Überwachungsdienst (TÜV) stuft die regelmäßigen Inspektionen als "verbesserungswürdig" ein, wird aber bisher unter Verschluß gehalten.
1995 reichte der Maschinenbaumeister Gottfried Birkl einen Vorschlag zur elektronischen Radreifenüberwachung ein, um wenigstens während der Fahrt eine Verdrehung des Radreifens feststellen und rechtzeitig eine Notbremsung einleiten zu können. Der Bahnvorstand lehnte es aus Kostengründen ab. Das Ingenieur-Magazin VDI-Nachrichten schrieb kürzlich, Systeme, die im Lauf Radsätze kontrollieren können, seien inzwischen längst "Stand der Technik". Der verunglückte ICE-Zug hatte dagegen nur ein elektronisches Meldesystem über verstopfte Toiletten und fehlendes Klopapier, nicht aber über die sensibelste Stelle des Zuges, die Schnittstelle Rad-Schiene. Das beschädigte Rad konnte noch fast sechs Kilometer unbemerkt mitgeschleppt werden, bevor es das Unglück herbeiführte.
Seit Mitte 1997 lagen der Bahn Prüfberichte der Thyssen-Tochtergesellschaft für Meßtechnik und Qualität in Kassel vor. In diesen wurden erneut erhebliche Qulitätsmängel an fabrikneuen und an bereits in Einsatz gefahrenen Radsätzen des gummigefederten Typs registriert. Der für Technik im DB-Vorstand verantwortliche Roland Heinisch sagte dazu im Verkehrsausschuß des Bundestags, der Vorstand habe diese Prüfberichte nicht angefordert.
Im selben Jahr 1997 barst ein Radreifen der Stadtbahn in Hannover. Obwohl dieses Rad dem Rad des jetzt verunglückten ICEs gleicht, nahm dies der Bahnvorstand nicht zum Anlaß für verstärkte Sicherheitsvorkehrungen.
Der Hamburger Rechtsanwalt Rosenkranz hat inzwischen Anzeige gegen den früheren Bundesbahnchef Heinz Dürr sowie den jetzigen Vorstandschef Johannes Ludewig erstattet. Sie hätten das bekannte Risiko mit den Radreifen in Kauf genommen, um ihr "prestigeträchtiges Großprojekt" ICE zu retten. Er habe außerdem Insiderinformationen, so Rosenkranz, daß auf Güterbahnhöfen fast jeder hundertste Waggon Schäden an den Radkränzen aufweise.
Das Bahnunglück von Eschede wirft ein grelles Schlaglicht auf die Privatisierung der Bundesbahn, die die Bundesregierung nach der Wiedervereinigung 1990 und dem Zusammenschluß der westdeutschen Bundesbahn und ostdeutschen Reichsbahn zielstrebig verfolgt hat und die am 1. Januar 1995 in Kraft trat.
In krimineller Weise wurde Leben und Gesundheit von Bahnarbeitern und Fahrgästen dem Profitstreben geopfert. Die jüngsten Bilanzzahlen der Deutschen Bahn AG beweisen: Die einzigen Nutznießer der Privatisierung waren die Konzernleitung und einige Großaktionäre - während sie den Bahnarbeitern einen massiven Arbeitsplatzabbau und Arbeitshetze, den Fahrgästen ständig steigende Preise und sinkende Sicherheitsstandards bescherte. Während die Anzahl der Beschäftigten von 1994 bis 1996 um fast 50.000 von 336.000 auf 288.000 gesunken ist, stieg der Gewinn vor Steuer von 491 Mio auf 721 Mio DM, eine Steigerung um 46 Prozent!
Diese Bereicherung einiger weniger auf Kosten der Arbeiter und Fahrgäste wäre nicht ohne die tatkräftige Hilfe der SPD-Opposition, die der Privatisierung zugestimmt hat, und vor allem der Bahngewerkschaft GDED möglich gewesen. Diese hat sich im Zuge der Privatisierung als Juniorpartner des Vorstandes betätigt und alle Angriffe auf Löhne, Arbeitsbedingungen und Arbeitsplätze mit durchgesetzt.
Selbst nach der Tragödie von Eschede erweisen sich die GDED-Bürokraten als die letzte Bastion der Verteidigung des Vorstandes. Wenige Tage nach dem Unfall, als sich die Hinweise auf einen Radreifenbruch verstärkten, behauptete der GDED-Pressesprecher Hubert Kummer wider besseres Wissen, Ultraschalluntersuchungen würden ein- bis zweimal pro Woche durchgeführt. Und auf die Frage, ob mit der Privatisierung die Sicherheitsstandards gesunken seien, erklärte er allen Ernstes: "Erst die Privatisierung ermöglichte eines der größten Investitionsprogramme in der Geschichte der Bahn - und kam damit auch der Sicherheit zugute." ( Berliner Zeitung 6.Juni 1998)