Frankreich: Sarkozy sucht Konfrontation mit der Arbeiterklasse

Frankreich steht am Beginn einer Konfrontation zwischen dem rechten Präsidenten Nicolas Sarkozy und der Arbeiterklasse, die sich zu einer der erbittertsten sozialen Auseinandersetzungen der jüngeren französischen Geschichte auswachsen könnte.

Am Dienstagabend legten die Beschäftigten der staatlichen Eisenbahn SNCF die Arbeit nieder. Sieben der acht bei der SNCF vertretenen Gewerkschaften hatten zu einem unbefristeten Streik aufgerufen, über dessen Fortsetzung jeden Tag neu abgestimmt wird. Am heutigen Mittwoch schließen sich die Beschäftigten des Pariser Nahverkehrs und der Strom- und Gasbetriebe dem Ausstand an.

Für den kommenden Mittwoch ist ein Aktionstag im öffentlichen Dienst zur Verteidigung der Einkommen geplant, und am 29. November wollen die Beschäftigten der Justiz gegen eine Justizreform demonstrieren. Die Studenten protestieren schon seit Tagen gegen eine Universitätsreform. Mehrere Universitäten sind blockiert.

Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen die Sonderrenten für Staatsbedienstete. Die sogenannten "régimes spéciaux", deren Wurzeln ins 19. Jahrhundert und weiter zurückreichen, erlauben es Staatsbediensteten in besonders anstrengenden Berufen bereits mit 50 oder 55 Jahren in den Ruhestand zu treten und nach 37,5 Beitragsjahren die volle Rente zu beziehen, die sich auf 75 Prozent des zuletzt bezahlten Gehalts bemisst.

Es gibt "régimes spéciaux" für mehrere Berufsgruppen, wobei die Eisenbahner und die Beschäftigten der Strom- und Gasbetriebe die mit Abstand wichtigsten sind. Bei der Bahn stehen 300.000 Rentner 164.000 aktiv Beschäftigten gegenüber. Bei den Gas- und Elektrizitätswerken halten sich Beitragszahler und Rentner mit jeweils etwa 145.000 die Waage, ebenso beim Pariser Nahverkehr mit jeweils rund 45.000. Das Defizit der Sonderrentenkassen wird aus dem Staatshaushalt beglichen. In diesem Jahr betragen die staatlichen Zuschüsse allein für die Rentenkasse der SNCF 2,7 Milliarden Euros.

Aus Sicht der herrschenden Klasse bildet die Abschaffung der "régimes spéciaux" den Schlüssel, um alle Sozialsysteme abzubauen - und zwar nicht nur aus ökonomischen, sondern vor allem aus politischen Gründen.

Die Eisenbahner und Gas- und Elektrizitätsbeschäftigten gehören traditionell zu den militantesten Teilen der französischen Abeiterklasse. Als der damalige Präsident Jacques Chirac und sein Premier Alain Juppé 1995 zum ersten Mal versucht hatten, die "régimes spéciaux" zu beseitigen, hatten sie mit einer Streikwelle reagiert, die ganz Frankreich wochenlang lahm legte. Juppé sah sich schließlich zu einem Teilrückzug gezwungen. Chirac hat es danach nie wieder gewagt, die Sonderrenten anzutasten. Selbst als der damalige Sozialminister und heutige Premier François Fillon 2003 eine unpopuläre Rentenreform durchsetzte, sparte er die "régimes spéciaux" aus.

Präsident Sarkozy will diese Scharte nun auswetzen. "Ich werde nicht tun, was andere vor mir getan haben," dröhnte er am Freitag - eine deutliche Anspielung auf Chiracs und Juppés Rückzug. Er hat die Abschaffung der Sonderrenten zum Testfall für den "Bruch" erklärt, den er im Wahlkampf versprochen hatte, und sein gesamtes persönliches Prestige damit verknüpft.

Es ist in Frankreich höchst außergewöhnlich, dass sich ein Präsident derart offen und direkt in eine innenpolitische Auseinandersetzung oder einen Arbeitskampf einmischt. Gewöhnlich überlässt er diese Aufgabe dem Premierminister. So kann er Distanz halten und notfalls die Regierung auswechseln, falls die Sache schief läuft.

Nicht so Sarkozy. ‚Entweder ihr oder ich’ lautet seine Botschaft an die Eisenbahner. Möglichkeiten für einen Kompromiss oder einen Rückzug hat er kaum offen gelassen. "Sieg oder vorzeitiges Ende des Sarkozysmus. In dieser Form und mit hohem Risiko für sich selbst definiert der Machthaber den Rahmen des ersten großen sozialen Konflikts, mit dem er konfrontiert ist," kommentierte die Zeitung Libération die Vorgehensweise des Präsidenten.

Während eines Deutschlandbesuchs am Montag bekräftigte Sarkozy seine Entschlossenheit, hart zu bleiben Er pries die dortigen "großen Reformen" als Vorbild für Frankreich und fügte hinzu, es gelte nun, "kaltes Blut" zu bewahren: "Wir sind gewählt worden, um Frankreich zu verändern, und wir machen diese Reformen, weil sie gemacht werden müssen."

Henri Guaino, einer der engsten Berater des Präsidenten, wurde noch deutlicher: "Wenn wir diese Reform nicht machen, können wir genauso gut ganz aufhören, denn dann machen wir überhaupt keine", sagte er.

Hatte sich Sarkozy vor eineinhalb Jahren, während der Massendemonstrationen gegen den Ersteinstellungsvertrag CPE, noch nachgiebig gezeigt, so gibt er sich nun unnachgiebig. Damals hatte er sich um das Präsidentenamt bemüht. Es "ging darum, den Ruf eines unversöhnlichen Ordnungsanhängers loszuwerden und Stimmen auf der Linken zu gewinnen," kommentiert dies die Tageszeitung Le Monde. "Heute ist die Gleichung eine ganz andere. Die geringste Abweichung von einem derart symbolhaften Projekt wie den régimes spéciaux würde seine Fähigkeit, das Land zu reformieren, empfindlich schwächen."

Die konservative Zeitung Le Figaro bemerkt, es sei in Frankreich Tradition, dass ein Präsident seine "wahre Legitimität" erst durch die Konfrontation auf der Straße gewinne. "Und durch den Sieg auf der Straße gewinnt (oder verliert) er seine Fähigkeit, die Reformen sehr viel weiter voranzutreiben und den Bruch in die Tat umzusetzen, den er seit über einem Jahr ankündigt," fügt die Zeitung hinzu.

Le Figaro gibt sich siegesgewiss und hofft: "Wenn Nicolas Sarkozy auf Anhieb dort einen Sieg erringt, wo ihm jedermann eine Sackgasse vorausgesagt hat, ist der Weg offen um eine ganze Menge veraltete Reliquien des französischen Sozialmodells in Frage zu stellen." In der Auseinandersetzung um die "régimes spéciaux" steht also sehr viel mehr auf dem Spiel, als nur die Renten der Eisenbahner.

Sarkozy kann sich bei seinem Vorgehen gegen die Arbeiterklasse vor allem auf zwei Faktoren stützen: Den Bankrott der Sozialistischen Partei und die Nachgiebigkeit der Gewerkschaften.

Er verdankte seinen Wahlsieg im Mai in erster Linie dem Umstand, dass sich die Sozialistische Partei durch ihre rechte Politik diskreditiert hatte. Seit der Wahl ist sie noch weiter nach rechts gedriftet und zerfällt in inneren Streitereien.

Das Fehlen jeglicher Opposition hat Sarkozy auch sechs Monate nach seiner Amtsübernahme eine gewisse Popularität bewahrt. Laut einer jüngsten, von der Zeitung Libération in Auftrag gegebenen Umfrage unterstützen ihn 59 Prozent er Befragten in der Frage der "régimes spéciaux".

Libération weist allerdings auch darauf hin, dass sich die Stimmung in wachsendem Maße gegen Sarkozy wendet. Über die Hälfte der Befragten sind der Ansicht, dass er in der Beschäftigungs- und Haushaltspolitik versagt habe. Bei der Kaufkraft sind es sogar 79 Prozent - eine Folge der steigenden Inflation, die der Bevölkerung zunehmend zu schaffen macht. Insgesamt haben nur noch 54 Prozent eine positive Meinung über den Präsidenten, der niedrigste Stand seit der Wahl. Im September waren es noch 66 Prozent gewesen.

Die Gewerkschaftsführer sind sich der Tatsache bewusst, dass die Auseinandersetzung über die "régimes spéciaux" einen Machtkampf mit Sarkozy bedeutet - und wollen diesem unter allen Umständen ausweichen. Alle ihre Verlautbarungen sind auf diesen Ton gestimmt. Sie beklagen sich bitter, dass die Regierung den Konflikt zuspitze und die Auseinandersetzung für politische Zwecke missbrauche. Sie flehen sie an, sich wieder mit ihnen an einen Tisch zu setzen.

So sagte Didier Le Reste, Führer der Eisenbahnergewerkschaft der CGT, in einem Interview mit Libération, er bedaure "diese Instrumentalisierung zu politischen Zwecken". Es gebe "Möglichkeiten, auf Spitzenebene aus dieser Konfliktsituation heraus zu kommen". Aber dazu müsse man "mit der Heimlichtuerei und den bilateralen Treffen aufhören" und "einen nationalen runden Tisch einberufen".

Jean-Claude Mailly, Generalsekretär des Gewerkschaftsverbands Force Ouvrière, hat in Le Monde betont, dass seine Organisation "nicht a priori eine Verbindung mit dem Streik der öffentlichen Bediensteten" am 20. November und mit den Protesten der Studenten wünsche. "Wir sind keine Anti-Sarkozy-Bewegung mit politischem Charakter," betonte er. Außerdem unterschieden sich die "régimes spéciaux" bei Bahn, Nahverkehr und Elektrizitätswerken deutlich voneinander. Deshalb müssten die Verhandlungen in jedem Betrieb einzeln geführt werden.

François Chérèque, der Führer der CFDT, ging sogar noch weiter: "Wenn es eine Vermischung der Bewegungen gegen die ‚régimes spéciaux’, der Staatsbediensteten und was weiß sonst noch gibt, behalten wir uns das Recht vor, uns [aus der Streikbewegung] zurückzuziehen", drohte er.

Die Gewerkschaftsführer haben eine tödliche Angst davor, dass sich die Auseinandersetzung über Sarkozys "Reformen" zu einer Massenbewegung ausweitet, die die Autorität der Regierung und des Präsidenten in Frage stellt. Das würde unweigerlich eine politische Krise auslösen und das ganze politische System erschüttern, auf dem die Macht der herrschenden Elite beruht. Anders kann die Auseinandersetzung aber nicht gewonnen werden. Sarkozy selbst hat daraus längst eine Machtfrage gemacht. Es ist daher abzusehen, dass die Gewerkschaften die Bewegung umso offener sabotieren werden, je mehr sie an Stärke gewinnt.

Siehe auch:
Französische Studenten mobilisieren gegen Universitätsreform
(13. November 2007)
Streik bei Verkehrsbetrieben bringt Frankreich zum Stillstand
(20. Oktober 2007)
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