Anscheinend lancierte die deutsche Regierung eine bewusste Indiskretion gegenüber dem Spiegel, um klar zu machen, dass sie eine weitere Erhöhung der Verschuldung ablehnt. Das Magazin veröffentlichte am vergangenen Wochenende Auszüge aus einem Schlusskommuniqué, das Großbritannien für den G-20-Gipfel der führenden Wirtschaftsmächte am 20. April in London vorgeschlagen hat.
Nach Angaben des Spiegel hat er diese Auszüge von der deutschen Regierung. Andere Presseberichte identifizieren die konservativen Koalitionspartner Angela Merkels aus der bayerischen Regierungspartei CSU als Informationsquelle.
In dem Dokument werden die G-20-Länder aufgefordert, zwei Billionen US-Dollar zur Ankurbelung der Weltwirtschaft auszugeben, die sich derzeit in die tiefsten Krise seit der Großen Depression in den 1930er Jahren befindet. Die Veröffentlichung bot vielen führenden Politikern auf dem europäischen Kontinent nochmals die Gelegenheit, neue Ausgabenprogramme abzulehnen, da diese das Haushaltsdefizit erhöhen würden.
Merkel griff die Forderung nach einem "globalen New Deal" scharf an und fügte, wie die Londoner Times berichtete, hinzu: "Mir soll keiner erzählen, dass wir mehr Geld ausgeben müssen." Der spanische Finanzminister Pedro Solbes sagte: "Unter den gegebenen Bedingungen glauben ich und die übrigen Kollegen aus der Eurozone nicht, dass es einen Spielraum für neue Konjunkturprogramme gibt."
Vorher hatte schon der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der eine stärkere internationale Regulierung der Banken für erforderlich hält, negative Stellungnahmen abgegeben. Der tschechische Premierminister Mirko Topolanek, derzeit Vorsitzender der Europäischen Kommission, hatte eine vernichtende Kritik an der Politik der Obama-Regierung geäußert. Topolanek hatte das Ansinnen der Amerikaner, sich zur Ankurbelung der Wirtschaft in Schulden zu stürzen, als "Weg zur Hölle" bezeichnet.
Ein Sprecher des britischen Premiers Gordon Brown behauptete, das Dokument sei ein älterer Entwurf, der die inzwischen beschlossenen Ausgaben nur geschätzt habe, einschließlich des Konjunkturpakets der Regierung Obama von 787 Milliarden Dollar.
Wie der britische Außenminister gegenüber der BBC äußerte, würden auf dem Gipfel keine zusätzlichen Finanzspritzen erwartet; es würden auf dem Treffen der G-20 "keine Hasen aus dem Hut gezaubert werden." Er fügte noch an: "Es geht darum, eine außergewöhnliche Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen - die weit über das Finanzsystems hinausgeht - und Maßnahmen zu ergreifen...die kurzfristig und langfristig wirklich Wirkung zeigen."
In Großbritannien wie auch in den Vereinigten Staaten wurde die vom Spiegel kolportierte Indiskretion in Pressekommentaren als "peinliche Enthüllung" und sogar als "bewusster Sabotageakt" der deutschen Regierung bezeichnet.
Die am meisten nationalistisch gefärbte Reaktion kam vom britischen Labour-Abgeordneten Denis McShane. Der ehemalige Europaminister fragte: "Wer, glaubt Frau Merkel, wird Mercedesse und BMW’s kaufen, wenn sie...sagt, es sei schlecht Nachfrage zu erzeugen." Ein weiterer Labour-Abgeordneter sagte: "Man muss sich fragen, wem es nützte, dass das Kommuniqué durchgesickert ist. Es riecht nach einem miesen Trick."
Auch rechte innenpolitische Kritiker Browns äußerten ähnliche Warnungen wie Merkel. In einem Artikel im Sunday Telegraph warnte der frühere Außenminister Lord Owen, die britische Wirtschaft könne "IWF- Vorschriften" unterworfen werden, um "wachsendem Vertrauensverlust" Einhalt zu gebieten. Er verglich die derzeitige Stimmung in London mit der Krise, die während der Labourregierung von James Callaghan im Großbritannien der späten 1970er Jahre ausbrach, und die Margaret Thatcher den Weg ebnete.
Mervin King, Chef der Bank von England, drängte Brown Anfang vergangener Woche, weitere Pläne zur Ankurbelung der Wirtschaft fallen zu lassen. "Beim Ausmaß dieser Defizite, denke ich, wäre es angemessener, vorsichtig mit freigiebigen Maßnahmen zu sein, die den Umfang dieser Defizite ausweiten," sagte er am Dienstag vor einem Parlamentsausschuss.
Bei einer Lagebesprechung im Weißen Haus am Samstag leugnete ein Mitarbeiter Obamas die Spaltung zwischen den politischen Führern Europas, insbesondere Merkel und Sarkozy, und den anglo-amerikanischen Spitzenpolitikern, und sagte: "Wissen Sie, der Präsident führte diese Woche sehr ergiebige Videokonferenzen und Telefongespräche mit Kanzlerin Merkel, Premierminister Brown und Präsident Sarkozy, bei denen die Fragen behandelt wurden, über die wir hier sprechen. Ich bemerkte dabei kein Zeichen eines Hin- und Her-Gezerre, eines Risses oder von sonst was."
Die verbalen Verrenkungen können den Abgrund zwischen den politischen Vorschlägen aus Washington und London und den Vorstellungen der anderen europäischen Mächte, sowie den G-20 Teilnehmern aus China, Brasilien und Argentinien nicht verschleiern. Trotz aller Versuche, den Eindruck verantwortungsvoller Weltpolitiker zu machen, die miteinander über die Wiederbelebung der Weltwirtschaft beraten, werden die Teilnehmer des G-20-Gipfels de facto gelähmt und zerstritten in London eintreffen.
Vergangene Woche sorgte der Chef der chinesischen Zentralbank mit seiner Anregung für internationale Aufregung, es sei Zeit, eine Alternative für den US-Dollar als Hauptwährung im internationalen Zahlungsverkehr zu finden. Unter der Bedingung, dass China und weitere asiatische, afrikanische und lateinamerikanische Länder größere Mitspracherechte im Internationalen Währungsfonds erhielten, plädierte er dafür, auf Sonderziehungsrechte zu setzen, die vom IWF ausgegeben werden sollten.
Die Regierung Obama hat nicht nur ein Konjunkturpaket, sondern auch ein noch viel größeres Rettungspaket für die Wall Street verabschiedet, wobei Billionen ins Finanzsystem gepumpt wurden; das erfordert, dass die amerikanische Notenbank Federal Reserve riesige Kredite aufnimmt und Geld druckt. Das ist eine äußerst nationalistische Politik, mit der Absicht, die Last der mit dem Zusammenbruch des amerikanischen Finanzsystems ausgebrochenen Krise auf die wichtigsten Rivalen des amerikanischen Kapitalismus in Europa und Asien abzuladen. Indem das amerikanische Haushaltdefizit und die Staatsverschuldung auf ein beispielloses Maß erhöht werden, zieht Washington praktisch alles verfügbare private Kapital auf der ganzen Welt in die USA.
Würden ihnen Folge geleistet, hätten die amerikanischen Forderungen an die europäischen Mächte, ihre Haushaltsdefizite für die Finanzierung großer Konjunkturprogramme auszuweiten, gleichzeitig eine destabilisierende Wirkung auf den Euro und würden die zentrifugalen Kräfte verstärken, die die Europäische Union jetzt schon zu zerstören drohen.
Die Schwierigkeiten mit den Versuchen, eine glaubwürdige internationale Reaktion auf die Krise hinzukriegen, entsprechen dem beschleunigten Abgleiten in die weltweite Depression. Voraussichtlich wird die Arbeitslosenrate in den USA im März auf 8,5 Prozent hochschnellen (Am Freitag, einen Tag nach dem G-20-Treffen, werden die Zahlen offiziell bekannt gegeben), legt man die Prognose von IHS Global Insight zugrunde, dass der Netto-Arbeitsplatzverlust im März die Rekordzahl von 750.000 erreichen wird - das wäre der schlimmste Monat seit 1949.
Nach einem Bericht vom vergangenen Montag wird die Industrieproduktion in Japan voraussichtlich um zehn Prozent zurückgehen; alle europäischen Länder befinden sich in einer starken Rezession. Nach neueren Vorhersagen schrumpft die deutsche Wirtschaft 2009 um sechs Prozent, die schlechteste Entwicklung seit dem 2. Weltkrieg. Das Schicksal der armen Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, die auf dem G-20-Gipfel nicht vertreten sind, wird noch viel schlimmer sein. Nach dem Institute of International Finance wird das in "aufstrebende Märkte" fließende private Kapital von 929 Milliarden Dollar im Jahr 2007 dieses Jahr auf 165 Milliarden zurückgehen.
Mit seiner Prophezeiung des Ergebnisses des G-20-Gipfels drückte ein bekannter Ökonom die Stimmung in Washington aus: "Es wird ein sehr langes Kommuniqué geben, aber es wird nicht viel drin stehen." Ein solches Ergebnis würde bedeuten, dass die Londoner Konferenz, keinen Kurs zur Wiederbelebung des Weltkapitalismus festlegen würde, sondern Ausgangspunkt für seinen weiteren Verfall sein könnte.
Der Kommentator der Financial Times, Martin Wolf, wies in einem Kommentar letzten Monat auf die historische Parallele zur Krise in den 1930ern hin und warnte vor der Gefahr einer Wiederholung des Ergebnisses des 1933 während der Großen Depression in derselben Stadt durchgeführten Gipfeltreffens. Der amerikanische Präsident Franklin Roosevelt ersparte sich die Teilnahme an dem Treffen, das dann an den unterschiedlichen Vorstellungen über die Wiedereinführung des Goldstandards scheiterte.
Wolf schrieb: "Der Londoner Gipfel von 1933 markierte das Scheiterns der gemeinsamen Bemühungen, der Großen Depression Herr zu werden. Das Gipfeltreffen der Gruppe der 20 Länder am 2. April in derselben Stadt muss ganz anders ausgehen. Es mag scheinen, dies sei eine einfache Aufgabe. Dem ist nicht so. Das übliche Kommuniqué voller Plattitüden wäre eine Katastrophe."
Alles weist darauf hin, dass genau solch ein Ergebnis zu erwarten ist. Die Differenzen zwischen den rivalisierenden kapitalistischen Nationalstaaten, von denen jeder versucht, die Privilegien und Profite der eigenen herrschenden Klasse abzusichern, sind unüberwindbare Hindernisse für eine einheitliche politische Behandlung der sich verschärfenden globalen Krise.