Ein historischer Meilenstein?

Gedanken zu Klasse und Hautfarbe in Amerika

Es fällt auf, dass die amerikanischen Medien seit dem Wahlabend den Sieg Obamas geradezu einstimmig als Rassenfrage hinstellen. Dieser Trend drückt sich beispielhaft in der New York Times aus, dem wichtigsten Organ des amerikanischen Liberalismus. Die Times brachte am Mittwoch, dem Tag nach dem Erdrutschsieg der Demokratischen Partei, als Aufmacher die Schlagzeile: "Obama: Rassenschranken fallen im entscheidenden Sieg".

Die Schlagzeile fällt aus dem üblichen journalistischen Rahmen, denn sie lässt jeden Anspruch auf objektive Berichterstattung vermissen. Das ist nicht der normale Titel eines Berichts; es entspricht nicht der Art, wie eine wichtige Zeitung über den Ausgang einer Wahl berichtet.

Bei den Wahlen 1960 wiederholte John F. Kennedy immer wieder, er sei kein katholischer Präsidentschaftskandidat, sondern der Präsidentschaftskandidat der Demokraten, der zufällig katholisch sei. Seine Kandidatur für das Weiße Haus erfolgte 32 Jahre nach der von Alfred E. Smith, der als Katholik eine herbe Niederlage erlitten hatte. Als Kennedy jedoch als erster Katholik in der Geschichte der USA eine Präsidentschaftswahl gewann, behandelte die Presse die Religion als nebensächliche Frage.

Die Times dagegen stellte die Wahl vom Dienstag bewusst und eindeutig als Votum über die Rassenfrage dar; nicht als Ablehnung der Bush-Regierung und ihrer rechten Politik durch die Bevölkerung, nicht als Ablehnung der Kriege im Irak und in Afghanistan, und nicht als Ablehnung einer Gesellschaftspolitik, die seit dreißig Jahren ausschließlich der Bereicherung der Finanzelite dient. Mit ihrer Interpretation lässt die Times die unzweifelhafte Tatsache außer Acht, dass die entscheidende Frage bei dieser Wahl die Wirtschaftskrise war. Die Krise brachte viele Millionen arbeitender Menschen und Jugendliche aller Hautfarben dazu, für Obama zu stimmen, weil sie hofften, damit ein Signal für eine Wende in der Wirtschaftspolitik zu setzen.

Eine ganze Herde von Journalisten wiederholte in allen Sendungen pausenlos die Leier von der Rasse, und auch der Kandidat der Republikaner John McCain und Präsident Bush stellten in ihren Stellungnahmen zum Wahlausgang die Tatsache, dass Obama schwarz ist, als entscheidenden Faktor bei diesen Wahlen hin.

Die Penetranz, mit der auf Obamas Hautfarbe und seiner persönlichen Lebensgeschichte herum geritten wird, ist in Amerika durchaus typisch für die Art und Weise, wie man politische Analysen in Rassenkategorien presst. Gleichzeitig werden damit jedoch ganz klare Ziele verfolgt. Es dient der Verschleierung politischer Fragen, die bei dieser Wahl entscheidend waren, so zum Beispiel die weit verbreitete Opposition gegen den Krieg. Schließlich hatte sich Obama ursprünglich als der Kandidat zur Wahl gestellt, der den Krieg ablehnte. Das wird heute buchstäblich unter den Teppich gekehrt.

Dadurch wird der Weg für eine Fortsetzung genau der rechten Wirtschafts- und Außenpolitik geebnet, gegen die sich die Wähler gerichtet haben. Dass der gewählte Präsident ebenfalls diesen Kurs einschlagen wird, ist bereits durch seine Bestimmung des Kongressabgeordneten Rahm Emanuel zum Stabschef des Weißen Hauses deutlich geworden. Emanuel gehört zu den frühesten Unterstützern des Irakkrieges und ist ein enger Verbündeter der Immobilien- und Finanzkreise von Chicago. Außerdem will Obama mindestens zwei Republikaner in sein Kabinett holen.

Könnte die Darstellung von Obamas Sieg als Rassenfrage dazu genutzt werden, all jene, die seine Politik ablehnen, als rassistisch anzugreifen? Dafür gibt es jetzt schon viele Anzeichen.

Empirische Untersuchungen zum Wahlausgang und andere Quellen deuten darauf hin, dass die Rassenfrage bei der Wahlentscheidung der großen Mehrheit nur eine minimale Rolle spielte. Was ihn selbst angeht, so hat Obama es vermieden, sich als Vertreter einer bestimmten Rasse oder allgemein von Minderheiten zu präsentieren. Dennoch war sein ethnischer Hintergrund für die Kreierung seiner politischen Rolle entscheidend, wenn dies auch nicht offen zutage trat. Es kam eher in der Weise zum Ausdruck, dass ein afroamerikanischer Präsident leichter die Sympathie benachteiligter Schichten der arbeitenden Bevölkerung gewinnen könnte. Diese Auffassung vertraten etliche Gruppierungen der kleinbürgerlichen und opportunistischen "Linken", wie die Zeitschrift The Nation, um damit die sozialen und Klasseninteressen seiner Wahlkampagne zu verbergen.

Wenn wir die Obsession der Medien mit der Rassenfrage angreifen, dann nicht, weil wir die brutale Geschichte der Unterdrückung der Afroamerikaner in Amerika leugnen würden. Aber die vorherrschende Frage in der amerikanischen Politik ist in Wirklichkeit die Klassenfrage. Gerade weil die Frage der Klassen in der amerikanischen Politik so explosiv ist, traut sich keiner der Politiker, die sich um öffentliche Ämter bemühen, das Wort "Arbeiterklasse " in den Mund zu nehmen.

Bis vor etwa vier Jahrzehnten gingen progressive Intellektuelle und liberale Kommentatoren im Wesentlichen davon aus, dass die rassistische Unterdrückung eng mit der Klassenstruktur der amerikanischen Gesellschaft verbunden war. Aber seit Anfang der 1970er Jahre wurden die Klassenfragen immer stärker zurück gedrängt. Stattdessen traten untergeordnete Kriterien wie das Geschlecht, die sexuelle Orientierung und vor allem die Hautfarbe in den Vordergrund. Sie wurden in der politischen Diskussion zur alles entscheidenden Frage erhoben.

Wenn man den herrschenden Kreisen in Politik und Medien glaubt, dann existiert in den USA keine Arbeiterklasse, nur eine "Mittelklasse". Dieser Ausdruck diente ursprünglich dazu, bestimmte, nicht zuzuordnende soziale Schichten zu bezeichnen, zum Beispiel Rechtsanwälte, Zahnärzte oder Ladenbesitzer. Aber heute werden mit dieser Bezeichnung sehr Reiche und sehr Arme in einen Topf geworfen. Diese begriffliche Revolution (oder besser Konterrevolution) ging mit einem atemberaubenden Anwachsen sozialer und ökonomischer Ungleichheit einher, und ein immer größerer Anteil der Bevölkerung geriet in unmittelbare Lohnabhängigkeit. Auch wenn ihre Existenz geleugnet wurde, musste die Arbeiterklasse in dieser Zeit einen enormen Niedergang ihrer sozialen Bedingungen hinnehmen.

Nirgends hat dieser soziale Niedergang so brutale Auswirkungen gehabt wie unter den wirtschaftlich besonders schlecht gestellten Schichten der Arbeiterklasse, vor allem unter den afroamerikanischen Arbeitern. Die Zerstörung ganzer Industriezweige und das Versagen der Gewerkschaften als bedeutender sozialer Kraft führen dazu, dass die Innenstädte zerfallen, die staatlichen Schulen buchstäblich kollabieren, eine Gesundheitsversorgung praktisch ganz fehlt, die Wohnungs- und sonstige Infrastruktur zusammenbricht und Krankheiten im Vormarsch sind, die wie Diabetes mit Armut und chronischer Arbeitslosigkeit zusammen hängen.

Auf der anderen Seite ist die so genannte Identitätspolitik, das neue Markenzeichen des amerikanischen Liberalismus, für das Fortkommen eines kleinen Teils der Afroamerikaner höchst erfolgreich. Denn diese profitieren davon, dass die Rassenschranken bei der Besetzung öffentlicher Ämter, wichtiger Positionen in den Unternehmen, im akademischen Bereich und in den Medien beseitigt wurden. Obama repräsentiert nicht den Triumph der großen Mehrheit der schwarzen amerikanischen Arbeiter, sondern eben dieser privilegierten Minderheit. Seine Wahl signalisiert ihnen, dass sie Anspruch auf einen Teil des Reichtums haben, der aus der Arbeiterklasse gezogen wird.

Das öffentliche Spektakel, das um die Hautfarbe veranstaltet wird, und die gleichzeitige Unterdrückung der Klassenfragen sind Ausdruck des intellektuellen Verfalls und der Rechtswende des amerikanischen Liberalismus. Der Historiker Alan Brinkley beschrieb 1995 in seinem Buch The End of Reform (Das Ende der Reform) die wichtige Wende in Ideologie und Politik des amerikanischen Liberalismus. Sie begann, als Roosevelts New Deal schon im Niedergang war, beschleunigte sich während des Zweiten Weltkriegs und festigte sich in der Nachkriegszeit.

Brinkley erklärt, besonders in den ersten Jahren des New Deal habe der amerikanische Liberalismus im Allgemeinen eine Reformpolitik unterstützt, die eine Umstrukturierung des amerikanischen Kapitalismus und die Beschneidung der Macht des Großkapitals, sowie die Einführung demokratischer Kontrolle am Arbeitsplatz befürwortete. Viele Demokraten des New Deal traten für Maßnahmen zur Umverteilung des Reichtums und größere soziale Gleichheit ein.

Nachdem die anfängliche wirtschaftliche Erholung 1937 wieder zusammenbrach und die Streikkämpfe in den Schlüsselindustrien schon fast revolutionäre Dimensionen annahmen, distanzierte sich Roosevelt von den neu entstandenen Gewerkschaften, und die Demokratische Partei begann von der Reform des Kapitalismus abzurücken. Dieser Prozess setzte sich nach dem Zweiten Weltkrieg in stärkerem Maße fort.

Brinkley schreibt, die amerikanischen Liberalen hätten sich "in der Tat von ihren früheren Reformbestrebungen distanziert. Dazu gehörten die Beschäftigung mit Klassenfragen, das Bemühen darum, Freiheit und Demokratie mit der Wirtschaft in Einklang zu bringen und ihre Feindschaft gegenüber der Konzentration wirtschaftlicher Macht. Sie hatten das Bürgerecht neu definiert, um die Rolle von Männern und Frauen als Produzenten hervorzuheben und ihre Rolle als Konsumenten zu verstärken".

Die neuen Gewerkschaften, die sich zum Congress of Industrial Organizations (CIO) zusammenschlossen und aus den heftigen Massenstreiks, Fabrikbesetzungen und der breiten Mobilisierung der Arbeitermassen entstanden waren, passten sich an die Wende der liberalen Ideologie und Politik an. Sie unterstützten die Regierung Roosevelt und warfen ihre früheren Forderungen nach strukturellen Reformen des Kapitalismus und der Demokratie in den Betrieben über Bord. Diese Wende konsolidierte sich während des Krieges, als sich die Gewerkschaften im Namen der Kriegsnotwendigkeit auf korporatistische Beziehungen zum Staat und zu den Unternehmern einließen. Als Teil dieses Bündnisses setzten sie ein Streikverbot und die Beschränkung der Löhne durch.

In den Klassenkämpfen der 1930er Jahre spielten Arbeiter, die sich sozialistischen und revolutionären Organisationen angeschlossen hatten, eine wichtige Rolle. Diese Massenkämpfe drehten sich nicht nur um die Anerkennung von Gewerkschaften, höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch darum, die Arbeiterbewegung zu einer unabhängigen Kraft in der Industriegesellschaft und der Politik Amerikas zu machen. Es ging auch um eine Demokratisierung der Industrie, von der sie glaubten, sie könne - in Brinkleys Worten - "nicht nur das Leben von Arbeitern, sondern den Charakter der amerikanischen Gesellschaft verändern".

Als jedoch "die Arbeiter ein Bündnis mit der Demokratischen Partei und dem liberalen Staat eingingen und solche weitergehende Ziele aufgaben, wie Fabrikräte zu bilden oder eine Arbeiterpartei aufzubauen, gaben sie auch die Chance auf, zu einer unabhängigen politischen Bewegung zu werden.... Um 1945 war die Bewegung dabei, ihre moderne Form, nämlich die einer durch und durch bürokratischen (und zuweilen korrupten) Interessengruppe anzunehmen, die relativ eng gesteckte (und gelegentlich antiliberale) Ziele vertritt und sich vor allem um ihren eigen Fortbestand als Institution sorgt."

In den späten 1940er Jahren und den 1950er Jahren wurde jeder Versuch aufgegeben, die Macht der Unternehmer einzuschränken und in irgendeiner Form die Autonomie und Unabhängigkeit der Arbeitermacht zu errichten. Das gipfelte schließlich in der antikommunistischen Hetzjagd, in der die Gewerkschaften von Linken gesäubert wurden.

Die wirtschaftliche Expansion nach dem Krieg und der anhaltende Anstieg des Wohlstands verschaffte dem amerikanischen Nachkriegsliberalismus und der Konsumgesellschaft der "Mittelklasse" eine gewisse Glaubwürdigkeit. Aber Ende der 1960er Jahre begann der Boom zu bröckeln. Die Auswirkungen des Vietnamkriegs, der Kämpfe der Bürgerrechtsbewegung, die Unruhen in den Städten und eine Streikwelle, die durch die Verschlechterung der Wirtschaftslage ausgelöst wurde, unterhöhlten das Fundament der Koalition des New Deal. Es dauerte nur wenige Jahre, bis sich die Demokratische Partei offen von der sozialen Reformpolitik des New Deal distanzierte.

Als der Anstieg des Lebensstandards und die Ausdehnung der Konsumgesellschaft zum Stehen kam, leitete die Demokratische Partei eine neue Wende ein. Sie versuchte, diesen Prozess als weit reichende, demokratische Reform darzustellen. Sie stellte die Schlagworte Rasse, Geschlecht und Diversity in den Mittelpunkt, wobei jegliche Diskussion von Klasseninteressen unterdrückt wurde. Die Partei nahm selbst die Struktur der Identitätspolitik in sich auf. "Förderungsmaßnahmen für Minderheiten" und Ähnliches wurde eingeführt, um Privilegien auf die Eliten diverser ethnischer Minderheiten oder auf einige Frauen auszudehnen, während der Lebensstandard der breiten Masse der arbeitenden Bevölkerung, der Afroamerikaner, der Latinos und der Weißen, der Frauen und der Männer stagnierte oder zurückging.

Heute, unter Bedingungen der tiefsten Wirtschaftskrise des amerikanischen und des Weltkapitalismus seit den 1930er Jahren, wird die Betonung der Rassenfrage zum alles entscheidenden Kriterium der amerikanischen Gesellschaft erklärt. Aber trotz der Bemühungen der Medien, die Wahl Obamas mit seiner Hautfarbe zu erklären, ist sein Sieg in Wirklichkeit das Ergebnis des Wiederauflebens einer Klassenbewegung. Diese richtet sich gegen die Kriegspolitik und die soziale Reaktion, die beide großen Parteien zu verantworten haben.

Diese Wiederbelebung des Klassenkampfs nimmt innerhalb der Rahmenbedingungen der amerikanischen Politik und des Zwei-Parteien-Monopols notwendigerweise eine verzerrte und widersprüchliche Form an und äußert sich in der Zurückweisung der Republikaner und der Wahl eines Demokraten. Aber die aufgestaute Wut und Frustration der Arbeiterklasse, die Obama an die Macht gespült hat, wird sich früher oder später gegen ihn selbst wenden.

Mit der Wahl Obamas beginnt in Amerika eine neue Periode von Klassenkämpfen.

Siehe auch:
Klassengegensätze in Obamas Koalition
(7. November 2008)
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