Israel versucht, seine jüngste militärische Offensive als unvermeidliche Reaktion auf die Gefangennahme eines israelischen Soldaten hinzustellen. Diese Behauptung wird von Tag zu Tag unglaubwürdiger. Tel Aviv beabsichtigt offensichtlich, die Hamas-geführte Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zu stürzen, und nimmt dabei massive Schäden an der Infrastruktur der Palästinensergebiete und schwere zivile Opfer in Kauf.
Der jüngste Angriff umfasst auch Militärrazzien auf der Westbank, in deren Verlauf palästinensische Spitzenpolitiker und Abgeordnete festgenommen wurden. Außerdem haben vier israelische Kampfflugzeuge provokativ die Sommerresidenz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad während dessen Anwesenheit überflogen. Eine Armeesprecherin sagte, der Überflug sei als Warnung gedacht, "weil die syrische Führung terroristische Führer, wie zum Beispiel die Hamas unterstützt und beherbergt, die den Soldaten gekidnappt hat".
Israel behauptet, der Überfall, in deren Verlauf der Obergefreite Gilad Schalit gefangen genommen wurde, sei von Hamas-Führer Khaled Meschaal ausgegangen, der in Damaskus im Exil lebt. Die Regierung von Ministerpräsident Ehud Olmert hat damit gedroht, Meschaal umzubringen.
Eine solche Aktion wäre gleichbedeutend mit einer Kriegserklärung an Syrien. Sie würde auch gut zu dem aktuellen Kesseltreiben Washingtons gegen das syrische Assad-Regime passen und parallel zu den Übergriffen auf die besetzten Palästinensergebiete die Spannungen zwischen den USA, Israel und dem Iran weiter anheizen. Seit September letzten Jahres hat Israel dem Iran schon mehrfach mit einem Militärschlag gedroht.
In Washington findet eine solche Option die Unterstützung von neokonservativen Hardlinern, die seit langem argumentieren, dass sich die USA nur aus dem irakischen Sumpf befreien könnten, wenn die Militäroffensive auch auf den Iran und möglicherweise auf Syrien ausgeweitet würde. Nur so könne Amerika seine unangefochtene Vorherrschaft über den Nahen Osten und dessen Ölschätze erfolgreich behaupten.
Wahrscheinlich hat die US-Regierung einer israelischen Offensive im Gaza-Streifen zugestimmt, als sich Präsident Bush Ende Mai im Weißen Haus mit Olmert traf. Bei der damaligen so genannten "Strategie-Sitzung" ging es um die Palästinensische Autonomiebehörde, um Irans angebliche Nuklearambitionen und um die US-Besatzung des Iraks.
Vieles deutet darauf hin, dass Israel das Eindringen eines Palästinenserkommandos in Kerem Schalom mit Absicht zuließ, um einen Vorwand für eine derartige, von langer Hand geplante Offensive zu haben. Olmert hat bisher keine Erklärung für die Behauptungen des Geheimdiensts Schin Bet, er habe die Regierung und die israelischen Streitkräfte IDF (Israeli Defence Force) vor einem bevorstehenden palästinensischen Überfall gewarnt. Stattdessen ordnete Olmert eine "Untersuchung" an, um das Thema zu begraben, während die Militäraktionen weitergehen.
Israel war in der Lage, innerhalb weniger Tage dreitausend Soldaten und hundert Panzer einzusetzen. Dies ist ein klarer Hinweis darauf, dass die Aktion schon vorher geplant war. Dasselbe trifft auf die Überfälle der IDF auf die Westbank zu. In ihrem Verlauf wurden 64 Hamas-Minister und -Abgeordnete und 23 Offiziere festgenommen, unter ihnen auch der stellvertretende Ministerpräsident Nasser al-Schaer, Finanzminister Omar Abdel Rasek, Arbeitsminister Mohammed Barghuti, Minister Samir Abu Ajascha, sowie der Minister für Jerusalem-Fragen, Naif Rajub, der Bruder des hohen Fatah-Funktionärs Jibril Rajub.
Israels Minister für Nationale Infrastruktur, Benjamin Ben-Elieser, ließ durchblicken, auch der palästinensische Ministerpräsident Ismail Hanija sei vor Verhaftung oder anderem Schaden nicht sicher. "Niemand ist immun... Dies ist keine Regierung. Das ist eine Mordorganisation", sagte er.
In einem Bericht der israelischen Tageszeitung Haaretz hieß es fast beiläufig: "Die Festnahmen waren seit einigen Wochen geplant und wurden am Mittwoch von Staatsanwalt Menachem Mazuz bewilligt."
Aus den Aussagen israelischer Sprecher geht hervor, dass die Verhaftung der zentralen Hamas-Führung, einschließlich eines Drittels des 24-köpfigen Kabinetts, mit Schalits Gefangennahme gar nichts zu tun hat. Es wurde die Vermutung geäußert, die verhafteten Politiker könnten als Verhandlungsmasse benutzt werden, um die Freilassung des 19-jährigen Soldaten zu erwirken. Dem widersprach eine IDF-Sprecherin mit den Worten: "Das war schlicht eine Operation gegen eine terroristische Organisation. ... Sie werden verhört und einem Richter vorgeführt, um ihre Haft zu verlängern, und man wird die Anklageschrift gegen sie vorbereiten."
Israel hat nicht nur die Hamas enthauptet, es hat gleichzeitig den Präsidenten der Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, politisch diskreditiert und damit jede Hoffnung im Keim erstickt, er könne bei der Hamas die Akzeptanz einer Verhandlungslösung mit Tel Aviv bewirken.
Fatah-Sprecher Saeb Erekat beschuldigte Israel, "einen unbefristeten Krieg auf breitester Front gegen das palästinensische Volk zu führen, der die palästinensische Präsidentschaft und die palästinensische Regierung stürzen soll". Er fasste die politischen Auswirkungen der Verhaftungen mit den Worten zusammen: "Wir haben keine Regierung, wir haben nichts mehr. Man hat uns alles genommen."
Israel verfolgt das Ziel, die Palästinenser jeder politischen Führung zu berauben, schon seit es zum ersten Mal erklärt hatte, es habe "keinen Partner für den Frieden". Mit dieser Rechtfertigung begründete es damals die militärische und diplomatische Isolation Jassir Arafats. Nach Arafats Tod übertrug es die gleiche Behauptung auf seinen Nachfolger Abbas und benutzte Abbas’ Unfähigkeit, islamistische Kämpfer zu kontrollieren, als Vorwand. Als Hamas im Januar die Wahlen zum Parlament der Palästinenser gewann, sicherte sich Israel die Zustimmung der Westmächte für eine wirtschaftliche und militärische Blockade mit der Begründung, die Islamisten hätten die erklärte Absicht, Israel zu zerstören.
Eine wichtige Erwägung für die Eröffnung der aktuellen Kampfhandlungen war die Überlegung, dass eine Zustimmung der Hamas zu einer Zweistaatenlösung der Behauptung Israels die Grundlage entziehen werde, die Palästinenser müssten isoliert werden,. Hamas hat ausgerechnet am Tag der israelischen Invasion im Gaza-Streifen eine solche Zweistaatenlösung für den Israel-Palästina-Konflikt unterzeichnet und somit implizit das Existenzrecht Israels anerkannt.
Israel sieht die politische Enthauptung der Palästinenser als notwendige Voraussetzung, um seine Grenzen einseitig festlegen zu können. Olmert will jede mögliche organisierte Opposition ausschalten, ehe er daran geht, seine Pläne in die Tat umzusetzen und 45 Prozent der Westbank, einschließlich Ost-Jerusalems, zu annektieren.
Eine weitere Voraussetzung besteht darin, die Palästinenser in einen Zustand schierer Verzweiflung zu versetzen. Die Wirtschaftsblockade der besetzten Gebiete, die seit Januar aufrechterhalten wird, hat bereits verheerende Auswirkungen gezeigt. Die verarmte Bevölkerung der Westbank und des Gaza-Streifens hat keine Verdienstmöglichkeiten mehr, weil die mittellose PA ihnen die Löhne schuldet und sie gleichzeitig nicht mehr in Israel arbeiten darf.
Die aktuelle Offensive wird eine umfassende humanitäre Katastrophe auslösen. Israels erster Schlag war nicht gegen die Hamas gerichtet, sondern gegen die Zivilbevölkerung. Das einzige Kraftwerk in Gaza wurde zerstört, was nicht nur zum Ausfall der Wasserpumpen, sondern auch der Kühlanlagen bei sengender Hitze führte. Die Anlage produzierte 42 Prozent des Stroms für die 1,3 Millionen Einwohner des Gaza-Streifen. Das Büro Abbas beschrieb die Aktion als "inakzeptable und barbarische Kollektivstrafe gegen Zivilisten, darunter Frauen, Kinder und alte Menschen".
Es ist nur ein Vorgeschmack von dem, was noch bevorsteht. Israel hat bedeutende Streitkräfte um den stillgelegten Gaza-Flughafen im Süden zusammengezogen und ein ähnliches Manöver auch im Norden begonnen. Dies deutet auf eine klassische Zangenbewegung hin, deren eigentliches Ziel Gaza City und andere größere Siedlungen sein könnten. Israel hat Flugblätter über Beit Hanun, einer Stadt im Norden des Gaza-Streifens abgeworfen, die die Einwohner auffordern, das Gebiet zu verlassen. Führende Militärquellen sagen eine Massen-Evakuierung voraus.
Bedrohlich wirken auch Behauptungen, der Obergefreiter Schalit werde im Flüchtlingslager Khan Junis im Süden des Gaza-Streifens versteckt, wo über 200.000 Menschen leben. Es gab bereits Luftschläge, doch es kann auch zu einer vollständigen Bodeninvasion kommen, die zu mutwilligen Zerstörungen in einem Ausmaß führen würde, wie es sie seit der Verwüstung von Jenin auf der Westbank im Jahr 2002 nicht mehr gegeben hat.
Israel führt einen Aggressionskrieg, der in offener Missachtung des Völkerrechts von Kollektivstrafen, gezielten Morden und der Festnahme gewählter Politiker begleitet wird. Dies ist nur mit der stillschweigenden Zustimmung der Großmächte möglich.
Washington könnte seine Unterstützung für Israels Vorgehen nicht klarer ausdrücken. Bushs Sprecher Tony Snow erklärte, Hamas sei "an der Gewaltanwendung mitschuldig", und Israel habe das Recht, sich zu verteidigen. Weder die Europäische Union, noch die Vereinten Nationen haben Israel verurteilt. Als sich die G-8-Außenminister in Moskau versammelten, forderten sie Israel lediglich auf, "Zurückhaltung" zu üben, und erklärten, dass "die Verhaftung gewählter Mitglieder der palästinensischen Regierung und Legislative besondere Sorge" hervorrufe.
Die schreckliche Situation, mit der die palästinensischen Massen konfrontiert sind, beweist, dass ihre demokratischen und sozialen Bestrebungen nicht auf der Grundlage eines nationalen Programms und unter Führung der palästinensischen Bourgeoisie verwirklicht werden können. Alles, was im Verlauf von Jahrzehnten heroischen Kampfes und unermesslicher Opfer erreicht wurde, ist die Schaffung eines militärisch schwer bewachten Ghettos, das auf Gedeih und Verderb von einem mächtigeren Nachbarn abhängig ist.
Fatah und Hamas haben einer Zweistaatenlösung an einem Zeitpunkt zugestimmt, an dem Israel unmissverständlich zu erkennen gibt, dass es noch nicht einmal eine völlig verstümmelte und bruchstückhafte Form palästinensischer Souveränität zulassen wird. Beide beschränken sich auf Appelle an die "internationale Gemeinschaft", Israel in die Schranken zu weisen, oder an die arabischen Staaten, den Palästinensern zu Hilfe zu kommen. Diese Hoffnung ist vergeblich. Mehr als lauwarmer Protest wird von der Arabischen Liga nicht kommen.
Im Fall von Ägypten ist die Annahme begründet, dass es schon vorher über die Pläne Israels Bescheid wusste. Auf jeden Fall hat es seine Zusammenarbeit beim Angriff auf den Gaza-Streifen deutlich gemacht. Etwa 2.500 ägyptische Wachleute wurden am Montag in der Gegend von Rafah stationiert. Die offizielle Begründung lautete, man müsse verhindern, dass der Obergefreite Schalit über die Grenze geschmuggelt werde. In Wirklichkeit wird es ihre Aufgabe sein, die Tausende Flüchtlinge aufzuhalten, die bei einem voll entfesselten Militärangriff zu erwarten sind.
Die israelische Arbeiterklasse ist durch das nationalistische Programm des Zionismus in eine tragische Sackgasse geraten. Die israelische Bourgeoisie, die versprochen hat, dem jüdischen Volk eine sichere Heimat zu verschaffen, hat stattdessen einen monströsen und schwer bewaffneten Garnisonsstaat aufgebaut, dessen Verbrechen gegen die Palästinenser ihm die Feindschaft von Millionen im Nahen Osten und auf der ganzen Welt zugezogen haben. Von massiven Subventionen und Militärhilfe der Vereinigten Staaten abhängig, hat er sich gleichzeitig als unfähig erwiesen, der israelischen Arbeiterklasse wirtschaftliche Sicherheit zu bieten.
In Israel verschärfen sich die bösartigen sozialen und politischen Spannungen, seit die herrschende Elite ein marktwirtschaftliches Programm mit Angriffen auf die bisherigen Sozialprogramme und den Lebensstandard der Arbeiterklasse verfolgt. Auf der rechten Flanke der Kadima-Labour-Regierung droht ein offen faschistisches Element, gestärkt durch die israelische Besetzung der Westbank und die Förderung des Siedlungsbaus. Die explosive innere Lage hat bei der Entscheidung, neue Provokationen und Angriffe gegen die Palästinenser zu führen, eine wichtige Rolle gespielt. Sie dienen als Mittel, die innere Opposition abzulenken.
Nur wenn sich arabische und jüdische Arbeiter zusammenschließen und für ein sozialistisches Programm kämpfen, können die Machenschaften Washingtons und Tel Avivs besiegt und eine Katastrophe verhindert werden.
Alle Menschen in Israel, die ein weiteres Blutvergießen verhindern wollen, müssen mit dem jüdischen Nationalismus brechen und den zionistischen Staat zurückweisen. Das Leiden des palästinensischen Volkes und die Sackgasse der israelischen Arbeiter fordern den Aufbau einer revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse und der unterdrückten Massen. Nur so können die imperialistische Vorherrschaft und kapitalistische Ausbeutung beendet werden, die von den reaktionären Regimes der arabischen Bourgeoisie ebenso wie von der bewaffneten Macht Israels verteidigt werden.