Der britische Premierminister Tony Blair hat deutlicher gemacht, was er unter einer europäischen Wirtschaftsreform versteht. Als Antwort auf die Herausforderung der Globalisierung fordert er die Zerstörung aller verbliebenen sozialen Errungenschaften in Europa und eine massive Verschärfung der Ausbeutung der arbeitenden Bevölkerung.
Am 22. Juni hielt er seine Antrittsrede vor dem Europaparlament zur Eröffnung seiner sechsmonatigen Amtszeit als EU-Präsident. Er tritt an die Spitze einer Europäischen Union, in der sich die Spannungen zwischen den großen europäischen Mächten verschärfen. Vor Blairs Auftritt hatten ihn der französische Präsident Jacques Chirac und Jean-Claude Juncker, der Premierminister von Luxemburg, frontal angegriffen.
Juncker, der letzte Woche den Brüsseler Gipfel geleitet hatte, beschuldigte Großbritannien, das Scheitern des Gipfels verursacht zu haben, und erhielt dafür Beifall von Abgeordneten des Europaparlaments. Er sagte, Blair sollte sich seines Vorgehens "schämen".
Chirac schrieb auf seiner wöchentlichen Kabinettsitzung das Nicht-Zustandekommen einer Einigung über den EU-Haushalt der "britischen Unnachgiebigkeit" zu. Laut dem Canard Enchainée hat Chirac Blair privat mit Thatcher verglichen, er sei "nur schlimmer - so arrogant wie sie, aber noch egoistischer".
Blair rühmt sich nicht nur seiner Fähigkeit, Margaret Thatcher nachzueifern, er ist auch der Meinung, er könne eine rechte Wirtschaftspolitik erfolgreicher durchsetzen als Thatcher, weil er sie mit Lippenbekenntnissen zu einer fortschrittlichen Sozialpolitik verbindet.
Als Thatcher 1979 ihr Amt antrat, stand sie auf der Schwelle von Downing Street Nr. 10 und sagte in Ahnlehnung an den heiligen Franziskus: "Wo Zwietracht herrscht, lasst uns Einigkeit schaffen." Blair versuchte sie zu übertreffen, als er den Mitgliedern des Europaparlaments in Brüssel erklärte: "Ich glaube an Europa als politisches Projekt. Ich glaube an ein Europa mit einer starken, fürsorglichen sozialen Dimension. Nie könnte ich ein Europa akzeptieren, das nur ein Wirtschaftsmarkt wäre."
Die Bedeutung solcher Worte hängt natürlich davon ab, was man unter "Harmonie", "politischem Projekt" und "starker sozialer Dimension" versteht.
Als Thatcher 1984 den britischen EU-Finanzrabatt aushandelte, wurde sie mit dem berühmten Ausspruch zitiert: "I want my money back!". Blair dagegen sagte dem Europaparlament, es könne sein Geld behalten. Alles was er verlange, sei eine grundlegende Restrukturierung der gesamten EU.
Blair ließ einige versöhnlichen Töne hören und bezeichnete sich als "leidenschaftlichen Europäer". Aber der Tenor seiner Rede war ebenso kämpferisch wie in der vergangenen Woche, als er dem EU-Haushaltentwurf seine Zustimmung verweigerte.
Er bestritt, dass es einen Gegensatz zwischen einem Europa des "freien Marktes" und einem "sozialen" Europa gebe. Die Behauptung, bei seinen Differenzen mit Frankreich und Deutschland handle es sich um einen Konflikt "zwischen denen, die wieder zurück zu einem gemeinsamen Markt wollen, und denen, die an Europa als politisches Projekt glauben", sei eine Erfindung seiner Gegner.
Es gebe schlicht keine andere Möglichkeit, als wirtschaftliche Veränderungen und sozialpolitische Maßnahmen durchzusetzen, wie sie seine Regierung eingeführt habe, erklärte er. Sonst würde das europäische Ideal "durch Untätigkeit im Angesicht der Herausforderung sterben".
Er lobte die europäischen Politiker, die "50 Jahre Frieden, 50 Jahre Wohlstand, 50 Jahre Fortschritt" erreicht hätten. Aber die Welt habe sich verändert, sagte er. Heute dominierten die europäischen Nationen nicht mehr die Welt. "Die USA sind die einzige Supermacht. Aber in wenigen Jahrzehnten werden China und Indien die größten Volkswirtschaften der Welt sein, jede mit einer Bevölkerung, die dreimal so groß ist wie die Gesamtbevölkerung der EU." Europa müsse sich zusammenschließen, um sich ökonomisch und politisch "in unserer heutigen Welt zu behaupten".
Wie üblich behauptete Blair, er trete im Interesse des "Volkes" für einen Wandel ein und bemühe sich um dessen Unterstützung für das Projekt der europäischen Integration. Er sagte, die Tatsache, dass die EU-Verfassung trotz einer vierjährigen vorangegangenen Diskussion in Frankreich und Holland abgelehnt worden sei, bestätige seinen politischen Kurs. "Die Realität ist, dass es in den meisten Mitgliedstaaten heute schwer wäre, in einer Volksabstimmung ein Ja dafür zu bekommen", erklärte er.
Er betonte, die Abstimmung habe sich nicht gegen die Verfassung gerichtet, die in Ordnung sei, sondern sei "lediglich das Vehikel (...), mit dem die Bürger ihre grundsätzlichere Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in Europa bekundeten". Es handle sich um eine "Krise der politischen Führung".... "Die Menschen posaunen es von den Stadtmauern herunter. Hören wir zu?"
Durch diesen Kunstgriff wich Blair dem Zusammenhang zwischen der weitverbreiteten sozialen Unzufriedenheit und der Ablehnung der Verfassung aus. Sowohl in Frankreich wie in Holland richtete sich die massenhafte Opposition gegen die EU-Verfassung gegen die ungezügelte, unternehmerfreundliche Wirtschaftspolitik, die zur Zerstörung aller sozialen Programme führt und die Blair befürwortet.
Der britische Premierminister sagte, die Frage sei nicht, ob ein Wandel notwendig sei, sondern wie man die in der Ära der Globalisierung unvermeidlichen sozialen Verwerfungen handhaben könne, um einem Anwachsen des Extremismus vorzubeugen. Er sei nur allzu gerne bereit, im Rahmen einer Debatte über einen "rationaleren Haushalt" den britischen Rabatt aufzugeben.
Dazu gehöre eine "Modernisierung" von Europas Sozialmodell, das gescheitert sei, wie die Zahl von 20 Millionen arbeitslosen Menschen und die Tatsache zeige, dass die Produktivität hinter die der USA zurückfalle. In Europas Wirtschaft zeigten "alle Indikatoren einer modernen Volkswirtschaft - Ausbildung, Forschung und Entwicklung, Patente, IT - nach unten", sagte er.
Düster fuhr er fort: "Indien wird seinen Biotechnologiesektor in den nächsten fünf Jahren verfünffachen. China hat seine Ausgaben für Forschung und Entwicklung in den letzten fünf Jahren verdreifacht." Dann kam er zum Kern seiner Botschaft und betonte: "Unser Sozialmodell sollte darauf angelegt sein, unsere Konkurrenzfähigkeit zu verbessern." Eine moderne Sozialpolitik bestehe "nicht in Regulierung und Kündigungsschutz", sondern in einer "aktiven Arbeitsmarktpolitik" und einer Konzentration auf die Schaffung gut ausgebildeter Arbeitskräfte.
Der Kok-Bericht, sagte er, "weist uns den Weg". Er spielte damit auf den Bericht an, den die Gruppe um den früheren holländischen Ministerpräsidenten Wim Kok der Europäischen Kommission im November 2004 vorgelegt hatte. Der Bericht kritisierte die Unfähigkeit der EU, eine wirtschaftliche und soziale Umstrukturierung mit der nötigen Energie durchzusetzen. Zur Lösung der Schwierigkeiten der EU hatte Kok damals empfohlen, die Arbeitszeitgesetze zu reformieren, vermehrt auf Zeitarbeit zu setzen und alles zu beseitigen, was flexibleren und mobileren Arbeitsverhältnissen im Wege steht.
Kurz gesagt, so Blair, werde die EU gezwungen sein "einiges an überflüssigen Vorschriften abzuschaffen, Bürokratie abzubauen und sich zum Fürsprecher eines globalen, weltoffenen, wettbewerbsfähigen Europas zu machen".
Er vergaß nicht, einen ernsthafteren Umgang mit Themen einzufordern, die zu seinen rechten Steckenpferden gehören - Law-and-Order, Terrorismusbekämpfung, Zuwanderungsbeschränkung und Aufstockung der europäischen Militärkapazität. Auf diese Weise könne "ein starkes Europa" zu einem "aktiven außenpolitischen Akteur" werden, nicht in Konkurrenz zu den Vereinigten Staaten, sondern als deren "guter Partner".
Blair stellte Großbritanniens deregulierte Wirtschaft und die Angriffe seiner Regierung auf alle sozialen Errungenschaften als vorbildlich für ganz Europa hin. Allen Behauptungen Blairs in Brüssel zum Trotz ist dies die Vision einer Polarisierung zwischen den Superreichen und einer schlechtbezahlten, sozial entrechteten Mehrheit, die an die Romane von Charles Dickens erinnert. Aber das ist nicht alles. Blairs wiederholte Anspielungen auf die Notwendigkeit, sich mit China und Indien zu messen, sind ein Hinweis darauf, welche Art von sozialen Kürzungen und Arbeitsbedingungen er in Europa einführen will.
In das gleiche Horn stieß auch der britische Schatzkanzler, Gordon Brown, in seiner diesjährigen Mansion-House-Rede. Er warnte, in der EU sei das landläufige Wirtschaftsdenken "nicht nur veraltet, sondern auch kontraproduktiv". Er sagte: "Europa... entdeckt, dass sich infolge der Globalisierung die politischen Aufgaben seiner ersten Phase, der Ära des Handelsblocks, vollkommen geändert haben. Heute steht Europa vor der Herausforderung des globalen Wettbewerbs.... Uns stellt sich die Frage, wie aus dem älteren, nach innen gekehrten Modell Europa ein flexibles, sich reformierendes, offenes und global-orientiertes Europa werden kann, das in der Lage ist, sich der wirtschaftlichen Herausforderung Asiens, Amerikas und darüber hinaus zu stellen."
Wenn China und Indien der wirtschaftliche Maßstab sind, ist eine Verteidigung der Arbeitsbedingungen und Sozialleistungen, wie sie im letzten halben Jahrhundert in Europa üblich waren, vollkommen ausgeschlossen. Obwohl diese Errungenschaften bereits stark untergraben sind, lässt das Ausmaß der Angriffe auf die europäische Arbeiterklasse, das jetzt von Blair befürwortet wird, alles Bisherige erblassen.
In Blairs Meinungsverschiedenheiten mit Deutschland und Frankreich drückt sich nicht nur der "nationale Egoismus" aus, den ihm Bundeskanzler Gerhard Schröder und der französischen Präsidenten Jacques Chirac vorwerfen. Natürlich versucht er, britische Interessen in Europa zu vertreten. Doch spricht aus ihm auch das willfährige Werkzeug einer internationalen Finanzoligarchie und die Stimme der Bush-Regierung in Washington. Diese Kreise sehen in Frankreich ein inakzeptables Beispiel eines praktisch unangetasteten Sozialstaats, und Deutschland halten sie für ein Land, das den Weg der für nötig gehaltenen gesellschaftlichen "Reformen" noch kaum betreten hat. Sie wollen, dass die ökonomischen und sozialen Beziehungen in Europa in ihrem Sinne umgekrempelt werden und scheren sich nicht im Geringsten um die Konsequenzen.