Deutscher Historikertag in Mainz:

„Verteidigung Leo Trotzkis” stößt auf großes Interesse

„Verteidigung Leo Trotzkis“ lautete der Titel einer Veranstaltung, die der Mehring Verlag auf dem 49. Deutschen Historikertag an der Universität Mainz durchführte. Redner des Abends waren David North, Chefredakteur der World Socialist Web Site (WSWS), sowie Prof. Mario Kessler, Dozent und Forscher am Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam. Sie sprachen über die Angriffe auf Leo Trotzki und über die Ansprüche an eine wissenschaftliche Geschichtsschreibung.

Der alle zwei Jahre stattfindende Historikertag ist mit rund 3.000 Teilnehmern der größte geisteswissenschaftliche Fachkongress Europas. Er richtet sich an Fachhistoriker, an Wissenschaftler verwandter Disziplinen, an Lehrer sowie an alle historisch Interessierten.

Das Thema der Veranstaltung stieß auf großes Interesse. Rund 150 Teilnehmer des Historikertags sowie Besucher, die aus der näheren und weiteren Umgebung angereist waren, füllten den großen Hörsaal in der sogenannten „Muschel“, um die Ausführungen von North und Kessler zu hören.

Die Veranstaltung auf dem Historikertag in Mainz

Wolfgang Weber eröffnete die Veranstaltung mit einem Dank an den Verband der Historiker Deutschlands und den Deutschen Historikertag, die dem Verlag die Möglichkeit gegeben haben, die Auseinandersetzung um die geschichtliche Wahrheit und die Persönlichkeit Leo Trotzki auf dem Historikertag darzustellen.

Weber erinnerte an die revolutionäre Geschichte der Stadt Mainz, wo im Jahre 1793, inspiriert von der Französische Revolution, der erste bürgerlich-demokratische Staat auf deutschem Boden entstand. Die führende Figur der Mainzer Republik, Georg Forster, sei Zeit seines Lebens der Erforschung der Wahrheit verpflichtet gewesen, sagte er.

Als erster sprach dann David North, dessen Buch „Verteidigung Leo Trotzkis“ im Rahmen der Veranstaltung in einer stark erweiterten, zweiten deutschen Auflage vorgestellt wurde. Das Buch ist das Ergebnis einer langjährigen Auseinandersetzung mit der „postsowjetischen Schule der Geschichtsfälschung“, die in der Veröffentlichung dreier Trotzki-Biografien durch die britischen Professoren Ian Thatcher, Geoffrey Swain und Robert Service gipfelte. Diese Biografien geht es nicht darum, das weltweit zu beobachtende neue Interesse an Leo Trotzki zu befriedigen, sondern es im Keim zu ersticken. Zu diesem Zweck bedienen sich die Autoren Verleumdungen, Entstellungen und offener Fälschungen.

North ging einleitend auf die Bedeutung des Umstands ein, dass sein Buches bereits in einer zweiten Auflage erscheint. „‘Verteidigung Leo Trotzkis‘ zog glücklicherweise die Aufmerksamkeit einer ganzen Reihe äußerst gewissenhafter Forscher auf sich“, sagte er. „Professor Bertrand Patenaude verfasste eine Parallelbesprechung meines Buches und der Trotzki-Biografie von Robert Service, die im Juni 2011 in der American Historical Review erschien und große Beachtung fand.“ Dem folgte ein von 14 namhaften Geschichts- und Politwissenschaftler unterzeichneter Brief, der den Suhrkamp aufforderte, das Service-Buch nicht zu veröffentlichen, da sie gegen „elementare Regeln wissenschaftlichen Arbeitens“ verstoße.

Die Unterzeichner des Briefs, zu denen auch Prof. Mario Kessler zählt, und er verträten „oftmals ganz unterschiedliche Einschätzungen, was das Wesen der russischen Revolution, den Aufstand vom Oktober 1917 unter der Führung der Bolschewiki, den Charakter der Sowjetregierung und die politischen Auffassungen und die historische Rolle Trotzkis angeht“, fuhr North fort. Sollten er und Kessler eine Biografie über Leo Trotzki schreiben, würden sie sicher unterschiedliche Werke schreiben.

Doch trotzdem würden beide „von den tatsächlichen historischen Gegebenheiten ausgehen“. Gerade das Verfassen einer Biografie über eine solch komplexe und bedeutende Persönlichkeit wie Leo Trotzki verlange von einem Historiker, die notwendige Zeit aufzubringen, um die Figur und ihre Epoche zu verstehen. Er müsse sich mit der Fülle an Aufzeichnungen über den objektiven Entwicklungsgang auseinandersetzen. Fakten dürften nicht willkürlich oder parteilich herausgegriffen und müssten wahrheitsgetreu wiedergegeben werden.

Die Biografie von Service entspreche keinem einzigen dieser Ansprüche. Vielmehr, so North, habe seine Analyse der Biografie von Robert Service der letzten drei Jahre nachgewiesen, dass sie allen Regeln der Geschichtswissenschaft Hohn spreche. Die Biografie sei eine „Schmähschrift“, wie es im Brief der 14 Historiker völlig zu recht festgehalten sei.

North ging auf mehrere Beispiele von Geschichtsfälschungen ein, die sich auf lediglich vier der über 500 Seiten der Service-Biografie finden. Wie er am Ende zusammenfasste, wird durch die Masse an Geschichtsfälschungen von Service ein „monströses Zerrbild der wirklichen historischen Persönlichkeit“ von Trotzki erzeugt. Dem Leser werde ein „Trotzki“ vorgesetzt, der den Vorgaben eines heutigen Antikommunisten entspreche.

North ging auch auf den Historiker Ulrich Schmid ein, der Services Buch in der Neuen Zürcher Zeitung verteidigt hatte. „Schmid spricht nicht als Historiker, sondern als kleinbürgerlicher Moralprediger“, sagte er. „Seine Position läuft darauf hinaus, dass die faktischen Fehler, die Service nachzuweisen sind, die Verurteilung Trotzkis aus ethischen Gründen nicht entkräften.“

„Kein ernsthafter Historiker verhält sich gleichgültig gegenüber Fragen der Moral“, fuhr North fort. „Aber eine moralische Verurteilung ist nur dann überzeugend, wenn sie sich zwingend aus der Logik der Erzählung selbst ergibt. Ein Historiker sollte sich nicht veranlasst sehen, Dokumente und Ereignisse zu vertuschen oder zu verfälschen, um seinen ‚moralischen‘ Standpunkt zu begründen.“

Der Grund für die Halbwahrheiten und offenen Lügen in Services Biografie bestehe darin, dass er den historischen Dokumenten nicht den Stoff habe entnehmen können, „den er brauchte, um Trotzki als nichtswürdigen, ja sogar kriminellen Politiker darzustellen. Daher konnte er sein Ziel, genau wie in den 1930er-Jahren Stalin, nur mit Fabrikationen, Halbwahrheiten und offenen Lügen erreichen.“

Die WSWS wird North’ Rede Anfang kommender Woche im Wortlaut veröffentlichen.

Prof. Mario Kessler erklärte zu Beginn seines Beitrags seine volle Übereinstimmung mit David Norths Kritik an der Biografie von Robert Service.

Kessler ging auf die Frage ein, warum ein solches Buch dennoch von wichtigen Verlagsanstalten – wie Harvard University Press in den USA, MacMillan in Großbritannien und jetzt auch Suhrkamp in Deutschland – veröffentlicht wurde. Als er das Buch vor drei Jahren in den USA gelesen habe, hätte er nicht gedacht, dass es einmal zu solch einem „Politikum“ werde und dass es zu solch einem Hype um das Buch in der angelsächsischen Welt und jetzt auch in Deutschland komme.

Prof. Mario Kessler während seines Vortrags in Mainz

Robert Service habe mit seiner Biografie die Chance nicht genutzt, etwas über den Protagonisten Leo Trotzki und seine historische Epoche auszusagen, sagte Kessler. Der Grund dafür sei sehr einfach. Services Trotzki sei Teil einer kommunistischen Verschwörung und nicht Teil einer Epoche, in der gesellschaftliche Veränderungen wie der Erste Weltkrieg ein Zeitalter der Barbarei eröffneten und nach einer Lösung der sozialen Frage und der Frage Krieg oder Frieden drängten.

Kessler stellte fest, dass Robert Service, entgegen seiner eigenen Aussage, nicht der erste Nicht-Trotzkist sei, der eine Biografie über Trotzki verfasst habe. Es gebe eine ganze Reihe von Nicht-Trotzkisten, die über Trotzki geschrieben hätten, wie beispielsweise Baruch Knei-Paz.

Seit Anfang der 50er Jahre seien in England und den USA vielbändige Werke erschienen, wie die History of Soviet Russia von E.H.Carr, die Geschichte der KPdSU von Leonard Shapiro und später die Bücher von Walter Laqueur. All diese Autoren haben laut Kessler im Gegensatz zu Robert Service folgendes begriffen: „Eine Revolution des Ausmaßes der Russischen Revolution, die kann man beklagen, die kann man bedauern, die kann man auch verdammen – aber eine solche Revolution hat konkrete gesellschaftliche Ursachen. Und diese Ursachen liegen in der Unfähigkeit und dem Unwillen der bislang Herrschenden, die soziale Frage in irgendeiner humanen Weise zu lösen.“

Als letztes sprach Kessler über die Frage, warum die „intellektuelle Kultur“ heute so niedrig geworden sei, dass Bücher wie das von Robert Service einen kurzzeitigen Erfolg landen könnten. Peter Suhrkamp, der Begründer des Suhrkamp-Verlags und Überlebender des KZ Sachsenhausen hätte ein solches Buch, wie die Biografie von Service, sicher nicht akzeptiert. Er führte das unter anderem auf die reaktionäre Wende unter US-Präsident Ronald Reagan und der britischen Premierministerin Margaret Thatcher zurück, in deren Zeit viele heute aktive Akademiker ausgebildet worden seien.

Nach den Vorträgen beantworteten North und Kessler in einer sehr lebhaften Debatte Beiträge aus dem Publikum. Mehrere Fragen drehten sich um Trotzkis Verhältnis zur Anwendung von Gewalt und zur Demokratie.

North bemerkte, dass sich viele Geschichtsschreiber der Frage der Revolution und der Gewalt als kleinbürgerlicher Moralisten näherten. Viele würden ausrufen: „Warum war Trotzki Revolutionär? Er hätte lieber ein Liberaler sein sollen!“

Diese Sichtweise verkenne völlig die damaligen Realitäten, unter denen die Bolschewiki kämpfen mussten. Russland sei bereits vor dem Bürgerkrieg kein Paradies gewesen. Schon vor 1914, und dann verstärkt durch den Ersten Weltkrieg, sei die russische Gesellschaft stark brutalisiert gewesen. Während der Revolution hätten die Führer der Bolschewistischen Partei sehr genau gewusst, was passiere, wenn sie scheiterten. Die Erfahrung der Pariser Kommune sei damals noch sehr lebendig gewesen, nach deren Niederschlagung 20.000 revolutionäre Arbeiter ermordet wurden.

Aus Sicht von kleinbürgerlichen Demokraten habe das „Verbrechen“ der Bolschewiki darin bestanden, dass sie nicht Revolution spielten, sondern diese ernst nahmen. Hätten sie sich wie Salvador Allende 1973 in Chile verhalten, dann würden diese Leute wahrscheinlich heute von ihnen als „große Männer“ sprechen.

Ähnliche äußerte sich Kessler, der ebenfalls darauf hinwies, dass man die Anwendung von Gewalt durch Trotzki und die Bolschewiki nicht losgelöst vom historischen Kontext sehen dürfe. Das gelte auch für die Abschaffung der Demokratie in Partei und Armee auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs. Man dürfe nicht vergessen, so Kessler, dass aufgrund des Krieges und Bürgerkrieges in Russland katastrophale Bedingungen und Hungersnöte herrschten. Er führte in diesem Zusammenhang ein Zitat von Trotzki an, wonach der „Bürgerkrieg keine Erziehung zur Humanität“ sei.

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