62. Internationale Filmfestspiele Berlin 2012 –Teil 3

Diese Filme sind ein Versprechen, dass es anders sein kann.

Interview mit Rainer Rother zur Retrospektive Die rote Traumfabrik

Dies ist der 3. Teil einer Serie von Artikeln über das Berliner Filmfestival. Die Berlinale fand vom 9. bis 19. Februar 2012 statt. Der erste Teil der Serie erschien am 25. Februar und der zweite Teil am 3. März.

 

Ein Höhepunkt des diesjährigen Festivals war zweifellos die Retrospektive, bei der es um die sowjetisch-deutsche Filmgesellschaft Meschrabpom ging. Meschrabpom produzierte in den Zwanziger und Dreißiger Jahren ungefähr 600 Filme, bevor die Studios in Deutschland und der Sowjetunion von Hitler, bzw. von Stalin geschlossen wurden. Einige der Meschrabpom-Filme, die auf dem Festival gezeigt wurden – darunter Liebeskomödien, Dokumentationen, Science Fiction-Filme und politische Satiren – zeigten die breite Palette der Filmkunst, die nach der russischen Revolution aufblühte.

Der russische Film-Unternehmer Moisej Alejnikow hatte dem Kommissar für Volksbildung Lunatscharski schon eine Zusammenarbeit vorgeschlagen, als er 1922 in Berlin auf den Kommunisten Willi Münzenberg traf. Dieser hatte auf Anregung Lenins 1921 die Internationale Arbeiterhilfe (russisch kurz Meschrabpom genannt) ins Leben gerufen. Viele Menschen in Russland waren nach Bürgerkrieg und Missernten unmittelbar vom Hungertod bedroht. Aus der Begegnung wurde eine Kooperation, dann die AG Meschrabpom-Russ, später Meschrabpom-Film. Zwischen 1926-1931 existierte in Berlin eine von Münzenberg geleitete deutsche Zweigstelle, die Vertriebs- und Produktionsgesellschaft Prometheus-Film. Die damalige deutsch-sowjetische Zusammenarbeit war einzigartig und es ist ein Verdienst, Die rote Traumfabrik, so das Motto der Retrospektive, nach einer langen Zeit des Vergessens einem interessierten Publikum wieder vorzustellen.

Zwei Reporter des WSWS und der gleichheit sprachen mit Rainer Rother, dem Künstlerischen Direktor der Deutschen Kinemathek Berlin und Leiter der Retrospektive.

Rainer Rother Rainer Rother

WSWS: Von den rund 600 Filmen, die Meschrabpom produzierte, sind auf der Retrospektive etwa 40 zu sehen. Viele waren über lange Zeit vergessen. Werfen diese Neuentdeckungen, die sich von den klassischen Revolutionsfilmen wie z.B. Panzerkreuzer Potemkin (1925) unterscheiden, ein neues Licht auf die frühe sowjetische Filmkunst?

Das Erstaunliche ist, dass neben den so genannten Revolutionsfilmen des Studios eine ganze Fülle von Genres vertreten ist. Das Studio versuchte, attraktiv für das russische Publikum zu sein. So schildert der Film Der goldene See (1935)von Wladimir Schnejderow eine Expedition ins Altai-Gebirge. Er hat viele schöne Aufnahmen von der Landschaft und natürlich eine spektakuläre Geschichte.

Viele Beobachtungen der russischen Realität enthalten die Komödien, wie z.B. Das Haus in der Trubnaja-Straße (1928) von Boris Barnet. Dieser Film schickt eine Frau vom Land nach Moskau. Hier kommt sie in eine Gesellschaft, die eben doch oben und unten kennt. Es gibt viele Anspielungen auf die Neue Ökonomische Politik. Dieses Untergründige ist bei den Komödien am interessantesten.

Das Haus in der Trubnaja-Straße Das Haus in der Trubnaja-Straße

Dagegen spielt Der Kuss der Mary Pickford (1927) von Sergej Komarow mit der Faszination, die das Medium Film für das russische Publikum hatte, und mit dem Vorbildcharakter Hollywoods. Die internationalen Stars genossen eine ungebrochene Popularität. Es gibt Eisensteins berühmten Satz: „Wir lieben Ihr Lächeln, Herr Fairbanks.“ Für mich war interessant zu sehen, dass Meschrabpom offensiv damit umging. Sie machten einen Film darüber, was passiert, wenn Mary Pickford nach Moskau kommt.

WSWS: Was kennzeichnete die Firma Meschrabpom-Russ bzw. später Meschrabpom-Film?

Das Einzigartige war, dass das Unternehmen im Kontext der sowjetischen Gesellschaft arbeitete, ohne von den Direktiven unmittelbar abhängig zu sein. Die deutsch-russische Aktiengesellschaft nutzte diese Freiheit. Man war experimentierfreudig, man baute das erste Animationsfilmstudio auf. Den propagandistischen Auftrag versuchten sie vor allem durch dokumentarische Filme, die wir heute Kultur- oder Industriefilme nennen würden, abzuarbeiten. Und da war auch Protasanow, der schon vor der Revolution in Russland aktiv war, mit seinen Filmen Aelita (1924) und Das Fest des heiligen Jürgen (1930). Der eine Film schildert eine Revolution auf dem Mars. Der andere stellt, im Rahmen der damaligen antiklerikalen Kampagne die Kirche als Institution bloß, die mit ihren Heiligen Geschäfte macht.

Das Fest des heiligen Jürgen Das Fest des heiligen Jürgen

In beiden Filmen wird die propagandistische Botschaft auf die Spitze getrieben, gleichzeitig so ironisch und augenzwinkernd vorgetragen, dass sie in den Hintergrund gerät. Man liest vielmehr die Ironie, die Art und Weise wie Figuren miteinander umgehen, wie sie auch durchschaubar machen, dass eine Botschaft mitgeliefert wird. Der Film Der heilige Jürgen ist nicht nur antiklerikal. Die Hauptfigur ist ein Krimineller auf der Flucht, den man zufällig für den heiligen Jürgen hält. Er benutzt seine Position, um mit den Kirchenoberen darüber zu verhandeln, dass auch für ihn etwas bei dem Geschäft abfällt. Dieses subversive Augenzwinkern ist bei Meschrabpom ganz auffällig.

WSWS: Filme mit eindeutiger Botschaft bekommen schnell den negativen Stempel ideologisch gefärbter Tendenzfilme aufgedrückt. Auch die alten Revolutionsfilme, hört man nicht selten, seien formal anspruchsvoll, aber eben doch Propagandafilme. Die frühe sowjetische Propaganda wird dabei mit der plumpen stalinistischen Propaganda der dreißiger Jahre gleichgesetzt. Hat Ihre Forschung dazu beigetragen, dieses Bild zu korrigieren?

Die Revolutionsfilme hatten gerade deshalb international so großen Erfolg, weil sie auch formal interessant waren: die Entdeckung der Montage, die aufregende Art zu fotografieren, die Art und Weise durch Detailaufnahmen die Erzählung zuzuspitzen. Das alles wurde in den zwanziger Jahren von Kritikern wie Siegfried Kracauer, Alfred Kerr, von allen sozusagen, so gesehen. Es war eine vollkommen neue Art und Weise mit dem Film-Bild umzugehen, eine extrem wirkungsmächtige Art und Weise.

Die links-intellektuellen Liberalen lehnten die Botschaft der Filme nicht ab. Die meisten Revolutionsfilme greifen ja eine Situation auf, in der die Revolution noch nicht gesiegt hat. Entweder ist sie durch Interventionstruppen gefährdet, wie bei Pudowkins Sturm über Asien (1929), oder sie hat noch gar nicht angefangen wie bei Panzerkreuzer Potemkin oder ist gerade dabei sich durchzusetzen, wie in Die letzten Tage von St. Petersburg (Pudowkin, 1927). Auch die Konfrontation mit dem eindeutig negativ gezeichneten alten Zarenreich war kein Problem. In den späteren zwanziger Jahren begann sich dies zu verbrauchen. Das Publikum wollte Filme, die wirklich im Jahr 1928 spielen, und nicht Filme, die im Jahr 1928 von 1917 erzählen. Die Exportfilme erschienen immer stärker als Variation des immer gleichen Musters.

Die Schwierigkeit mit diesem einfachen Schema zeigte sich bereits bei Protasanows Sein Mahnruf (1925). Der Film ist bemüht, gegenüber einem ehemaligen Weißen, der nach Russland zurückkehrt, die positive Gegenwart hervorzuheben. Das misslingt oft, gerät zu eindeutiger Schönfärberei. Teilweise gilt dies auch für Pudowkins Der Deserteur. Es ist die Geschichte eines deutschen Arbeiters, der von Hamburg in die Sowjetunion geht und das allmählich als Flucht empfindet. Denn eigentlich sollte er an seinem Platz, nämlich Hamburg für die gute Sache kämpfen und nicht dort, wo die Sache schon gesiegt hat. Das ist 1931/32.

WSWS: In dieser Zeit propagierte die stalinistische Bürokratie nationale Werte zur ideologischen Festigung ihrer Macht. Können Sie noch mehr sagen über die Veränderungen in dieser Zeit?

Die Filme der späten zwanziger Jahre stießen auf Kritik. Es fehle die Linie, die Haltung, es sei zu verspielt, zu liberal. Doch wegen der großen Exporterfolge ließ man das Studio weiterarbeiten. Im Jahr 1928 kam Eisensteins Film Oktober durch Prometheus-Film nach Deutschland. In dem Film wird Trotzki noch erwähnt. In der Phase war das noch möglich. Mit den frühen dreißiger Jahren änderte sich das. Es veränderte auch die Filme.

Barmets Eisgang (1931), unterstützte die Kampagne gegen die Kulaken. Mit unglaublich guter Fotografie, einer der am brillantesten fotografierten Filme in unserem Programm, und einer sehr simplen Story. Siegfried Kracauer bemerkte, dass die Geschichte, im Gegensatz zu den Revolutionsfilmen, auf einer rein individuellen Ebene erzählt wird. Man könne doch nicht gegen die Kulaken sein, so Kracauer, nur weil da eine Figur ist, ein Kulak, der sich schäbig verhält und jemanden umbringt. Diese plötzlich auftauchende Art von Propaganda, die nur noch mit erzählerischen Tricks arbeitet, wurde damals durchschaut. Ebenfalls 1931 entstand Der Weg ins Leben von Nikolai Ekk, der erste Tonfilm. Es geht um Jugendliche, die auf der Straße leben, ein tatsächliches Phänomen der zwanziger Jahre. Sie sollen wieder gesellschaftlich integriert werden. Formal ist der Film wundervoll. Aber Grunde genommen ist es eine ganz vorbildliche Geschichte. Eine Idealfigur, der Lehrer, ermöglicht den Jugendlichen den Weg ins Leben.

Der Weg ins Leben Der Weg ins Leben

Solche Beispiele zeigen, dass die Spielräume enger geworden sind. Es wird viel, viel linearer erzählt, viel mehr mit Vorbildern gearbeitet, die Ambivalenzen und auch das Augenzwinkern sind weg. Das Studio muss sich immer stärker rechtfertigen und 1936 die Produktion einstellen.

WSWS: Die frühen Filme wurden unter enormen Schwierigkeiten produziert: Revolution, Bürgerkrieg, Hungersnöte. Sicher ist dies einerseits der Begeisterung der Filmemacher gegenüber dem jungen Medium zuzuschreiben. Auf der anderen Seite hatten die Bolschewiki die Bedeutung des Films für die Gesellschaft erkannt und bemühten sich unter diesen schwierigen Umständen Filme zu produzieren.

Film war das wirksamste Massenmedium der Zeit. Es gab sehr viele Analphabeten und dieses Medium war allen zugänglich. Das machte seine große Attraktion für die Politik aus. Zugleich war es für Willi Münzenberg das ideale Medium, um im Ausland über die junge Sowjetunion zu informieren. Im Rahmen der Internationalen Arbeiterhilfe, die Sammlungen organisierte, um der Hungersnot in Russland zu begegnen, hatte er bereits Erfahrungen mit dem Einsatz von Dokumentarfilmen gemacht. Interessanterweise waren es Leute wie Münzenberg, die diese Bedeutung erkannten und diese Richtung weiter verfolgten. Die Bedeutung des Films in den zwanziger und dreißiger Jahren kann man überhaupt nicht überschätzen.

WSWS: Deutschland und die frühe Sowjetunion haben sich kulturell gegenseitig beeinflusst. Wir sind bisher davon ausgegangen, dass die Impulse hauptsächlich von der Sowjetunion kamen. Da war die Begeisterung in Deutschland über Eisenstein, über die Revolutionsfilme usw. Gibt es hier neue Erkenntnisse?

Es funktionierte auch umgekehrt. Alejnikow brachte 1923 deutsche Filme nach Russland, die erfolgreich liefen. Und die von Meschrabpom aufgebaute Dokumentarfilmsparte war ganz stark von der deutschen UFA-Kulturfilmabteilung inspiriert, Lehrfilme, Arbeitsschutzfilme und viel Anderes.

WSWS: Sie erwähnten in einem Interview die starke deutsche Zensur. Es gibt noch dieses Klischee-Bild einer Weimarer Republik mit viel Varieté und Kabarett und „alles ist erlaubt“.

Es war nicht alles erlaubt. Panzerkreuzer Potemkin und andere Filme haben eine starke ästhetische Wirkung und beziehen zugleich Stellung. Immer wieder kam es in der Weimarer Republik zu Zensurauseinandersetzungen. Alfred Kerr setzte sich sehr für Panzerkreuzer Potemkin ein. Schließlich kam der Film in einer leicht verkürzten Form ins Kino. Die Zensur betraf auch andere Filme, wie z.B. Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? (Dudow, 1932) Wiederholt forderte die politisch rechts stehende Presse, der Polizeipräsident sollte sich um diesen Film kümmern.

Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt? Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt?

WSWS: Wie verhielt sich im Vergleich dazu die Zensur in der Sowjetunion gegenüber Meschrabpom?

Einschneidende Zensurfälle gab es bei Meschrabpom nicht, weil dieses Studio eine etwas größere Freiheit genoss und geschickt war. Sie suchten Stoffe so aus, dass möglichst kein Zensurfall entstand. Viele Sachen wurden vorgeschlagen, aber nie realisiert. Ab 1933 wurde es in Moskau enger. Man kennt das Schicksal von Aufstand der Fischer, den mochte Stalin überhaupt nicht. Die überlieferte Fassung ist geschnitten worden.

WSWS: Welche Erfahrungen machten deutsche Künstler, die vor Hitler in die Sowjetunion flohen und bei Meschrabpom arbeiteten?

Gustav von Wangenheim drehte Kämpfer (1935) und Erwin Piscator Aufstand der Fischer, (1934/35). Immer auf der Suche nach Autoren, wurden auch Friedrich Wolf und andere angesprochen. Sie spürten in den Jahren vor dem Großen Terror sehr deutlich, dass sie überwacht wurden. Man merkt es dem Film Kämpfer, den wir nicht in die Auswahl nahmen, auch an. Er ist hyper-korrekt, so bemüht nichts Falsches zu sagen, dass er alles überdeutlich sagen muss. Das ist vollkommen unglaubwürdig.

WSWS: Nach der Revolution gab es diese ungeheure Explosion von Kunst in allen möglichen Richtungen. Was machte ihre Frische und Aktualität aus?

Diese Filme sind ein Versprechen, dass es anders sein, anders werden kann, sich die Situation durch eine Revolution vollständig verändert. Das ist der große Impetus, der im liberalen und links-intellektuellen Lager Berlins solchen Enthusiasmus hervorrief. Walter Benjamin sprach in seiner Potemkin-Rezension über: „... das Dynamit der Zehntelsekunde, das uns unsere Welt überhaupt erst wahrnehmbar macht“. Da ist jenes utopische Moment, die Erwartung, dass es vorangeht. Umso deutlicher war die Enttäuschung, als es ungefähr ab 1928/29 merklich nicht weiterging und nur noch die alten Geschichten wiedererzählt wurden.

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