Briefwechsel zum Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben

Verdi-Vertrauensmann verteidigt Ausverkauf und beschimpft die Arbeiter

Am Pfingstwochenende erhielt die Redaktion der WSWS einen Brief von einem Verdi-Vertrauensmann, der die Erklärung der Redaktion "Verdi unterschreibt Ausverkauf des Verkehrsarbeiterstreiks in Berlin - Stimmt in der Urabstimmung mit Nein!" (http://www.wsws.org/de/2008/mai2008/bvg-m07.shtml) heftig kritisiert. Er wirft der Redaktion Falschdarstellung von Fakten und Ereignissen, Überschätzung der Kampfbereitschaft der Arbeiter und Unkenntnis der tatsächlichen Stimmungslage vor.

Während der Verdifunktionär an keinem Punkt die sachliche Richtigkeit der WSWS-Analyse des Verhandlungsergebnisses widerlegt, behauptet er, die Reduzierung des Streiks vor Ostern sei notwendig gewesen, weil viele Arbeiter über die Feiertage nicht streiken, sondern die Feiertagszuschläge kassieren wollten. Außerdem verteidigt er die Lohsenkung und tariflichen Verschlechterungen durch den TV-N und behauptet, Verdi habe die Auseinandersetzung mit dem Senat führen wollen, doch unter den Beschäftigten habe es noch nicht einmal die Bereitschaft gegeben, sich an einer Kundgebung vor dem Roten Rathaus zu beteiligen.

Nachfolgend veröffentlichen wir den Brief im Wortlaut und eine Antwort der Redaktion. Angesichts der provokativen Äußerungen dieses Verdifunktionärs rufen wir die BVG-Beschäftigten auf, sich selbst zu Wort zu melden und ihre Meinung zum Streik und zum Verdi-Abschluss bekannt zu machen.

* * *

Sehr geehrte Redaktion,

Bezug nehmend auf Ihren Artikel vom 7. Mai 2008 muss ich Ihnen kurz antworten.

Zu meiner Person: ich bin Vertrauensmann bei ver.di im Bereich der Technik Straßenbahn. In dieser Funktion war ich - augenscheinlich im Gegensatz zu Ihnen - permanent bei den grundlegenden Entscheidungen zum Streik und auch bei der praktischen Streikdurchführung anwesend oder sogar selbst beteiligt. Um so mehr ärgert mich, dass in diesem Artikel neben tendenziöser Darstellung und Polemik auch Fakten falsch dargestellt werden.

Absatz 3/25/29

Falsch: "...Immer wieder wurde der Streik in entscheidenden Momenten reduziert und von Seiten der Gewerkschaft regelrecht sabotiert."

Richtig: Immer wieder wurde auf Beschluss der Erweiterten Tarifkommission, in der alle BVG- Bereiche von ca. 100 Beschäftigten vertreten sind, die Streiktaktik geändert. Dabei wurde nicht nur reduziert, sondern oft auch verschärft. Zum Beispiel wurde der Beginn des Streiks vom 2. Februar 08 auf den 1. Februar 08 überraschend vorverlegt nach dem empörenden Angebot der Arbeitgeberseite.

Absatz 9/10

Tendenziöse Darstellung: "... hatte VERDI mit der Verabschiedung des TV-N ... drastischen Verschlechterungen ... zugestimmt." "Bei dem jetzigen Tarifabschluss wurden die Niedriglöhne der Neueingestellten benutzt, um die Realeinkommen der Altbeschäftigten weiter abzubauen..."

Richtig: TV-N- Verschlechterungen waren nötig und mit Mitgliedern abgestimmt hingenommen worden (Urabstimmung), da Existenz des Betriebes durch Linienausschreibungen bedroht war.

Absatz 13:

Polemik: "...Einmalzahlung in Höhe von 500 Euro. An dieser Einmalzahlung ist nichts "zusätzlich"..."

Richtig: Diese Zahlung erfolgt tatsächlich zusätzlich zu den korrekt angegebenen Entgelterhöhungen von 100 - 60 Euro ab 1. August 08.

Absatz 13 :

Polemik: "... fließt ein beträchtlicher Teil dieser Summe erst Mal an den Fiskus..."

Richtig: Der Lohnsteuerausgleich erfolgt automatisch im Dezember durch den BVG- Entgeltservice. Die Zahlung wurde durch die Niederschriftserklärung zu I.2 der Tarifeinigung auf den Monat festgelegt, in dem der steuerliche Abzug aus streikbedingten Entgeltausfällen aus dem April wirksam wird.

Absatz 19:

Polemik: "... Sarrazin konnte nur deshalb derart ... provokativ auftreten, weil er sich der Unterstützung Verdis sicher war."

Richtig: Jede Aktion des Streiks wurde auf Beschluss der Erweiterten Tarifkommission durchgeführt, und von den Kollegen dort ist mir nie nur ein Hauch von Sarrazin- Unterstützung aufgefallen.

Absatz 23:

Falsch: "... Angesichts der Kampfbereitschaft unter den BVG-Beschäftigten....", "...brach die Gewerkschaft den Vollstreik ab..."

Richtig: Die "Kampfbereitschaft" sah BVG-weit so aus, dass in vielen Bereichen teils massive Unterstützung von Gewerkschaftern anderer Abteilungen des Betriebes nötig war, um ein Zusammenbrechen bzw. Unterlaufen des Streiks durch Streikbrecher zu verhindern. Das Aussetzen des Streiks zu Ostern wurde von Vertretern der Kollegen aller Bereiche mehrheitlich beschlossen, weil die "Kampfbereitschaft" dort angesichts eines notwendigen Erscheinens an Karfreitag/Ostermontag zur Erlangung des Streikgeldes schnell zusammenbrach und außerdem Feiertagszuschläge winkten.

Absatz 25:

Polemik: "... nicht eine einzige Kundgebung vor dem Roten Rathaus organisiert..."

Richtig: Da trotz Streikgeldlockung zur Demo und Kundgebung an der Landsberger Allee/ Petersburger Straße nur ca. 1000 von 8000 streikenden Gewerkschaftern kam, wurde von der Erweiterten Tarifkommission eine Kundgebung vor dem Roten Rathaus als nicht sinnvoll eingeschätzt.

Absatz 28:

Ihr Aufruf an die Arbeiter, "...die Vereinzelung zu überwinden und einen gemeinsamen Kampf gegen ... die Politik der Gewerkschaft zu organisieren." lässt jeden Realismus vermissen und Sie - trotz einiger gemeinsamer politischer Einschätzungen - als Salonrevolutionäre erscheinen.

Alles in allem drängt sich mir der Eindruck auf, dass sie mit geschliffener Rhetorik für Ihre Partei punkten wollen.

Ihre falsche Darstellung der Ereignisse und vor allem das falsche Einschätzen der Kampfbereitschaft zeugen von Ihrer Unkenntnis der tatsächlichen Stimmungslage unter allen Beschäftigten.

Vielleicht sind da ja dann doch die ehrenamtlichen Vertreter der Beschäftigten aus allen Bereichen des Betriebes kompetenter. Über diese kann und sollte das weitere Vorgehen wohl besser bestimmt werden können als über Ihre Aufforderungen, wie die Gewerkschafter in der Urabstimmung zu votieren hätten!

Eine Ablehnung des Abschlusses bedeutet in jedem Fall, dass man mit einem weiter unbefristeten Arbeitskampf mit ungewissem Ergebnis rechnen muss.

Mit kämpferischen Grüßen

Ulf von Mach

ver.di - Vertrauensmann

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Sehr geehrter Herr von Mach,

Sie kritisieren unsere Einschätzung des Verdi-Abschluss und behaupten, "auch Fakten" seien falsch dargestellt. In Ihrem Schreiben vom 10. Mai widerlegen Sie aber unsere Analyse der Fakten an keinem Punkt.

Nur an zwei Stellen nehmen Sie direkt zum Verhandlungsergebnis Stellung. Sie verteidigen die bewusst irreführende Formulierung von Verdi, die 500 Euro Einmalzahlung würden "zusätzlich" gezahlt, nämlich "zusätzlich zu den korrekt angegebenen Entgelterhöhungen von 100 - 60 Euro ab 1. August 08."

Der alte Tarifvertrag lief aber schon Ende letzten Jahres aus. Sie bestätigen damit indirekt unsere Feststellung, dass die 500 Euro Einmalzahlung nichts weiter sind als ein Ausgleich für die Monate Januar bis einschließlich Juli, in denen es ansonsten keinerlei Erhöhung gibt.

Sie bestätigen auch, dass bei einer Einmalzahlung die Steuerprogression zu hohen Abzügen führt und weisen auf eine spezielle Vereinbarung zu dieser Frage hin. An der Faktenlage ändert dies nicht das Geringste.

Umgelegt auf die sieben Monate (Januar bis Juli) bedeutet die Einmalzahlung cirka 71 Euro monatlich. Für die Altbeschäftigten mit einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen von 2.300 bis 2.500 Euro bedeutet das eine Einkommenserhöhung von 2,5 bis 3 Prozent. Selbst für diesen Zeitraum liegt der Abschluss unter der offiziellen Preissteigerungsrate und bedeutet Reallohnsenkung.

Sie sagen kein Wort zu den üblen Taschenspielertricks, mit denen Verdi den Abschluss schön redet und die Beschäftigten zu täuschen versucht.

Verdi argumentiert folgendermaßen: Neueingestellte bekommen Anfang August dieses Jahres 100 Euro mehr. Gemessen am Brutto-Einkommen für Neueingestellte von 1.650 Euro seien dies 6,1 Prozent. Altbeschäftigte mit der höchsten Betriebszugehörigkeitsstufe bekommen nur 60 Euro mehr. Bei einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen dieser Langzeitbeschäftigten von durchschnittlich 2.400 Euro sind das nur 2,5 Prozent. Verdi fasst dann Neu- und Altbeschäftigte zusammen und errechnet daraus eine durchschnittliche Lohnerhöhung von 4,6 Prozent. Das ist eine gezielte Täuschung!

Verdi verschweigt die Tatsache, dass das Verhältnis von Alt- und Neubeschäftigten nicht 50:50 sondern etwa 85:15 beträgt. Die große Mehrheit der Langzeitbeschäftigten, von denen viele schon seit mehreren Jahrzehnten bei der BVG arbeiten, wird mit einer Lohnerhöhung von 2,5 Prozent abgespeist.

Noch übler ist es im nächsten Jahr. Hier behauptet Verdi, dass dann noch einmal 1 Prozent dazu käme, und erweckt den Eindruck, dass es dann 4,6 plus 1 Prozent gäbe. In Wirklichkeit gibt es für die Monate Januar bis Juli 2009 überhaupt keine Erhöhung und für die fünf Monate von August bis Dezember ein Prozent mehr. Unsere Einschätzung: "Aufs Jahr umgerechnet ergibt sich für 2009 damit eine lächerliche Erhöhung von etwa 0,4 Prozent", ist also völlig korrekt.

Dass Sie als Mitglied der Tarifkommission einem derartigen Ausverkauf zugestimmt haben, ist nicht zu akzeptieren und disqualifiziert Sie völlig als Vertrauensmann der Beschäftigten.

Noch schlimmer ist Ihre Beschimpfung der Streikenden. Sie behaupten, der Vollstreik habe vor den Osterfeiertagen abgebrochen werden müssen, weil "die ‚Kampfbereitschaft’ angesichts eines notwendigen Erscheinens an Karfreitag/ Ostermontag zur Erlangung des Streikgeldes schnell zusammenbrach und außerdem Feiertagszuschläge winkten".

Das ist eine Verleumdung der Streikenden, deren überwiegende Mehrheit entsetzt war, als sie von der Entscheidung der Streikleitung hörte, den Vollstreik im entscheidenden Moment aufzugeben. Wollen Sie auch behaupten, dass die Streikenden die Reduzierung der Forderung, die mit der damaligen Streikbeschränkung einherging, gewollt oder gefordert haben?

Wir wissen, dass damals wütende Kollegen erboste E-Mails an die Verdi-Streikleitung geschickt, aber nie eine Antwort bekommen haben. Vermutlich ist es bei Verdi ähnlich wie bei den meisten anderen Gewerkschaften, und die Mitglieder der Streikleitung bekommen für ihre Tätigkeit während des Arbeitskampfs vollen Lohnausgleich. Das würde bedeuten, dass Sie keine oder nur geringe finanzielle Einbußen hatten, und trotzdem greifen Sie die Streikenden, die alle große finanzielle Opfer in Kauf nahmen, in derart übler Weise an - wirklich dreist!

Auch Ihre Behauptung, für eine Kundgebung vor dem Roten Rathaus habe es unter den Streikenden keine Mobilisierung und kein Interesse gegeben, ist eine Lüge. Während der Streik-Kundgebung vor dem Sport- und Erholungszentrum (SEZ) in Friedrichshain berichteten viele Teilnehmer Reportern der WSWS, dass diese Kundgebung in vielen Betriebshöfen kaum bekannt gemacht worden sei und eine Demonstration vor dem Roten Rathaus weitaus wirkungsvoller wäre. Selbst Verhandlungsführer Frank Bäsler sah sich auf der damaligen Kundgebung gezwungen, auf die weit verbreitete Forderung nach einer Aktion vor dem Rathaus zu antworten und eine derartige Initiative für die kommenden Tage anzukündigen.

Nicht die Streikenden wollten einer Konfrontation mit dem rot-roten Senat ausweichen, sondern die Streikleitung und die hinter ihr stehende Verdi-Bürokratie.

Sehr entlarvend ist Ihre Aussage: "Die TV-N-Verschlechterungen waren nötig, ... da die Existenz des Betriebes durch Linienausschreibungen bedroht war." Das ist exakt das Argument von Sarrazin und des rot-roten Senats, die behaupten, sie würden die Privatisierung verhindern, indem sie die Lohnkürzungen und den Sozialabbau, die bei einer Privatisierung drohen, selbst durchführen. Dieses Argument ist absurd und gleicht einem Selbstmord aus Angst vor dem Tod.

In Wirklichkeit dient der Lohn- und Sozialabbau durch die öffentliche Hand der Vorbereitung auf die Privatisierung, wie das auch bei den Berliner Wasserbetrieben der Fall war. Dazu kommt noch, dass die Gewerkschaftsfunktionäre als Dank für ihre tatkräftige Unterstützung beim Abbau der Sozialstandards in den kommunalen Betrieben regelmäßig mit Manager-Posten belohnt werden. So war BVG-Personalchef Lothar Zweiniger früher stellvertretender Verdi-Chef in Niedersachsen. Norbert Schmidt, Personalchef der Berliner Wasserbetriebe, war früher Bereichsgeschäftsführer der Gewerkschaft Öffentlicher Dienst, Transport und Verkehr (ÖTV). Manfred Rompf, Personalchef von Vivantes, war früher Vorsitzender des Landesfachbereichsvorstands von Verdi in Hessen. Und so weiter.

Norbert Hansen, der Vorsitzende der Eisenbahnergewerkschaft Transnet, hat gerade vorgemacht, wie schnell und skrupellos Gewerkschaftsführer die Seite wechseln und im Unternehmensvorstand nicht nur Millionen kassieren, sondern auch die Verträge aushebeln, die sie vorher ausgehandelt und unterschrieben haben.

Bei der BVG zirkulieren bereits Gerüchte, dass Frank Bäsler den Hansen macht und für seine Rolle im Streik mit einem hoch dotierten Posten im Management belohnt werden soll. Bereits jetzt verdient er als Verdi-Funktionär das drei- oder vierfache eines Bus- oder Straßenbahnfahrers.

Sie wissen das alles und sagen kein Wort über diese Korruption.

Aus Ihrer ganzen Argumentation spricht die Selbstherrlichkeit und Arroganz eines gewerkschaftlichen Apparats, der zwar von den Mitgliedern finanziert wird, aber völlig eigene Interessen vertritt. Während die herrschende Elite in Wirtschaft und Politik alle gesellschaftlichen Bereiche dem Profitinteresse und der persönlichen Bereicherung unterwirft, sieht die Gewerkschaftsbürokratie ihre Aufgabe darin, die Arbeiterklasse mit Hilfe einer bürokratischen Zwangsjacke unter Kontrolle zu halten und die bürgerlichen Verhältnisse zu verteidigen.

Wir sind der Auffassung, dass es höchste Zeit ist, dieser opportunistischen Politik von Verdi und den anderen Gewerkschaften entgegenzutreten. Deshalb rufen wir dazu auf, bei der Urabstimmung am nächsten Montag mit Nein zu stimmen.

Sie sagen: "Eine Ablehnung des Abschlusses bedeutet in jedem Fall, dass man mit einem weiter unbefristeten Arbeitskampf mit ungewissem Ergebnis rechnen muss." Doch auch da liegen Sie falsch! Kommt es bei der Urabstimmung zu einem mehrheitlichen "Nein", dann sollte die Belegschaft nicht zulassen, dass die alten Gremien in Kraft bleiben und der Arbeitskampf von der alten Streikführung "mit ungewissem Ergebnis" weiter geführt wird.

Stattdessen müssen auf außerordentlichen Streikversammlungen die bisher Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen und abgesetzt werden. Gleichzeitig muss eine neue Streikleitung und eine neue Verhandlungskommission gewählt werden, die ausschließlich den Beschäftigten Rechenschaft schuldig ist und eine enge Zusammenarbeit mit allen anderen Sektoren im öffentlichen Dienst anstrebt, um einen gemeinsamen und konsequenten Kampf gegen den Senat aus SPD und Linkspartei zu führen.

Viele BVG-Beschäftigte sind angesichts des erneuten Ausverkaufs durch Verdi entschlossen, der Gewerkschaftsbürokratie die Gefolgschaft zu verweigern. Wir begrüßen das!

Mit freundlichen Grüßen,

im Namen der WSWS-Redaktion

Ulrich Rippert

Siehe auch:
"Verdi unterschreibt Ausverkauf des Verkehrsarbeiterstreiks in Berlin - Stimmt in der Urabstimmung mit Nein!"
(7.Mai 2008)
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