Die Verbreitung von Halbwahrheiten und Fälschungen in den Medien über das iranische Atomprogramm erreichten vergangenes Wochenende ein neues Niveau. Ein Artikel in der New York Times an prominenter Stelle auf der ersten Seite enthüllte reißerisch "eine vertrauliche Analyse" von Inspektoren der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA), die "zu dem Schluss kommen", dass Teheran über ausreichende Informationen verfüge, um eine funktionierende Atombombe zu bauen.
Zwar gab selbst die New York Times zu, dass es sich um "vorläufige" Schlussfolgerungen handle, und dass sie "noch der weiteren Überprüfung bedürfen". Aber dennoch diente der Artikel der Obama-Regierung zum willkommenen Anlass, um in den Fernsehtalkshows am Sonntagmorgen für schärfere Sanktionen gegen den Iran zu werben. Dies lieferte wiederum den rechten Kommentatoren und Abgeordneten die Argumente für ihre Forderung, gegen den Iran aggressiver vorzugehen.
Das alles ist nicht neu. In der Vorbereitung auf die Invasion im Irak 2003 spielte die New York Times eine ganz ähnliche Rolle. Artikel in der Sonntagsausgabe dieser führenden Zeitung, von denen viele offensichtlich direkt von der Bush-Regierung inspiriert waren, lieferten den US-Beamten die Plattform, auf der sie eine Atmosphäre von Angst vor Massenvernichtungswaffen und vor irakischen Verbindungen zu Al-Qaida schürten. Dabei existierte im Irak weder das eine noch das andere.
Wie das irakische Regime damals, steht heute der Iran vor der unmöglichen Aufgabe, zu beweisen, dass er nirgendwo auf seinem großen Territorium eine Atombombe baut. Am 21. September gab die Teheraner Regierung bekannt, dass sie in der Nähe von Ghom eine Urananreicherungsanlage baue. Nur vier Tage später nutzte Obama diese Meldung, um den Druck auf den Iran zu erhöhen. Eine Vereinbarung mit IAEA-Direktor Mohamed ElBaradei, die Anlage am 25. Oktober zu inspizieren, zog sogleich die Kritik auf sich, bis dahin könne der Iran kritische Teile der Anlage woandershin schaffen. Auch wenn Washington bis jetzt noch keine Durchsuchungen wie damals in den Palästen Saddam Husseins verlangt, - die Forderungen nach gründlicheren Durchsuchungen haben begonnen.
Der Artikel in der New York Times ist Teil dieser Kampagne. Die Zeitung bauscht bewusst eine "vertrauliche Analyse" auf, die mindestens sechs Monate alt, unvollständig und bei der IAEA selbst höchst umstritten ist. Washingtons europäische Verbündete - Großbritannien, Frankreich und Deutschland - haben in den letzten Wochen die Veröffentlichung dieses "geheimen Anhangs" verlangt, um den Iran ihrerseits zu schikanieren. Zum Teil geht es darum, die Sicherheitsanalyse der amerikanischen Nachrichtendienste von 2007 zu kippen, die damals zum Schluss kam, der Iran habe sein angebliches Atomwaffenprogramm 2003 eingestellt. Diese Einschätzung wird von europäischen Geheimdiensten bestritten.
Es ist bezeichnend, dass die europäischen Mächte jetzt die Führung der Kampagne übernehmen, und dass die IAEA im Focus steht. Natürlich würden die meisten Menschen es schlicht nicht mehr glauben, wenn die USA und Großbritannien jetzt wieder, wie vor der Invasion des Irak, irgendwelche zusammengeschusterten Dossiers vorlegen würden. Also treiben zurzeit nicht die diskreditierten amerikanischen Geheimdienste den Fall voran, sondern europäische.
Bis jetzt sind nur Teile des IAEA-Dokuments bekannt geworden. Die umfangreichsten sind auf der Webseite des Institute for Science and International Security (ISIS) erschienen, die sich auf die Version eines 67-seitigen Reports mit dem Titel "Mögliche militärische Dimensionen des iranischen Atomprogramms" bezieht. Die New York Times griff den Passus heraus, dass "der Iran ausreichende Informationen besitzt, um einen funktionsfähigen Nuklearsprengkopf (mit hoch angereichertem Uran) zu konstruieren und zu produzieren".
Die Behauptung stützt sich auf höchst zweifelhafte Quellen. Das ISIS schreibt: "Ein großer Teil der Informationen der IAEA soll von einem Laptop stammen, darunter Testergebnisse, Berichte, Diagramme und Videos. Dieser Laptop hat seit seinem Bekanntwerden 2005 viel Aufsehen erregt." Dann schreibt der Thinktank, dieser Laptop, der der IAEA nie ausgehändigt wurde, existiere möglicherweise gar nicht, sondern sei von den US-Geheimdiensten nur erfunden worden, um eine Quelle im Iran zu decken. Das ISIS, das den Daten bisher immer kritisch gegenüberstand, kommt jetzt ohne wirkliche Begründung zu dem Schluss, dass die Informationen "authentisch zu sein scheinen".
Der "Laptop" ist seit seiner "Entdeckung" durch die amerikanischen Geheimdienste berüchtigt. In seinem Buch Ziel Iran nannte der ehemalige amerikanische Geheimdienstmitarbeiter und UN-Waffeninspekteur Scott Ritter den Laptop ein Produkt der Zusammenarbeit des israelischen und des deutschen Geheimdienstes. Er wies darauf hin, dass es gut möglich sei, dass die Daten vom israelischen Geheimdienst zurechtgeschustert worden seien. Einige verifizierbare Tatsachen könnten mit Lügen vermischt worden sein. Die neue Zuspitzung der Konfrontation zwischen den USA und dem Iran verschafft nun der Laptop-Geschichte auf der Grundlage von unklaren Informationen westlicher Geheimdienste neue Aktualität.
Ganz am Ende des Artikels in der New York Times wird auf ein Interview von IAEA-Direktor ElBaradei mit der Tageszeitung Hindu von Sonntag verwiesen. Es lohnt sich, seine Ausführungen ausführlich zu zitieren. Auf die Frage nach Washingtons "Laptop" sagte er: "Informationen über die angeblichen [militärischen] Studien erreichten die Agentur schon vor einiger Zeit. Der Iran sagt, die Informationen seien gefälscht. US-Nachrichtendienste sagen, der Iran habe ein Waffenprogramm gehabt, das 2003 eingestellt worden sei. Wieder andere [westliche Dienste] sagen, es sei auch danach noch weiter gegangen.... Die IAEA gibt kein Urteil darüber ab, ob der Iran überhaupt ein Waffenprogramm hatte, denn die Authentizität der Dokumente ist völlig ungeklärt."
Unter dem Druck der USA und seiner europäischen Verbündeten, die ihre Verachtung für ElBaradei nur mühsam verbergen, wird die IAEA wieder zum politischen Schlachtfeld. Auf die Frage nach der Gefahr eines militärischen Angriffs der USA oder Israels auf den Iran sagte ElBaradei: "Gewaltandrohungen sind nicht hilfreich. Sie führen zu Konfrontation und dazu, dass das andere Land Gegenmaßnahmen ergreift. Es ist besser, die Sprache des Zwangs zu lassen und sich auf Dialog zu konzentrieren."
Obamas Sprecher nutzten die öffentliche Diskussion über die "vertrauliche Analyse" der IAEA, oder besser gesagt einer Fraktion der IAEA, um die Forderungen der USA an den Iran zu unterstreichen. Auf NBC’s "Meet the Press" lehnte die amerikanische Botschafterin bei der UNO, Susan Rice, am Sonntag ab, sich zur Schlussfolgerung des Berichts zu äußern. Sie sagte: "Unsere ganze Haltung geht davon aus, dass der Iran unbedingt daran gehindert werden muss, Atomwaffen zu erlangen." Der Iran müsse "zu unserer Zufriedenheit beweisen, dass sein Programm friedlichen Zwecken dient, seine Anlagen inspizieren lassen und sein Urananreicherungsprogramm einfrieren. Andernfalls muss er echten Druck in Kauf nehmen und die Folgen tragen."
Die Senatoren Jon Kyl (Republikaner) und Barbara Boxer (Demokratin) schlugen eine schrillere Tonlage an. Beide unterstützen eine Gesetzesvorlage, die drakonische neue Sanktionen gegen den Export von raffinierten Ölprodukten in den Iran vorsieht. Am Montag führte die New York Times die Debatte, die sie selbst losgetreten hatte, weiter und zitierte den Republikanischen Senator Lindsay Graham auf Fox News on Sunday. Der IAEA Bericht beweise, dass "das Atomprogramm des Iran nicht friedlichen Zwecken dient".
Im Moment spielt die Obama-Regierung die militärische Option herunter. Stattdessen droht sie mit empfindlichen Sanktionen, falls die Forderungen Washingtons nicht bis Ende des Jahres erfüllt würden. Unter anderem will sie Benzin- und Diesel-Exporte in den Iran verbieten. Dennoch ist auch eine militärische Option nach wie vor auf der Tagesordnung. Das beweist die andauernde öffentliche Diskussion darüber in politischen und Medienkreisen der USA.
Die Demokratische Senatorin Dianne Feinstein, Mitglied des Geheimdienstausschusses des Senats, erklärte am Sonntag auf Fox News: "Es bräuchte neben Luftangriffen auch eine Bodenoperation", weil die Nuklearanlagen des Iran tief im Untergrund verborgen seien.
Ein Artikel in der Chicago Tribune von Sonntag beschäftigte sich ausführlich mit den operativen Schwierigkeiten von Luftschlägen gegen den Iran, wies aber darauf hin, dass das amerikanische Militär verschiedene Gefechtsköpfe entwickele, die "harte und tief vergrabene Ziele" treffen könnten, darunter eine massive 30.000 Pfund Bombe. Obwohl der Artikel das immer noch als "eine undenkbare Option" bezeichnete, wies er darauf hin, dass "Atomsprengköpfe auch tief vergrabene Strukturen zerstören können".
Der Artikel in der New York Times zeigt, dass die amerikanischen und die internationalen Medien erneut eine entscheidende Rolle in der Kampagne spielen, den Vorwand für neue Verbrechen der USA und ihrer Verbündeten zu konstruieren. Das wirkliche Motiv hat nichts mit dem angeblichen Atomwaffenprogramm des Iran zu tun. Das wirkliche Ziel ist die Festigung der wirtschaftlichen und strategischen Vorherrschaft des US-Imperialismus in den energiereichen Regionen des Nahen Ostens und Zentralasiens.