Über die Jahrzehnte ist die jährliche Rede des Präsidenten zur Lage der Nation, die ursprünglich dazu bestimmt war, der amerikanischen Bevölkerung einen Rechenschaftsbericht vorzulegen, zu einem bloßen Ritual verkommen. Der Ablauf der gemeinsamen Sitzung der beiden Kammern des Kongresses, vor denen die Rede gehalten wird, ist in allen Einzelheiten festgelegt. Seit langem ist dieses Ereignis zu einer wohl kalkulierten Zeremonie des Zynismus und des Betrugs geworden.
Die erste Rede Präsident Obamas zur Lage der Nation, die er am Mittwoch hielt, war nicht anders. Sein Hauptziel war es, eine rhetorische Brücke zu schlagen zwischen den Versprechen des Kandidaten Obama auf "Wandel" und "Veränderung" und der Realität seiner Präsidentschaft, in der es unablässig um den Schutz der Privilegierten geht.
Politisch und moralisch fanden beide, die Rede und der Redner, ihren Ausdruck in der Tatsache, dass die Katastrophe in Haiti, die mindestens 200.000 Menschen das Leben gekostet hat, erst nach einer Stunde und fünf Minuten Erwähnung fand. Und dann tauchte sie nur als Gelegenheit auf, sich großzügig selbst zu gratulieren und wieder einmal den "Geist Amerikas" zu beschwören.
Mehr als ein Jahr nach der wirtschaftlichen Katastrophe, die das Leben von Millionen Amerikanern und Hunderten von Millionen Menschen auf der ganzen Welt aus der Bahn geworfen hat, gab es nichts als Klischees. Darunter zählte auch die Standardphrase von den "unverantwortlichen" Bankern, die aber weder genannt, noch jemals zur Rechenschaft gezogen wurden.
Es war, als ob die Riesengewinne der Wall Street und die Katastrophe für die Arbeiter im vergangenen Jahr das Ergebnis eines Unfalls oder kosmischer Kräfte gewesen seien und nicht das Resultat einer bewussten Politik, die einzig und allein den Zweck verfolgte, den persönlichen Reichtum einer Handvoll Multimillionäre und Milliardäre zu schützen. "Eines hat Demokraten und Republikaner vereint", erklärte Obama, "wir alle hassten die Ausgaben zur Bankenrettung."
Unter all diesen Banalitäten und Lügen, waren die Widersprüche in der Rede offensichtlich. Der Präsident, der am Mittwoch zu "Reformen" aufrief, hat seine Regierung mit Insidern aus der Wall Street ausstaffiert.
Endlos waren die Appelle an das "Volk von Amerika" in der Rede dieses Repräsentanten eines politischen Systems, das das Volk von jeder Teilnahme am politischen Leben des Landes und jeder Mitsprache in der Regierungspolitik ausgeschlossen hat.
Die kleinlichen Hilfsmaßnahmen für die "Mittelklasse", die in der Rede erwähnt wurden, waren größtenteils nichts als schöne Worte. Obama und alle Parlamentarier wussten, dass sie wenig Chancen haben, verwirklicht zu werden.
Obama machte keinen Versuch zu erklären, warum seine früheren Pläne - allen voran das Vorhaben, die Gesundheitsversorgung für Millionen Menschen unter dem Deckmantel einer "Reform" zu kürzen - auf massenhaften Widerstand gestoßen sind.
Die Rede war vollgestopft mit Aufforderungen zur Zusammenarbeit beider Parteien. Selbst innerhalb des Rahmens bürgerlicher Politik war Obamas Anbiederung an die extreme Rechte der Republikaner außerordentlich. Weniger als fünfzehn Monate, nachdem die Partei von George Bush in den Wahlen entscheidend geschlagen worden war und die Demokraten und das Weiße Haus über große Mehrheiten in Repräsentantenhaus und im Senat verfügten, wagte Obama es nicht, die republikanische Minderheit anzugreifen, weil sie seine Initiativen blockiert.
Die größte aller Lügen war die Behauptung, dass Obama und die versammelten Kongressabgeordneten und Honoratioren eine Beziehung zu den breiten Massen des amerikanischen Volkes hätten. Hingebungsvoll wiederholte Obama den unvermeidlichen Trick, die Namen von Städten zu nennen - Elkhardt, Indiana; Allentown, Pennsylvania - die durch die Politik etlicher Regierungen einschließlich seiner eigenen in die Krise getrieben wurden. Damit will er demonstrieren, wie stark er sich mit den einfachen Leuten identifiziert.
Die ganze Zeit über saß Vizepräsident Joseph Biden hinter ihm, dessen juwelengeschmückte Armbanduhr aufblitzte, wenn das Kameralicht auf sie fiel. Die Sprecherin des Hauses, Nancy Pelosi trug eines ihrer Designerkostüme und ihre allgegenwärtige Perlenkette zur Schau und präsentierte ihren perfekt gestylten Haarschnitt.
Was Obama an substanzieller Politik vorbrachte, war eine Fortführung und Vertiefung seiner rechten Agenda. Im Namen der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Verbesserungen für die große Mehrheit rief er dazu auf, für drei Jahre die Sozialausgaben einzufrieren, wobei er Kürzungen bei den gigantischen Haushaltsausgaben für Kriege und "innere Sicherheit" ausschloss.
Dies bedeutet Senkung der Ausgaben für die wichtigsten Sozialprogramme - wie Medicare, Medicaid und Renten. Um das auf den Weg zu bringen, kündigte Obama die Einrichtung einer parteiübergreifenden Kommission an, die Vorschläge für Ausgabenkürzungen und die Erhöhung von Konsumsteuern machen soll.
Um zu zeigen, dass er die Botschaft der Wähler in Massachusetts verstanden habe, die den Demokraten in der Nachwahl zum Senat in diesem Monat eine tiefe Niederlage beschert haben, erklärte Obama, dass "2010 unser Hauptfokus die Arbeitsplätze sein müssen." Unmittelbar danach sagte er unter größtem Beifall seiner Zuhörer: "Die amerikanische Wirtschaft ist immer die wichtigste Lokomotive für die Schaffung von Arbeitsplätzen."
Obama erläuterte dann eine Reihe von Steuersenkungen und Vergünstigungen für Unternehmen, die im Zentrum seines sogenannten Programms für Arbeitsplätze stehen. Die Sparkassen sollen 30 Milliarden Dollar erhalten, kleine Unternehmen erhalten Steuergutschriften, wenn sie neue Arbeitskräfte einstellen, die Versteuerung von Gewinnen für kleine Investitionen soll fallen, Steueranreize sollen für Unternehmen geschaffen werden, die in neue Fabrikanlagen und Ausrüstungen investieren.
Die Begeisterung im der Kammer war grenzenlos, als Obama dieser Liste besondere Anreize für die Atomwirtschaft, für Kohle und Biotreibstoffe hinzufügte sowie den Ölgiganten die Freigabe von Ölbohrungen vor der Küste versprach.
Die Begeisterung ließ nach, als er sagte, er wolle Bushs Steuersenkungen für diejenigen nicht verlängern, die mehr als 250.000 Dollar im Jahr verdienen, denn zu den davon Betroffenen gehören wohl alle dort anwesenden Politiker und hohen Beamten.
Fünfzehn Millionen Arbeiter sind arbeitslos - das sind 3,9 Millionen mehr als bei Obamas Amtsantritt -, fast jeder Fünfte ist nur geringfügig beschäftigt, Obdachlosigkeit, Hunger und Armut nehmen rapide zu - aber Obama schlug nicht vor, auch nur einen einzigen Pfennig an Steuergeldern auszugeben, um tatsächlich Arbeiter einzustellen.
Außenpolitisch lobte Obama seine Ausdehnung des Kriegs in Afghanistan, ließ einige Hinweise über Vergeltungsmaßnahmen gegen Washingtons Handelskonkurrenten fallen und drohte Iran und Nordkorea.
Überdeutlich wurde, wie sehr Obama und das gesamte politische Establishment die Intelligenz des amerikanischen Volkes verachten, wenn sie so tun, als könnten die Auswirkungen ihrer Politik und die Realitäten der amerikanischen Gesellschaft durch rhetorische Tricks beseitigt werden.
Noch so viele Lügen und Gerede können die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, dass der Kandidat des "Wandels" in den Augen der amerikanischen Bevölkerung diskreditiert ist. Die Lehre, die daraus gezogen werden muss, ist, dass sich nichts ändern wird, wenn die Masse der arbeitenden Menschen nicht unabhängig in das politische Leben des Landes eingreift und sich auf der Grundlage eines sozialistischen Programms gegen Obama und die beiden Parteien des Großkapitals wendet.