Marxismus, Internationales Komitee und wissenschaftliche Perspektiven

Eine historische Analyse der Krise des US-Imperialismus

Am Wochenende vom 8. und 9. Januar fand in Ann Arbor, Michigan, eine nationale Mitgliederversammlung der amerikanischen Socialist Equality Party statt. Den einleitenden Bericht gab der nationale Sekretär der Partei, David North, der gleichzeitig Chefredakteur der World Socialist Web Site ist.

Es ist angebracht, diese nationale Mitgliederversammlung der Socialist Equality Party mit einer Schweigeminute zum Gedenken an die Zehntausenden Menschen zu beginnen, die im vergangenen Monat in Südasien dem Tsunami zum Opfer gefallen sind, der sichüber den Indischen Ozean ergoss.

Es gab überall auf der Welt tief empfundene Sympathie und echte Solidarität für die Opfer des Tsunami. Doch wie sehr unterschieden sich die widerwilligen, heuchlerischen und formalen Betroffenheitserklärungen der Führer des amerikanischen und britischen Imperialismus von diesen Bekundungen wirklicher Trauer! Weder Bush noch Blair waren in der Lage, ihre Besorgnis über das Schicksal der Millionen Menschen, deren Lebensgrundlage durch die Katastrophe vernichtet wurde, in glaubhafter Weise zum Ausdruck zu bringen.

Selbst den Medien war die Reaktion - oder besser, die fehlende Reaktion - des Weißen Hauses auf die sich entfaltende Tragödie peinlich. Erst fast drei Tage Schweigen; der Präsident werkelte auf seiner Ranch herum und der britische Premier bräunte sich an einem ägyptischen Strand, so gut wie unbewusst über die Konsequenzen des Tsunami. Dann kam Bushs lächerliches Angebot von 15 Millionen Dollar Hilfe, dass dann widerwillig auf 35 Millionen erhöht und später, als die Knauserigkeit des Weißen Hauses zum internationalen Gespött wurde, auf 350 Millionen aufgestockt wurde. Vergleicht man diese Summe mit den Geldern, die von den Vereinigten Staaten ausgegeben werden, um Menschen zu töten, so sind 350 Millionen Dollar nicht viel mehr als Kleingeld.

350 Millionen Dollar sind nur ein Bruchteil der Summe, die Jahr für Jahr in Form von Gehältern und Aktienoptionen an die Vorstandsvorsitzenden der 500 größten amerikanischen Firmen bezahlt wird. Diese Summe beläuft sich auf mehrere Milliarden Dollar. 2003 kassierte Charles M. Cawley von MBNA über 45 Millionen Dollar, Stanley O’Neal von Merrill Lynch 28,3 Millionen, Daniel P. Amos von Aflac 37,3 Millionen, Kenneth L. Chennault von American Express 40 Millionen, Patrick Stokes von Anheuser Busch 49 Millionen. Ich habe diese Namen mehr oder weniger zufällig aus einer Liste von 1.000 Vorstandsmitgliedern ausgewählt. Sie erschien auf einer Website, die die Gehaltsausschüttungen in großen Konzernen verfolgt. (1)

Betrachtet man die Summen, die auf den Investmentkonten dieser Leute herumschwappen, so sind die von den Medien gemeldeten Spenden für wohltätige Zwecke aus den USA nicht allzu beeindruckend. Der durchschnittliche Spender aus der Arbeiterklasse gibt mit Sicherheit einen viel größeren Prozentsatz seines wöchentlichen Einkommens für Hilfszwecke aus, als das Vorstandsmitglied, das die Angelegenheit mit dem Steuerberater durchspricht und die Steuerersparnis berechnet, bevor es einen Scheck unterschreibt.

Nach dem Tsunami haben viele Presseberichte die geologischen Ursachen des Desasters erklärt. Es handelt sich dabei um wichtige wissenschaftliche Informationen. Aber sie müssen durch eine Analyse der gesellschaftlichen Faktoren ergänzt werden, die maßgeblich und ursächlich zu den schrecklichen Opferzahlen beigetragen haben. Dieser Aufgabe weichen die Medien in der Regel aus. Sie finden es einfacher, sich über die Unergründlichkeit der Ziele der Natur auszulassen. So informiert uns New York Times -Kolumnist David Brooks: "Menschen sind nicht das Hauptanliegen des Universums. Wir sind nur Mücken auf der Kruste der Erde. Die Erde zuckt die Achseln, und 140.000 Mücken sterben. Sie sind Opfer von Kräften, weitaus stärker und dauerhafter als sie selbst." Derartige Kommentare - eine Mischung aus Ignoranz und Verachtung für die Menschheit - erfüllen einen bestimmten Zweck: Sie weichen der Realität aus und vertuschen unangenehme gesellschaftliche, ökonomische und politische Wahrheiten.

Die Auswirkungen des Tsunami enthüllen auf anschauliche Weise den irrationalen Charakter des Kapitalismus, seine Unfähigkeit, die Produktivkräfte in einer Weise zu entwickeln, die zum Ansteigen des Lebensstandards breiter Bevölkerungsschichten führt. Die Medien schwärmen vom "asiatischen Wunder", aber das Kapital, das während des letzten Jahrzehnts in die Region geflossen ist, kommt nur kleinen, privilegierten Eliten zugute. Hunderte Millionen leben in asiatischen Elendssiedlungen, die selbst unter den günstigsten klimatischen Bedingungen kaum Schutz vor den Elementen bieten. Es zeugt vom inhumanen Charakter der wirtschaftlichen Entwicklung in der Region, dass eine Katastrophe, die mehr als 150.000 Menschenleben gekostet hat, von der internationalen Finanzwelt nicht als wichtiges ökonomisches Ereignis betrachtet wird. Die regionalen Börsen- einschließlich der indonesischen, thailändischen, indischen und selbst srilankischen - haben nach dem Tsunami keinen bedeutenden Einbruch erlebt. Der Grund ist, dass große Teile der Bevölkerung dieser Länder in entsetzlicher Armut leben und nur am Rande mit der nationalen Wirtschaft in Beziehung stehen.

Die sozialen Bedingungen in diesen Ländern müssen im Zusammenhang mit ihrer politischen Geschichte gesehen werden. Betrachten wir die beiden Länder, in denen der Schaden am größten war: Indonesien und Sri Lanka. Man kann den Charakter der modernen indonesischen Gesellschaft - die unerträgliche Armut, die weitverbreitete Unterernährung, die Lebenserwartung von weniger als 65 Jahren für Männer - nicht verstehen, ohne auf den 1. Oktober 1965 einzugehen. An jenem Tag organisierte die CIA in Zusammenarbeit mit faschistischen indonesischen Offizieren unter Führung von General Suharto einen Putsch gegen den linken nationalistischen Präsidenten Sukarno. Unmittelbar nach dem Putsch schlachteten Militäreinheiten und rechte muslimische Todesschwadronen gestützt auf Listen, die die CIA zur Verfügung gestellt hatte, über eine halbe Millionen Mitglieder der indonesischen Kommunistischen Partei und anderer linker Organisationen ab. Während der anschließenden drei Jahrzehnten sorgte das brutale, von den USA gestützte Unterdrückerregime von General Suharto in Indonesien für die Sicherheit kapitalistischer Investitionen. Die chaotische und destruktive kapitalistische Entwicklung gipfelte im finanziellen Tsunami, der 1998 die indonesische Wirtschaft verwüstete.

Auch Sri Lanka wurde durch die reaktionäre und chauvinistische Politik aufeinanderfolgender bürgerlicher Regierungen verwüstet, lange bevor der Tsunami seine verwundbare Küste überflutete. Die Entwicklung der maßgeblichen Infrastruktur war den finanziellen Anforderungen eines Bürgerkriegs geopfert worden, den die srilankische Bourgeoisie provoziert hatte.

Untersucht man den Tsunami in seinem wirklichen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Zusammenhang, so wird deutlich, dass seine zerstörerische Wirkung weit stärker dem Werk von Menschen als dem Werk der Natur zuzuschreiben ist.

Irgendwann in der Zukunft sollte die Entwicklung von Wissenschaft und Technologie die Menschheit in der Lage versetzen, die Natur so weit zu beherrschen, dass die Zerstörung von Tausenden Leben durch eine derart elementare und primitive Gewalt wie einen Tsunami unvorstellbar wäre. Zumindest sollte man ein solches Ereignis so weit voraussehen können, dass es möglich ist, lebenserhaltende Gegenmaßnahmen einzuleiten. Tatsächlich gibt es die entsprechende Technologie bereits. Sie ist im gesamten Pazifik im Einsatz. Aber die Beherrschung der Natur durch den Menschen ist abhängig von seiner Beherrschung der sozioökonomischen Grundlagen der eigenen Existenz, von der Beseitigung aller irrationalen Elemente aus der ökonomischen Struktur der Gesellschaft - d.h. von der Ablösung des Kapitalismus durch den Sozialismus.

Im gegenwärtig vorherrschenden, politisch reaktionären Klima mit seinen erstickenden Auswirkungen auf Emotionen und Intellekt, scheint die Möglichkeit einer solchen Umwandlung unendlich fern - was selbst ein deutliches Zeichen ist, dass die historischen Voraussetzungen für eine derartige Umwandlung schnell heranreifen. Mit Beginn des neuen Jahreswachsen die Hinweise, dass der Weltkapitalismus in eine neue Periode wirtschaftlicher Krisen und politischer Erschütterungen tritt. Diese Versammlung steht vor der Aufgabe, die Weltsituation so genau wie möglich einzuschätzen, auf dieser Grundlage die wirklichen Aussichten für den Sozialismus zu beurteilen und die politischen Aufgaben festzulegen, die sich aus dieser Einschätzung ergeben. Das ist eine wissenschaftliche Arbeit.

Im April 1933 schrieb Trotzki einen Brief an Sydney Hook. Er kritisierte darin gewisse Formulierungen in einem Essay, den der junge radikale Professor unter dem Titel "Marxismus - Dogma oder Methode?" für The Nation geschrieben hatte. Laut Hook ist der Marxismus "weder Dogma, noch Mythos, noch objektive Wissenschaft, sondern eine realistische Methode der Klassenaktion". Trotzki erwiderte: "Was bedeutet hier das Wort ‚realistisch’? Offenbar bedeutet es, gestützt auf die wirkliche Kenntnis des Objektiven - in diesem Fall gesellschaftlicher Prozesse. Kenntnis des Objektiven ist Wissenschaft. Die marxistische Politik ist insoweit realistisch, als sie sich auf den Marxismus als Wissenschaft stützt." (2)

Trotzkis Auffassung, dass die Formulierung politischer Perspektiven eine wissenschaftliche Aufgabe sei, setzt voraus, dass sich politische Prozesse auf gesetzmäßige Weise entwickeln. Diese Haltung ist allen pragmatischen Spielarten des Antimarxismus ein Gräuel. Diese erheben Möglichkeit und Zufall im historischen Prozess auf die Ebene des Absoluten und bestehen darauf, dass Geschichte und Politik in letzter Analyse durch die Wechselwirkung von Zufällen und einer unbeschränkten Anzahl nicht vorhersehbarer und/oder nicht voraussagbarer Variablen bestimmt würden. Der verstorbene Historiker François Furet, der einmal Mitglied in der Kommunistischen Partei war, fasste diesen Standpunkt wie folgt zusammen: "Ein wahres Verständnis unserer Zeit ist nur möglich, wenn wir uns von der Illusion der Notwendigkeit befreien. Das zwanzigste Jahrhundert kann nur erklärt werden, soweit eine Erklärung überhaupt möglich ist, wenn sein unvorhersehbarer Charakter hervorgehoben wird, eine Eigenschaft, die von jenen geleugnet wird, die die Hauptverantwortung für seine Tragödien tragen." (3)

Furets entwickelt seine Argumentation in einem äußerst rigiden Rahmen: Da es unmöglich sei, die Zukunft mit einiger Gewissheit vorauszusagen, sei es absurd, von historischer Notwendigkeit zu sprechen. Für Furet setzt Notwendigkeit das Vorhandensein unwiderstehlicher Kräfte voraus, die zu einem einzigen möglichen Ergebnis führen. Da der Verlauf der historischen Entwicklung zu verschiedenen und sogar entgegengesetzten Ergebnissen führen kann, sei die Auffassung, der historische Prozess sei Gesetzen unterworfen und diese Gesetze könnten verstanden und zur Grundlage des Handelns gemacht werden, eine marxistische Illusion. Es dürfte kaum überraschen, dass Furet den historischen Determinismus im Rahmen einer buchfüllenden Polemik angreift, deren Aufgabe darin besteht, für jetzt und alle Ewigkeit die Notwendigkeit des Kapitalismus zu beweisen.

Furets Haltung, die unter Antimarxisten weit verbreitet ist, lässt ein naives Missverständnis der Bedeutung der Begriffe Gesetz und Notwendigkeit erkennen. Der wissenschaftliche Charakter des Marxismus ergibt sich nicht aus der Genauigkeit seiner Voraussagen. Wie genau der Marxismus und jede wissenschaftliche Disziplin ein gegebenes Phänomen beschreiben kann, wird letztlich durch den Charakter des Phänomens selbst bestimmt. Der objektive Charakter des Phänomens, das den Gegenstand der Geschichte bildet - der menschlichen Gesellschaft -, ist so beschaffen, dass selbst der gewissenhafteste historische Materialist nicht genau "voraussagen" kann, was in zwei Tagen, zwei Wochen oder zwei Monaten geschieht. Das ist kein Einwand gegen die Gesetzmäßigkeit des historischen Prozesses oder die Möglichkeit seines wissenschaftlichen Studiums. Vielmehr ist ein genaueres Verständnis nötig, wie sich die Gesetzmäßigkeit im historischen Prozess manifestiert. Lukács erklärte, dass "die Gesetze in der Wirklichkeit nur als Tendenzen, die Notwendigkeiten nur im Gewirr von gegenwirkenden Kräften, nur in einem Vermitteltsein inmitten von unendlichen Zufällen sich durchsetzen können." (4)

Der historische Prozess ist nicht vorherbestimmt, er kann sich in unterschiedliche Richtungen entwickeln, weil sich die gesellschaftliche Entwicklung durch den Kampf von Klassen vollzieht, die unterschiedliche, sich gegenseitig ausschließende Ziele verfolgen. Aber weder die Klassen als Ganze noch die Parteien und Individuen, die ihre soziökonomischen Interessen mehr oder weniger adäquat zum Ausdruck bringen, sind ihr eigener Herr. Ausmaß und Charakter ihrer Tätigkeit werden im Wesentlichen durch die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise bestimmt.

Das trifft nicht nur auf die Arbeiterklasse, sondern auch auf die bürgerliche herrschende Elite zu. Die politische Perspektive unserer Partei geht nicht von subjektiv motivierten Hoffnungen und Wünschen aus. Marxisten stellen sich die Revolution weder als Strafe für die Übeltaten der Kapitalisten, noch als Belohnung für ihre eigenen, selbstlosen Bemühungen zur Überwindung der Armut vor. Die Perspektiven der revolutionären Partei müssen aus einer Analyse der realen, objektiven Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweiseabgeleitet werden. Diese Analyse bildet die allgemeine Grundlage der revolutionären Perspektive. Ihre detailliertere Erarbeitung erfordert, dass diese Widersprüche im wirklichen gesellschaftlichen und politischen Leben aufgespürt und durch dievielen historischen, gesellschaftlichen, kulturellen und intellektuellen Ebenen verfolgt werden, durch die sie vermittelt sind.

Eine marxistische Perspektive kann sich mit umfassenden, Jahrzehnte umspannenden historischen Prozessen befassen, oder mit unmittelbareren, konkreten politischen Umständen, bei denen der Zeitrahmen des revolutionären Handelns viel kürzer ist. Aber selbst im letzteren Fall bildet der umfassende historische Prozess stets den Bezugsrahmen der revolutionären Partei. Taktische Initiativen, die entwickelt werden, um den Erfordernissen konjunktureller Probleme und Umstände gerecht zu werden, müssen mit den prinzipiellen Zielen übereinstimmen, die durch das historische Programm und die Aufgaben der internationalen sozialistischen Bewegung bestimmt werden. Konjunkturelle Probleme und Umstände können zudem nur verstanden werden, wenn man sie im Rahmen der strategischen Ziele studiert, die sich aus dem Charakter der historischen Epoche ergeben.

Schließlich erfordert die Entwicklung einer revolutionären Perspektive eine aktive und keine kontemplative Haltung gegenüber Gesellschaft und Klassenkampf. Objektiv sein heißt nicht passiv sein. Die Beurteilung der objektiven Wirklichkeit und des Kräfteverhältnisses durch die revolutionäre Partei beinhaltet auch eine Einschätzung der Auswirkungen und Folgen ihres eigenen Eingreifens im revolutionären Prozess. Die korrekte Interpretation der Welt ist nur möglich im Kampf, sie zu verändern, wie Marx in der elften Feuerbachthese erklärte.

Aber ein korrektes Verständnis des "aktiven" Elements im Erkenntnisprozess - dessen Entdeckung und Klärung zu den großen Errungenschaften der klassischen deutschen idealistischen Philosophie im späten 18. und frühen 19 Jahrhundert gehört (insbesondere im Werk Hegels) - bedeutet nicht, dass die objektive Welt nach Belieben verändert und neu geformt werden kann. Keine philosophische Tendenz hat gefährlichere reaktionäre Implikationen als jene, die die Aktivität des "Willens" von der wissenschaftlichen Erkenntnis der objektiven, gesetzmäßigen sozialen Prozesse trennt, die die gesellschaftlichen Praxis des Menschen wesentlich bestimmen. Die Tätigkeit der revolutionären Partei muss von einer korrekten Einschätzung der grundlegenden sozioökonomischen Entwicklungstendenzen im Weltmaßstab ausgehen. Ist die Arbeit der revolutionären Partei nicht aufdiesem Fundament verankert, kann sie sich nur auf Impressionen und Mutmaßungen stützen... und endet im Desaster.

In dieser Woche vor genau zwanzig Jahren, im Januar 1985, reisten Delegierte der Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) zu dessen zehnten Kongress nach England. Es sollte der letzte Kongress des Internationalen Komitees unter dem Vorsitz der britischen Workers Revolutionary Party (WRP) sein, die von Gerry Healy, Cliff Slaughter und Michael Banda geleitet wurde.

Zu diesem Zeitpunkt war in der internationalen Bewegung seit über zehn Jahren eine Krise herangereift. Seit drei Jahren hatte die Führung der WRP Bemühungen unterdrückt, falsche philosophische Auffassungen und ernsthafte politische Fehler der politischen Linie des Internationalen Komitees zu diskutieren und zu untersuchen. Als sich das IKVI im Januar 1985 schließlich versammelte, war die gesamte Weltbewegung in gefährlicher Weise desorientiert - am schlimmsten die Workers Revolutionary Party. Der von Cliff Slaughter vorbereitete Perspektiventwurf bemühte sich, seinen Mangel an Analyse durch bombastische Rhetorik wett zu machen. Eine typische Behauptung lautete: "Die objektiven Gesetze des kapitalistischen Niedergangs wirken jetzt ungehindert. Sie sind durchgebrochen." Wäre dies der Fall gewesen, hätte dies eine in der Geschichte des Kapitalismus nie da gewesene Situation bedeutet, die Marx theoretisch und praktisch für unmöglich hielt.

Die Behauptung, die Gesetze des kapitalistischen Niedergangs wirkten "ungehindert", konnte nur bedeuten, dass erstens die Bourgeoise jeglichen subjektiven Widerstand gegen diesen Niedergang eingestellt hatte, und dass zweitens alle ausgleichenden Tendenzen, die sich auf natürliche Weise aus dem kapitalistischen Prozess selbst ergeben und die den Niedergang abschwächen oder umkehren, außer Kraft getreten waren. Anders ausgedrückt, dass die sozioökonomische Dialektik des Kapitalismus als welthistorisches System schlicht aufgehört hatte zu existieren.

In einer anderen Passage hieß es: "Die Wirklichkeit ist, dass die entscheidenden revolutionären Schlachten bereits im Gang sind." Als diese Worte aus Cliff Slaughters Feder flossen, gab es unmissverständlich Anzeichen, dass sich die Arbeiterklasse überall auf der Welt auf dem Rückzug befand. Wären die "entscheidenden revolutionären Schlachten" tatsächlich im Gang gewesen, hätte man eingestehen müssen, dass sie verloren waren.

Im selben Stil schrieb Slaughter, berauscht von seinen eigenen Worten: "Die unbesiegte Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten tritt gleichzeitig mit der Arbeiterklasse der übrigen Welt in Kämpfe revolutionären Charakters ein." In Wirklichkeit hatte die Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten, seit Reagan vier Jahre zuvor ins Weiße Haus eingezogen war, eine ungebrochene Reihe größerer Niederlagen erlitten. Durch Verrat entmutigt war die Streiktätigkeit auf das niedrigste Niveau seit Jahrzehnten gesunken.

Die Vorlage derartiger Passagen als ernsthaften Beitrag zur Erarbeitung revolutionärer Perspektiven war ein Ausdruck der theoretischen Verwirrung und des politischen Bankrotts der WRP-Führer.

Angesichts der außergewöhnlichen Geschichte der Führer der Workers Revolutionary Party, insbesondere Gerry Healys, war die Lage, in die sie geraten waren, zutiefst tragisch. Healy hatte sich über ein halbes Jahrhundert lang persönlich an der revolutionären sozialistischen Bewegung beteiligt. Als Unterstützer von James P. Cannon hatte er eine wichtige Rolle im internationalen Kampf gegen den pablistischen Revisionismus gespielt, der 1953 zur Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale führte. Im darauffolgenden Jahrzehnt widersetzte sich Healy der theoretischen und politischen Fahnenflucht der amerikanischen Socialist Workers Party (SWP) und ihren Plänen für eine prinzipienlose Wiedervereinigung mit der pablistischen Bewegung. Das Internationale Komitee verdankte sein Überleben unter extrem ungünstigen politischen Bedingungen hauptsächlich Healys unermüdlicher Verteidigung trotzkistischer Prinzipien. Ohne den von ihm geführten Kampf wäre die Workers League, die Vorläuferin der Socialist Equality Party, niemals entstanden.

Es war auch vorrangig Healys Anstrengungen zu verdanken, dass das Internationale Komitee - insbesondere nach der Spaltung mit der SWP 1963 - die Anzeichen einer wachsenden Wirtschaftskrise des Weltkapitalismus aufmerksam verfolgte. Im Gegensatz zu den Pablisten, deren opportunistische Politik ihr tiefes Vertrauen in die Stabilität des Nachkriegskapitalismus widerspiegelte, verfolgte das IKVI aufmerksam die wachsenden Anzeichen für ernsthafte Spannungen, die sich in den nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen finanziellen und monetären Grundlagen des Weltkapitalismus entwickelten. Daher verstand das Internationale Komitee die weitreichenden Auswirkungen der Entscheidungen, die 1971 von der Nixon-Administration getroffen wurden und die das "goldene Zeitalter" des Nachkriegskapitalismus abrupt beendeten.

Am Abend des 15. August 1971, einem Sonntag, kündigte Präsident Richard M. Nixon in einer nationalen Fernsehansprache eine Reihe wirtschaftlicher Maßnahmen an, die der drastischen Verschlechterung der internationalen Handels- und Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten und dem wachsenden inflationären Druck entgegenwirken sollten. Er gab bekannt, dass die Vereinigten Staaten ihrer Verpflichtung nicht länger nachkommen würden, die von ihren internationalen Handelspartnern gehaltenen Dollar auf Anforderung in Gold umzutauschen. Diese Verpflichtung waren die Vereinigten Staaten im Rahmen des internationalen Währungssystems eingegangen, das nach der Bretton-Woods-Konferenz vom Juli 1944 errichtet worden war. Dieses Ereignis wurde von den Pablisten weitgehend ignoriert. Das Internationale Komitee dagegen erkannte darin die wichtigste ökonomische Entwicklung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie bereitete den Boden für eine enorme Vertiefung der Weltwirtschaftkrise und eine Verschärfung internationaler Klassenkonflikte. Im Kern der Krise stand die Verschlechterung der internationalen Stellung des amerikanischen Kapitalismus.

Bei der Analyse dieser Entwicklung untersuchte das Internationale Komitee die Bedeutung des internationalen Wirtschaftssystems, dessen Grundlagen 1944, während der Endphase des Zweiten Weltkriegs, auf der Konferenz von Betton Woods gelegt worden waren. Außerhalb der Vereinigten Staaten lagen damals die alten bürgerlichen Mächte Europas in Trümmern. Die französische Bourgeoisie war politisch diskreditiert, ihr Finanzsystem zerschlagen. Das Hitler-Regime hatte den deutschen Kapitalismus in den Abgrund gestürzt, das ganze Land stand in Flammen. Die Kosten des Zweiten Weltkriegs, der dem Ersten im Abstand von nur zwanzig Jahren gefolgt war, hatten Großbritannien finanziell ruiniert. Überall in Europa war die Arbeiterklasse gegen den Faschismus und die imperialistische Barbarei in die Offensive gegangen. Es herrschte eine überwältigende Stimmung zugunsten einer revolutionären Abrechnung mit dem Kapitalismus. Ähnlich war die Lage in Japan, wo sich der Krieg rasch seinem schrecklichen Ausgang näherte. In ganz Asien, dem Nahen Osten und Afrika stieg die Flut der antiimperialistischen und antikolonialen Kämpfe.

Im Chaos des Krieges verblieben die Vereinigten Staaten als einziger großer Stützpunkt des Kapitalismus. Der Krieg hatte alle ihre internationalen kapitalistischen Konkurrenten zerrüttet. Die Vereinigten Staaten waren so in der Lage, den daniederliegenden Rivalen die Bedingungen der Weltwirtschaftsordnung zu diktieren, die sich aus der Asche des Krieges erheben sollte. Dabei verstand die herrschende Klase Amerikas sehr gut, dass ihr eigenes Schicksal vom Überleben des Kapitalismus in Europa abhing. Hätte die revolutionäre Welle, die nach dem Krieg über den europäischen Kontinent fegte, in den alten Zentren des Kapitalismus die Macht der Arbeiterklasse errichtet, wäre das Schicksal des amerikanischen Kapitalismus besiegelt gewesen. Daher beschloss die amerikanische herrschende Klasse in einer Serie weitsichtiger Entscheidungen, ihre enormen industriellen und finanziellen Mittel zu mobilisieren, um das kapitalistische Weltsystem zu stabilisieren und wieder aufzubauen. Bestandteil dieses ökonomischen Plans war der Aufbau eines neuen internationalen Währungssystems, das nach einem Jahrzehnt der Störung durch Depression und Krieg die notwendigen Mittel für die Neubelebung des Welthandels und den Wiederaufbau Europas und Japans zur Verfügung stellen würde.

Die Finanzkatastrophen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg hatten die Vereinigen Staaten zur Überzeugung gebracht, dass sich die Ausdehnung des Welthandels und der Wiederaufbau des Weltkapitalismus nicht mit dem alten Goldstandard vereinbaren ließen, der eine starke Einschränkung des Kreditrahmens bedeutete. Aber was sollte als wichtigstes Mittel für Kredit und Handel an die Stelle des Goldes treten? Die Antwort lautete, der US-Dollar.

Die Regeln des 1947 gegründeten Internationalen Währungsfonds machten den Dollar zur wichtigsten internationalen Reservewährung - das heißt zur Währung, in welcher der Großteil des internationalen Handels abgerechnet wurde. Der Wert aller internationalen Währungen wurde am Dollar gemessen. Der Wert des Dollars selbst stand in einem festen Verhältnis zum Gold. 35 Dollar entsprachen einer Feinunze Gold.

Diese Vereinbarung stützte sich auf zwei wichtige Voraussetzungen. Erstens lagerte ein beträchtlicher Teil der weltweiten Goldreserven in Fort Knox in Kentucky. Und zweitens, was wichtiger war, garantierte die massive industrielle Überlegenheit der Vereinigen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg einen hohen Außenhandelsüberschuss. Dollars, die ins Ausland überwiesen oder dort investiert wurden, flossen wieder zurück, wenn andere Länder amerikanische Waren und Dienstleistungen kauften.

Auf diese Weise war das Nachkriegswährungssystem - ein Dollar-System, das im Gold verankert war - ein Ausdruck der globalen Überlegenheit der Vereinigten Staaten in den Angelegenheiten des internationalen Kapitalismus. Wenn man überhaupt von einem Zeitalter der amerikanischen Hegemonie sprechen kann, dann von dieser Periode, die durch das dollargestützte Weltwährungssystem von Bretton Woods gekennzeichnet war.

Das Bretton-Woods-System enthielt jedoch einen fatalen Widerspruch. Das erfolgreiche Funktionieren des Systems beruhte auf der Voraussetzung, dass die Außenhandels- und die Zahlungsbilanz der Vereinigten Staaten positiv blieben, obwohl diese Europa und Japan das Kapital zum Wiederaufbau ihrer Industrien zur Verfügung stellten und als Markt für deren Exporte dienten. Die Wiederbelebung der europäischen und japanischen Industrie musste aber unvermeidlich die einst unangefochtene Stellung der Vereinigten Staaten auf den Weltmärkten untergraben und ihre Handels- und Zahlungsbilanz beeinträchtigen. Die Akkumulation von Dollars im Ausland, die daraus resultierte und die schließlich den Wert der amerikanischen Goldreserven weit übersteigen sollte, musste die Lebensfähigkeit des Bretton-Woods-Systems in Frage stellen. Robert Triffin, ein europäischer Wirtschaftswissenschafter, machte Ende der 1950-er Jahre auf diesen Widerspruch aufmerksam. Mitte der 1960-er Jahre war es dann offensichtlich, dass das System unter wachsendem Druck stand. Die Krise wurde zusätzlich durch die Kosten des Vietnamkriegs und neuer Sozialprogramme verschärft, die die amerikanische herrschende Klasse unter dem Druck von Massenkämpfen zugestanden hatte und die einen zunehmenden finanziellen Druck auf den Haushalt ausübten.

Wie vom IKVI vorausgesehen, hatte der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems weitreichende wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Folgen. Die internationalen Wirtschaftsbeziehungen wurden in einem Maße unterhöhlt, wie seit den 1930-er Jahren nicht mehr. Das alte System fester Wechselkurse wurde durch ein neues, unberechenbares System abgelöst, dass auf frei konvertierbaren Währungen beruhte und in dem der Wert jeder nationalen Währung durch den Markt bestimmt wurde. Für den Dollar, der nicht länger zu einem festen Kurs in Gold konvertierbar war, begann ein anhaltender Niedergang. Die Abwertung des Dollars hatte nahezu unmittelbar eine globale Preisinflation und einen Einbruch der Kurse an den Aktienmärkten zur Folge. 1973 war der Weltkapitalismus mit der gefährlichsten politischen und ökonomischen Krise seit den 1930-er Jahren konfrontiert.

Diese Entwicklungen bestätigten die Analyse der globalen Krise des Weltkapitalismus, die das Internationale erstellt hatte. Die 1970-er Jahre waren von einem revolutionären Aufschwung der Arbeiterklasse geprägt, die auf die Inflation reagierte, indem sie in die Offensive ging. Der britische Bergarbeiterstreik im Winter 1973-74 erzwang den Rücktritt der Tory-Regierung. Im April 1974 brach die faschistische Diktatur in Portugal zusammen, im Juli die Militärdiktatur von General Papadopoulos in Griechenland. Einen Monat später, im August 1974, trat Richard Nixon vom Präsidentenamt zurück. Und weniger als ein Jahr danach, im April-Mai 1974, endete der imperialistische Krieg in Vietnam und Kambodscha mit einer demütigenden Niederlage.

Aber dieser Aufschwung wurde durch die konterrevolutionäre Politik der stalinistischen und sozialdemokratischen Bürokratien in der internationalen Arbeiterbewegung lahm gelegt. Selbst im Iran, wo der Streik der Ölarbeiter Ende 1978 entscheidend dazu beitrug, das Schah-Regime zu lähmen (das 1953 durch die CIA an die Macht gebracht worden war), verhinderte die Politik der Stalinisten eine siegreiche sozialistische Revolution. Stattdessen fiel die Macht in die Hände religiöser und nationalistischer Kräfte. Weil die Kämpfe der Arbeiterklasse verraten wurden, gewann der Imperialismus die nötige Zeit, um seine eigene konterrevolutionäre Strategie auszuarbeiten und zur Gegenoffensive überzugehen.

Als die politische Lage umschlug, versäumte es die britische Workers Revolutionary Party, die Lage neu einzuschätzen und ihre Praxis entsprechend zu verändern. Cliff Slaughter hatte die Sektionen des IKVI oft gewarnt: "Wenn Eure Perspektiven bestätigt worden sind, müsst Ihr sie neu überprüfen." Aber die WRP missachtete ihren eigenen Rat und erwies sich als unfähig, ihre Praxis der veränderten politischen Situation anzupassen. Als die Aussichten auf eine sozialistische Revolution verblassten, versuchte die WRP ihren organisatorischen Schwung zu erhalten, indem sie neue opportunistische Beziehungen zu Teilen der britischen Labour-Bürokratie und zu bürgerlich nationalen Bewegungen im Nahen Osten und Afrika anknüpfte. Sie wandte den Lehren aus dem langen Kampf des IKVI gegen den Revisionismus den Rücken zu und entwickelte eine politischeLinie, die mehr und mehr derjenigen der Pablisten ähnelte. Hinzu kam, dass sich die WRP einseitig auf ihre organisatorischen Aufgaben konzentrierte, so wie sie Healy verstand. Das hatte zur Folge, dass die Linie der britischen Sektion eine zunehmend nationalistische Ausrichtung annahm. Die Arbeit des IKVI als internationale Partei wurde in wachsendem Maße den nationalen "Parteiaufbauaktivitäten" der Workers Revolutionary Party untergeordnet.

Die Krise, die im Sommer und Herbst 1985 in der WRP ausbrach, war das unausweichliche Ergebnis dieses anhaltenden Rückzugs von trotzkistischen Prinzipien und der politischen Desorientierung, die sich aus diesem Verrat ergab. Die WRP legte mittlerweile größeren Wert auf ihre verschiedenen Bündnisse mit Bürokraten aus den Arbeiterorganisationen, bürgerlichen Nationalisten und kleinbürgerlichen Radikalen, als auf die freundschaftlichen Beziehungen zu ihren Gesinnungsgenossen im IKVI. Selbst noch im Herbst 1985, als sie mit dem Schiffbruch ihrer verheerenden Politik konfrontiert waren, prahlten WRP-Mitglieder schamlos mit ihren neuen Beziehungen zu verschiedenen antitrotzkistischen Tendenzen. Slaughter reichte seine Hand auf einer öffentlichen Versammlung in London demonstrativ Monty Johnstone, einem berüchtigten und widerlichen Vertreter der britischen Kommunistischen Partei.

Hinter diesem Vorgehen stand eine völlige Fehleinschätzung der internationalen politischen Lage. Es kam keinem WRP-Führer in den Sinn, dass die verschiedenen national-reformistischen und opportunistischen Organisationen, an die sie sich anbiederten, selbst kurz vor der Katastrophe standen. Nachdem die WRP jede systematische und ernsthafte internationale Perspektivarbeit aufgegeben hatte, war sie blind gegenüber den neuen Tendenzen in der kapitalistischen Weltwirtschaft und konnte ihre Auswirkungen auf die Entwicklung des internationalen Klassenkamps nicht verstehen.

Nach der Spaltung mit der Workers Revolutionary Party im Februar 1986 stand das Internationale Komitee vor zwei entscheidenden, zusammenhängenden theoretischen Aufgaben. Die erste bestand in einer detaillierten Analyse der Wurzeln des Verrats, den die WRP am Trotzkismus begangen hatte, und in der Beantwortung ihres Angriffs auf die Geschichte der Vierten Internationale, die zweite in der Wiederaufnahme der Perspektivarbeit, die von der WRP aufgegeben worden war. Die Kritik an der WRP und die erneute Würdigung der Geschichte der Vierten Internationale befähigte das Internationale Komitee, die bewusste historisch Verbindung zum gesamten programmatischen Erbe der trotzkistischen Bewegung bis zurück zur Gründung der Linken Opposition im Jahr 1923 wieder herzustellen. Die Wiederaufnahme einer systematischen internationalen Perspektivarbeit war nötig, um die Arbeit des IKVI in Übereinstimmung mit den objektiven Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Weltwirtschaft neu zu orientieren.

Auf dem Vierten Plenum des Internationalen Komitees im Juli 1987 wurde folgende Frage gestellt: Welche Entwicklungstendenzen der Weltwirtschaft und des internationalen Klassenkampfs finden im Internationalen Komitee ihren notwendigen Ausdruck? Historisch betrachtet besteht ein tiefgehender Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Produktivkräfte des Kapitalismus im Weltmaßstab, deren Auswirkung auf das Wachstum der Arbeiterklasse als gesellschaftliche Kraft und den politischen Formen, in denen diese objektiven sozioökonomischen Tendenzen in der historischen Entwicklung der internationalen marxistischen Bewegung Ausdruck finden.

So war die Gründung der Ersten Internationale Mitte der 1860-er Jahre die politische Vorwegnahme des Auftretens des internationalen Proletariats auf der Grundlage der weltweiten Expansion von kapitalistischer Industrie und Handel. Aber dieser realeökonomische und soziale Prozess war noch zu wenig ausgereift, um die Anstrengungen der Ersten Internationale am Leben zu erhalten. Diese stellte ihre praktischen Aktivitäten Mitte der 1870-er Jahre ein. Doch innerhalb von weniger als zwei Jahrzehnten brachte das außerordentlich schnelle Wachstum der Industrie in Westeuropa und Nordamerika ein neues Industrieproletariat hervor, das dazu neigte, sich politisch unabhängig zu organisieren. Gleichzeitig bezog die Expansion des Kolonialsystems überall auf der Welt Massen in den Strudel der kapitalistischen Entwicklung ein.

Die Gründung der Zweiten Internationale im Jahr 1889 widerspiegelte dieses neue Stadium der kapitalistischen Entwicklung und die sich daraus ergebende Zunahme des Umfangs und der wirtschaftlichen Bedeutung der neuen industriellen Arbeiterklasse. Während des nächsten Vierteljahrhunderts war die Entwicklung der Zweiten Internationale mit der Expansion der kapitalistischen Industrie verbunden. Obwohl dieser Prozess seinem Wesen nach international war, äußerte er sich vorrangig im Wachstum gewaltiger nationaler Industrien und der Entstehung mächtiger nationaler Arbeiterorganisationen. Natürlich hielt die Zweite Internationale an der Perspektive der internationalen Arbeitersolidarität fest, aber die praktische Arbeit ihrer Sektionen war tief im Fundament der nationalen Industrie verwurzelt. Als die Zweite Internationale ins zweite Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts eintrat, war sie unfähig zu verstehen, in welchem Maße die wachsende militaristische Bedrohung durch den Imperialismus den Zerfall der Souveränität der nationalen Wirtschaft unter dem Druck der Weltwirtschaft widerspiegelte.

Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der Zusammenbruch der Zweiten Internationale und die Entstehung der Dritten Internationale waren Äußerungen dieser grundlegenden Veränderung. Trotzki erklärte das so:

"Am 4. August 1914 hatte den nationalen Programmen unwiderruflich die letzte Stunde geschlagen. Die revolutionäre Partei des Proletariats kann sich nur auf ein internationales Programm stützen, welches dem Charakter der gegenwärtigen Epoche, der Epoche des Höhepunkts und Zusammenbruchs des Kapitalismus entspricht. Ein internationales kommunistisches Programm ist auf keinen Fall eine Summe nationaler Programme oder eine Zusammenstellung deren gemeinsamer Züge. Ein internationales Programm muss unmittelbar aus der Analyse der Bedingungen und Tendenzen der Weltwirtschaft und des politischen Weltsystems als Ganzem hervorgehen, mit all ihren Verbindungen und Widersprüchen, d.h. mit der gegenseitigen antagonistischen Abhängigkeit ihrer einzelnen Teile. In der gegenwärtigen Epoche muss und kann die nationale Orientierung des Proletariats in noch viel größerem Maße als in der vergangenen nur aus der internationalen Orientierung hervorgehen und nicht umgekehrt. Darin besteht der grundlegende und ursächliche Unterschied zwischen der Kommunistischen Internationale und allen Abarten des nationalen Sozialismus." (5)

Als Trotzki 1928 diese Worte schrieb, wurde innerhalb der Dritten Internationale die Auffassung bereits angegriffen, wonach die Weltwirtschaft die Hauptgrundlage für die Entwicklung der revolutionären Strategie bildet. Das stalinistische Programm des Sozialismus in einem Land war das exakte Gegenteil des Internationalismus, der im Oktober 1917 die strategische Grundlage für die Machteroberung durch die Bolschewistische Partei gebildet hatte. Die stalinistische Auffassung, laut der die Entwicklung der sowjetischen Nationalwirtschaft der vorrangige und entscheidende Faktor für den Erfolg des sozialistischen Projekts in der UdSSR war, stellte einen Rückfall in die nationalistische Sichtweise dar, die in der Zweiten Internationale vorgeherrscht hatte. Man muss anmerken, dass Stalins Perspektive in der Führung vieler Sektionen der Kommunistischen Internationale auf Resonanz stieß. Diese teilten seine Vorstellung, dass die unmittelbaren nationalen Bedingungen, denen die Arbeiterklasse in jedem Land gegenüberstand, den Ausgangspunkt er praktischen Aktivität bilden sollten.

Zu jenen, die Stalins nationalistische Orientierung verteidigten und sich bemühten, sie theoretisch und politisch zu rechtfertigen, gehörte auch Antonio Gramsci. "Die Entwicklungstendenz geht sicher in Richtung Internationalismus," schrieb er. "Aber der Ausgangspunkt ist ‚national’ - und bei diesem Ausgangspunkt muss man beginnen." (6) Im Lichte der nachfolgenden Geschichte der italienischen Kommunistischen Partei, die nach dem Zusammenbruch des Mussolini-Regimes die Bourgeoisie und den italienischen Kapitalismus rettete und sich zu einer linksreformistischen nationalenPartei par excellence entwickelte, sind die politischen Implikationen von Gramscis Standpunkt klar geworden. Es überrascht nicht, dass sich die italienischen Stalinisten das Andenken Gramscis zu eigen machten, der 1930 infolge der Misshandlungen durch die Faschisten starb, und ihn als theoretischen Ideengeber ehrten.

Die Vierte Internationale wurde 1938 von Trotzki als Antwort auf die stalinistische Degeneration der Dritten gegründet. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs führte auf tragische Weise den Vorrang der Weltwirtschaft und Weltpolitik vor Augen. Paradoxerweise hatte aber die erneute Stabilisierung des Kapitalismus, die nach dem Krieg auf der Grundlage von Bretton Woods einsetzte, eine Neubelebung des nationalreformistischen Programms in der internationalen Arbeiterbewegung zur Folge.

Die Expansion des Welthandels, das Anwachsen des Bruttosozialprodukts der nationalen kapitalistischen Wirtschaften und selbst die außerordentliche Verbesserung des Lebensstandards in der Sowjetunion während der 1950-er und 1960-er Jahre verschafften den nationalen reformistischen Parteien, einschließlich der stalinistischen Organisationen, wieder Auftrieb. Aber so beeindruckend der Anstieg des Bruttosozialprodukts und selbst des Lebensstandards in dieser Zeit auch gewesen sein mag, erwies er sich lediglich als verlängerter Altweibersommer für den nationalen Reformismus. Der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems, das Einsetzen einer langen Wirtschaftskrise, gekennzeichnet durch wiederholte Inflationsschübe, Rezession, wachsende Arbeitslosigkeit, einen anhaltenden Rückgang der Rentabilität und den Übergang der Bourgeoisie, insbesondere der amerikanischen und der britischen, zu einer brutalen Offensive gegen die Arbeiterklasse, führten zum vollkommenen Versagen des nationalen Reformismus als tragfähige Politik.

Unter diesen Bedingungen begann das Internationale Komitee im Sommer 1987 die Arbeit an einem neuen Perspektivdokument. Um die Frage zu beantworten, die zu Beginn des Vierten Plenums gestellt worden war, studierte dasInternationale Komitee aufmerksam die neuen Formen der globalen kapitalistischen Produktion, die in den späten 1970-er und frühen 1980-er Jahren begünstigt durch Entwicklungen in der Computertechnologie sowie kostengünstige Kommunikations- und Transportmöglichkeiten entstanden waren. Die Entstehung des transnationalen Konzerns stellte einen qualitativen Fortschritt bei der globalen Integration der kapitalistischen Produktion und des Finanzwesens dar. Aufgrund dieser Entwicklung nahm der historische Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem, in dem der Kapitalismus historisch verankert ist und das weiterhin das Grundelement seiner politischen Organisation bildet, eine nie dagewesene Schärfe an.

Eine revolutionäre Lösung dieser Krise war nur auf der Grundlage des sozialistischen Internationalismus möglich, das heißt mittels der politischen und praktischen Vereinigung der internationalen Arbeiterklasse. Keine der bestehenden, national orientierten Organisationen der Arbeiterklasse - stalinistische, sozialdemokratische und reformistische Gewerkschaften- konnte diese Krise lösen. Die endlosen Niederlagen, die diese Organisationen in der jüngsten Periode erlitten haben, ergaben sich unvermeidlich aus der völligen Ohnmacht ihrer nationalen Orientierung angesichts der neuen internationalen Organisationsformen des Kapitalismus. Nur das internationale Programm des Internationalen Komitees entsprach der Herausforderung, der die Arbeiterklasse aufgrund der globalen Integration des Kapitalismus gegenüberstand.

In seiner Perspektivresolution, die im August 1988 angenommen wurde, benannte das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) die folgenden wichtigen Elemente einer nahenden revolutionären Krise:

1) Die historisch beispiellose Integration des Weltmarkts und die globale Integration des Produktionsprozesses, deren institutionelle Verkörperung der transnationale Konzern ist. Dieser globale Prozess verstärkt den grundlegenden Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem.

2) Der Verlust der globalen wirtschaftlichen Hegemonie durch die Vereinigten Staaten. Dies war eine historische Veränderung, die am deutlichsten in der Wandlung der Vereinigten Staaten von einer Gläubigernation in eine Schuldnernation zum Ausdruck kam. Der steile ökonomische Niedergang der Vereinigten Staaten war die Hauptursache für die deutliche Verschlechterung im Lebensstandard von großen Teilen der Arbeiterklasse.

3) Die Verstärkung von innerimperialistischen Konflikten, da sowohl Japan als auch Europa direkt die Stellung der Vereinigten Staaten auf dem Weltmarkt untergruben.

4) Die rasche Expansion der Volkswirtschaften im asiatisch-pazifischen Raum, die zur Entstehung eines gänzlich neuen Industrieproletariats in dieser Weltregion führte. Ähnliche Tendenzen waren auch für Afrika und Lateinamerika festzustellen. Vom globalen Standpunkt aus betrachtet, bedeutete dies eine enorme Stärkung der potenziellen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kraft der Arbeiterklasse.

5) Die anhaltende Verarmung großer Teile der "Dritten Welt" und das vollkommene Scheitern der zahllosen "Entwicklungsstrategien" der nationalen Bourgeoisien in diesen Ländern.

6) Die Destabilisierung der politischen Nachkriegsordnung, die sich daraus ergeben musste, dass alle nationalen Gruppen der stalinistischen Bürokratie - in der UdSSR, Osteuropa und China - sich der Politik der kapitalistischen Restauration zuwandten.

Beinahe 17 Jahre sind vergangen, seitdem diese Einschätzung veröffentlicht wurde. Die Ausarbeitung einer neuen Weltperspektive verlangt eine Bewertung der Perspektive, die 1988 erarbeitet worden war. Zunächst einmal muss festgestellt werden, dass eine Perspektive nicht mit Garantieschein daherkommt. Es handelt sich um eine Prognose, und, wie Trotzki feststellte, ist die Prognose umso bedingter, je konkreter sie ausfällt.

Wie heißt es so schön? Vorhersagen sind extrem schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen. Wer exakt und unfehlbar die Zukunft vorhergesagt haben will, sollte zum nächsten Orakel gehen.

Doch bei all diesen Einschränkungen glaube ich, dass die Analyse von 1988 sehr gut standgehalten hat. Ich werde mit dem letzten Kernelement der Weltkrise beginnen, welches das IKVI 1988 identifiziert hatte: den destabilisierenden, revolutionären Konsequenzen, die sich für uns aus der Hinwendung der stalinistischen Bürokratien zu einer pro-marktwirtschaftlichen Politik ergaben. Gestattet mir den Hinweis darauf, dass die Warnungen, die in der Perspektivresolution von 1988 (und anderen Dokumenten aus dieser Zeit) ausgesprochen wurden - dass die Politik, die Gorbatschow unter dem Banner von Glasnost und Perestroika verfolgte, einen Höhepunkt der konterrevolutionären Politik des Stalinismus darstellte - in krassem Gegensatz zu der begeisterten Unterstützung stand, die der letzte sowjetische Führer von den pablistischen Theoretikern erhielt.

Ernest Mandel, der im Jahre 1953 der engste Gesinnungsgenosse von Michel Pablo war und später zum wichtigsten Theoretiker der revisionistischen Bewegung wurde, rühmte Gorbatschow als den brillantesten Politiker der Welt und wies die Behauptung als"absurd" zurück, seine Politik ziele auf die Restaurierung des Kapitalismus. Mandels Schützling Tariq Ali ging sogar so weit, Boris Jelzin ein Buch zu widmen. Die Kurzsichtigkeit der Revisionisten kann vielleicht dadurch etwas entschuldigt werden, dass auch die internationale Bourgeoisie bei ihrer Einschätzung der Konsequenzen von Gorbatschows Politik alles andere als weitsichtig war. Später erklärten alle, sie seien vom plötzlichen Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa und der UdSSR vollkommen überrascht worden.

Liest man heute die Analyse des IKVI zur Krise der stalinistischen Regime, so kann man ohne Angst vor Widerlegung feststellen, dass es die Umwälzungen der Jahre 1989-1991 vorhersah. Dazu zählte auch die gewaltige Rebellion von Studenten und Arbeitern in China, die in dem Tiananmen-Massaker gipfelte. Wasnicht vorausgesagt werden konnte, war das unmittelbare Ergebnis der Krise der stalinistischen Regime. Im Verlauf dieser Krise wurde klar, dass die jahrzehntelange stalinistische Unterdrückung - die sich vor allem gegen sozialistische Tendenzen in der Arbeiterklasse und Intelligenz richtete - tiefe Narben im Bewusstsein der Massen hinterlassen hatte. Von den sozialistischen Anschauungen, die einst große Teile der Arbeiterklasse inspiriert hatten, war wenig übrig geblieben. Mit Unterstützung der Bürokratien wurden die Massenproteste in Osteuropa und dann in der UdSSR in pro-kapitalistische Kanäle gelenkt. Daher bestand das erste Ergebnis der antistalinistischen Rebellionen in der Errichtung von Regimen, die die Wiedereinführung des Kapitalismus auf die Tagesordnung setzten.

Aber dies entwertet nicht die Perspektive, die vom IKVI vertreten wurde, insbesondere, wenn man die größeren historischen Auswirkungen der Ereignisse von 1989 bis 1991 betrachtet. Was führte letztlich zum plötzlichen Auseinanderfallen der stalinistischen Regime in Osteuropa und der UdSSR? Paradoxerweise stellte sich heraus, dass diese Regime am schlechtesten an die Folgen der ökonomischen Tendenzen angepasst waren, die das Internationale Komitee in seiner Analyse der Weltwirtschaftskrise genannt hatte - an die beschleunigte ökonomische Globalisierung. Nicht die Rückständigkeit der Volkswirtschaften in Osteuropa und der Sowjetunion, sondern ihre zunehmende Komplexität machte den Rahmen der autarken, nationalen Selbstgenügsamkeit in wachsendem Maße untauglich. Je mehr diese Volkswirtschaften unter dem Druck der Notwendigkeit versuchten, Zugang zu den Ressourcen des Weltmarktes zu erlangen - indem sie den Handel ausdehnten, internationale Investitionen förderten und um Kredite ersuchten- umso mehr setzten sie ihre künstlich geschützten Staatsbetriebe dem gnadenlosen Druck der Weltwirtschaft aus, worauf diese schlecht vorbereitet waren.

Die erste Reaktion der sowjetischen Arbeiterklasse auf die pro-marktwirtschaftliche Politik von Gorbatschow bestand in einer Reihe von höchst militanten Streiks, die insbesondere von den Bergleuten geführt wurden. Da sie in wachsendem Maße eine Bewegung der Arbeiterklasse von links fürchteten, bemühten sich die stalinistischen Bürokratien nach Kräften darum, dass der Zusammenbruch der morschen Regime zur Machtübernahme von pro-kapitalistischen Elementen führte. Und damit hatten sie Erfolg. Aber das politische Ergebnis der Umwälzungen ändert nichts an der Tatsache, dass ihre ökonomische Ursache in den explosiven wirtschaftlichen Prozessen lag, die durch die Globalisierung in Gang gekommen waren.

Die Frage der politischen Form ist nicht unbedeutend. Wir stehen den politischen Konsequenzen, die sich aus dem Zusammenbruch der stalinistischen Regime ergaben, nicht gleichgültig gegenüber. Die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa, der ehemaligen UdSSR und China hatte kolossale Auswirkungen auf die Entwicklung der Weltpolitik und Weltwirtschaft in den 1990-er Jahren und den ersten Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Umdas Ausmaß dieser Konsequenzen einzuschätzen, muss man sich lediglich fragen, wie die Welt heute aussähe, wenn die Ereignisse in Osteuropa, der UdSSR und China in politischen Revolutionen gegipfelt unddemokratische, sozialistische Arbeiterregierungen an die Macht gebracht hätten. Zumindest bezweifle ich, dass wir Zeugen der Spekulationswelle geworden wären, die in den 1990-er Jahren die Aktienwerte an der Wall Street und anderen Börsen in die Höhe schießen ließ. Fraglos stärkte der Zusammenbruch der Sowjetunion zumindest eine Zeit lang das Selbstvertrauen der amerikanischen und internationalen Bourgeoisie. Besonders den Vereinigten Staaten eröffnete das Ableben der UdSSR gewaltige neue Möglichkeiten, um ihre militärische Stärke auszuspielen.

Aber wenn wir den Zustand des Weltkapitalismus und die Stellung der Vereinigten Staaten im Rahmen der anderen Elemente der internationalen Krise betrachten, die im Dokument von 1988 beschrieben wurden, und im umfassenderen Zusammenhang der Gesamtlage nach Bretton Woods, gelangen wir zu einer realistischeren Sicht der Dinge. Alle Elemente der Krise, auf die das IKVI im Jahre 1988 verwies, sind 2005 weiterhin gegeben. Sie sind über die Zeit sogar stärker und gefährlicher geworden.

Im historischen Maßstab betrachtet heilte der Zusammenbruch der UdSSR die inneren Gebrechen des kapitalistischen Weltsystems nicht, noch schuf er neue Aussichten für seine fortschrittliche Entwicklung. Vielmehr ermöglichte er die Ausbreitung der tödlichen Krankheiten dieses Systems in neue Regionen. Nach der Auflösung der UdSSR verringerte sich der Widerspruch zwischen der unaufhaltsamen ökonomischen Globalisierung und den starren Zwängen des archaischen Nationalstaatensystems nicht, er verstärkte sich im gegenteil anderthalb Jahrzehnten lang enorm. Auch die historischen Konflikte zwischen den großen imperialistischen Mächten verschärften sich aufgrund des Zusammenbruchs der UdSSR. Deren Existenz hatte seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dazu beigetragen, dass die Konflikte zwischen kapitalistischen Staaten gedämpft wurden. Und schließlich gewann die asiatische Arbeiterklasse während der letzten anderthalb Jahrzehnten gewaltig an Größe und Bedeutung.

Das Dokument von 1988 legte großes Gewicht auf den wirtschaftlichen Niedergang der Vereinigten Staaten und den daraus resultierenden Verlust ihrer hegemonialen Stellung. Dieser Prozess ist in den vergangenen 17 Jahren nicht rückgängig gemacht worden, auch wenn die Vereinigten Staaten versuchen, durch den Einsatz ihrer militärischen Macht eine solche Wende herbeizuführen. Ja, der rücksichtslose Einsatz von Gewalt zur Erreichung globaler Ziele ist selbst Ausdruck des wirtschaftlichen Niedergangs und der Orientierungslosigkeit der geldgierigen herrschenden Elite Amerikas.

Ich habe bereits über den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems gesprochen. Ich bezeichnete ihn als Wendepunkt für den Nachkriegskapitalismus. Das Ende des Systems, das auf der Goldkonvertibilität beruhte, enthüllte die Grenzen der globalen Wirtschaftsmacht des amerikanischen Kapitalismus und setzte einen anhaltenden Prozess des ökonomischen Abstiegs in Gang. Eine Untersuchung der gegenwärtigen ökonomischen Stellung des amerikanischen Kapitalismus, die sich auf das Ausmaß der Defizite und Schulden konzentriert und nicht auf die Feuerkraft des amerikanischen Militärs, zeigt deutlich, dass wir mittlerweile ein weit fortgeschrittenes Stadium der Krise erreicht haben, die mit dem Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems im August 1971 begann.

Die objektiven ökonomischen Anzeichen für den Niedergang der USA

Im vergangenen Jahr wurden in internationalen Finanzkreisen zunehmend Bedenken über den Zustand der amerikanischen Wirtschaft geäußert. Diese bezogen sich insbesondere auf das Ausmaß des bereinigten Saldos der internationalen Investitionen und der Bilanzdefizite sowie auf die Auswirkungen dieser Defizite auf den Wert des US-Dollar. Die Ernsthaftigkeit, mit der diese Bedenken vorgetragen wurden, zeigt, dass es sich bei diesen Defiziten und dem Niedergang des Dollars nicht einfach um amerikanische Probleme handelt. Es sind Weltprobleme.

Selbst nach 35 Jahren ist die Weltbourgeoisie nicht in der Lage, eine stabile Alternative zu Bretton Woods zu finden. Das gegenwärtige System variabler Wechselkurse war nie mehr als eine Reihe von Ad-hoc-Vereinbarungen, und es kann durch ernstzunehmende Turbulenzen auf dem globalen Währungsmarkt jederzeit aus dem Lot gebracht werden. Vor 1971 garantierte der US-Dollar die finanzielle Stabilität der Welt. Seither ist der Dollar der Hauptgrund für die weltweite finanzielle Instabilität. Diese gefährliche Situation entspringt der Tatsache, dass der Dollar trotz seiner ständigen Wertschwankungen auf den globalen Währungsmärkten die wichtigste internationale Leit- und Reservewährung geblieben ist. Dazu sind mehrere Dinge anzumerken.

Erstens: Währungsturbulenzen sind letztlich das Ergebnis grundlegender Ungleichgewichte in einer Weltwirtschaft, die durch die anhaltende Existenz von Nationalstaaten zersplittert ist. Die rationale wirtschaftliche Organisation der Weltwirtschaft würde durch die Einführung einer einzigen, universell gültigen stabilen Weltwährung enorm stimuliert. Dies wurde schon in den 1940-er Jahren von den weitsichtigsten Vertretern der Bourgeoisie erkannt. Franklin Delano Roosevelt spielte mit der Idee, die Einführung einer Weltwährung vorzuschlagen, für die er den Namen Unitas wählte, und bat seinen sozialistisch angehauchten Wirtschaftsberater Harry Dexter White, Pläne für die Realisierung eines solchen Projekts auszuarbeiten. Doch Roosevelt, stets Realist, verstand, dass dieses spezifische Ergebnis seines instinktiven sozialen Altruismus nicht mit den Interessen des amerikanischen Kapitalismus vereinbar war. Der Vorschlag erblicktenie das Tageslicht. Bezeichnenderweise arbeitete der britische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes zur gleichen Zeit an seinem eigenen Plan für eine Weltwährung, der er den Namen Bancor gab. Aber ohne amerikanische Unterstützung konnte diese Idee nichts weiter als ein unrealisierbares Projekt sein. Unter dem Kapitalismus hat die nationale Währung die Funktion eines Emissärs der Bourgeoisie, deren Staat sie in Umlauf bringt. Jede Übereinstimmung zwischen der jeweiligen nationalen Geldpolitik und dem größeren Wohl der Weltwirtschaft wird natürlich begrüßt, aber letztlich mag man sich nicht darauf verlassen.

Zweitens: Die Vereinigten Staaten haben aus der privilegierten Position, die der Dollar seit 1947 als Leitwährung der Welt genoss, zahlreiche wirtschaftliche Vorteile gezogen und tun dies auch heute noch. Solange der Dollar als Mittel für internationale Finanztransaktionen eingesetzt und daher von Zentralbanken auf der ganzen Welt bereitwillig eingelagert wird, sind die Vereinigten Staaten frei von Finanz- und Budgetbeschränkungen, denen alle anderen Länder unterliegen. Ihnen ist es erlaubt, Bilanzdefizite zu haben, die in jedem anderen Land als nicht tolerabel gelten würden. Allerdings gibt es auch für die Vereinigten Staaten einen Punkt, an dem das Ausmaß des Defizits Besorgnis erregt oder gar die Alarmglocken schrillen lässt. Eine Billion Schulden hier und eine Billion Schulden dort und plötzlich, wie man so sagt, wird über echtes Geld gesprochen. Dann tritt sogar den Zentralbankern der Schweiß auf die Stirn und sie können aus Sorge um den Wert der Dollars, die sich in ihren Tresorräumen häufen, nachts nicht mehr schlafen.

Drittens: Die derzeitige Dollarkrise kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die weltweite Oberhoheit der US-Währung zum ersten Mal in der Geschichte durch den Euro in Frage gestellt wird. Der Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Robert Mundell schrieb neulich, dass die zwei wichtigsten weltwirtschaftlichen Ereignisse in den letzten 50 Jahren das Ableben des Bretton-Woods-Systems 1971 und die Einführung des Euro waren. Zum ersten Mal seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs existiert eine Währung, die als Alternative zum Dollar als weltweite Reserve- und Leitwährung anerkannt wird. Schon jetzt wird ein beachtlicher und schnell wachsender Prozentsatz der internationalen Finanztransaktionen in Euro ausgewiesen. Dies erhöht den Druck auf die Vereinigten Staaten.

Auch wenn größenwahnsinnige rechte Fanatiker, wie der Kolumnist Charles Krauthammer, die Entstehung einer unipolaren Welt verkünden, die von den Vereinigten Staaten beherrscht wird, sind die Weltfinanzmärkte definitiv bipolar geworden. Ein anderer Stratege amerikanischer Hegemonie, Walter Russell Meade, wischt verächtlich die europäischen Bedenken gegen den Irakkrieg beiseite und kündigt an, dass die Vereinigten Staaten zur gegebenen Zeit schon mit den französischen Obstruktionisten abrechnen würden. Doch während Meade höhnt, Rache sei "ein Gericht, das am besten kalt serviert wird", entgeht ihm, dass die Vereinigten Staaten die Zutaten für dieses Gericht womöglich in Euro bezahlen müssen.

Die Eruption des amerikanischen Militarismus ist eng mit diesen ungünstigen ökonomischen Entwicklungstendenzen verbunden. Durch den Einsatz militärischer Macht hoffen die Vereinigten Staaten einen geostrategischen Vorteil zu erlangen, der den Verlust von ökonomischem Einfluss aufhalten, wenn nicht sogar die Entwicklung umkehren kann. Die Kosten, die mit der Aufrechterhaltung eines massiven militärischen Arsenals und der Finanzierung globaler Militäroperationen verbunden sind, verschlimmern allerdings das zugrunde liegende finanzielle Problem. Das gewaltige Haushaltsdefizit trägt zur Verschlechterung des Bilanzdefizits, zu einer weiteren Schwächung des Dollars und zur wachsenden Anziehungskraft des Euro als Alternative bei. Während der vergangenen drei Jahre hat der Dollar gegenüber dem Euro um beinahe 35 Prozent nachgegeben [Siehe Tabelle 1]. Die Vereinigten Staaten sind somit in einem politischen Dilemma gefangen, aus dem sie keinen rationalen Ausweg finden.

Tabelle 1: Preis eines Dollar in Euro (im Monatsdurchschnitt), 2001-2004, Quelle: www.x-rates.com.

Über den Euro muss gesagt werden, dass seine Anziehungskraft nur relativ, und nicht absolut ist. Er sieht lediglich neben seinem hässlichen großen Bruder gut aus. Das Projekt der europäischen Einheit, aus dem der Euro hervorging, ist von internen Widersprüchen geprägt.

Werfen wir einen Blick auf die Zahlen. Das Handelsdefizit der Vereinigten Staaten belief sich im Jahre 2002 auf eine Summe von 420 Milliarden Dollar. 2004 überschritt es die 500-Milliarden-Dollar-Grenze. Für das Jahr 2005 wird ein Defizit von deutlich über 600 Milliarden Dollar erwartet [Siehe Tabelle 2]. Der bereinigte Saldo der internationalen Investitionen der Vereinigten Staaten - "der Gesamtumfang von ausländischen Ansprüchen gegenüber den Vereinigten Staaten (abzüglich Schulden und Anteilskapital) minus der gesamten US-Ansprüche gegenüber dem Rest der Welt" (7) - ist von minus 360 Milliarden Dollar im Jahre 1997 auf minus 2,65Billionen Dollar im Jahre 2003 gestiegen. Uns liegen jetzt noch nicht die abschließenden Zahlen vor, aber es wird davon ausgegangen, dass der internationale Investitionssaldo 2004 im Bereich von minus 3,3 Billionen Dollar liegt. Diese Zahl entspricht 24 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der Vereinigten Staaten. Man sollte sich auch ins Gedächtnis rufen, dass die Vereinigten Staaten bis 1989 einen positiven Investitionssaldo aufwiesen. 1995 lag er erst bei minus 306 Milliarden Dollar. Am Ende des Jahres 1999 erreichte er dann bereits minus 1 Billion Dollar erreicht. Und der Aderlass wird aller Erwartung nach anhalten. Die Vereinigten Staaten werden weiterhin gewaltige Bilanzdefizite aufhäufen, die allein im Jahre 2004 eine Kreditaufnahme in Höhe von 665 Milliarden Dollar erforderlich machten [Siehe Tabelle 3]. Bush und sein unmittelbares Umfeld mögen eine Ausnahme bilden, aber ansonsten glaubt niemand, dass diese Situation noch lange so weiter gehen kann.

Tabelle 2: US-Exporte und Importe, 1960-2002, Quelle: US Bureau of Economic Analysis.

Tabelle 3: Saldo der US-Leistungsbilanz, 1960-2002, Quelle: US Bureau of Economic Analysis.

Das derzeitige Bilanzdefizit wird verschlimmert durch den Schwindel erregenden Anstieg des Defizits im Staatshaushalt [Siehe Tabelle 4].

Tabelle 4: US-Haushaltsüberschüsse/-defizite, 1972-2003, Quelle: Congressional Budget Office. Die Zahlen für das Jahr 2003 beruhen auf einer Veranschlagung vom Juli 2003.

Lasst mich aus einem Artikel zu zitieren, der vom ehemaligen US-Finanzminister Robert Rubin gemeinsam mit den renommierten Wirtschaftswissenschaftlern Allen Sinai und Peter Orszag geschrieben wurde:

"Der US-Bundeshaushalt befindet sich auf einem unhaltbaren Weg. Sollte es keinen Kurswechsel geben, so ist zu erwarten, dass sich das Haushaltsdefizit im Laufe des nächsten Jahrzehnts auf eine Gesamtsumme von etwa fünf Billionen Dollar beläuft. Solche Defizite werden dazu führen, dass die US-Staatsschulden im Vergleich zum BIP deutlich steigen. Die Ausgaben für Leistungen aus dem Medicare-Gesundheitsprogramm und die Defizite und Schulden der Bundesstaaten werden wahrscheinlich noch stärker anwachsen. Das Ausmaß der veranschlagten Ungleichgewichte im Haushalt der Nation ist inzwischen so groß, dass die Gefahr schwerer nachteiliger Auswirkungen sehr ernst genommen werden muss, auch wenn es nicht möglich ist, vorherzusagen, wann diese Konsequenzen eintreten....

Ein Vertrauensverlust bei in- und ausländischen Investoren [aufgrund dieser Defizite] könnte zu einem Rückzug von Portfolios aus Dollar-Vermögenswerten führen und die Zinssätze nach oben drücken. Dieselbe Entwicklung könnte Investoren und Unternehmen veranlassen, vom Gebrauch des Dollar als führende Weltwährung für internationale Transaktionen abzurücken. Das könnte wiederum die Fähigkeit der Vereinigten Staaten einschränken, Bilanzdefizite durch in Dollar angegebene Verbindlichkeiten zu finanzieren, und würde somit die Nation einem erhöhten Verlustrisiko bei bedeutenden Wechselkursveränderungen aussetzen.

Die steigenden Zinsen, der Wertverlust des Dollar und das schwindende Vertrauen von Investoren würde nach diesem Szenario mit großer Sicherheit die Aktienkurse und das Vermögen der Haushalte sinken und die Kosten der Unternehmensfinanzierung steigen lassen. Diese Effekte könnten dann von den Finanzmärkten auf die reale Ökonomie übergreifen." (8)

Eine Studie, die vom Congressional Budget Office (CBO) veröffentlicht wurde und von Rubin, Sinai und Orszag in ihrem Bericht zitiert wird, präsentierte das folgende Untergangsszenario:

"Ausländische Investoren könnten aufhören, in US-Wertpapiere zu investieren, der Wert des Dollar könnte dramatisch fallen, Zinssätze könnten steigen, Verbraucherpreise könnten in die Höhe schießen oder die Wirtschaft könnte stark schrumpfen. In Erwartung fallender Profite und wachsender Inflation und Zinssätze könnten die Aktienmärkte zusammenbrechen und die Verbraucher könnten plötzlich den Konsum reduzieren. Darüber hinaus könnten Wirtschaftsprobleme in den Vereinigten Staaten den Rest der Welt in Mitleidenschaft ziehen und die Volkswirtschaften der US-Handelspartner ernsthaft schwächen.

Eine Politik der höheren Inflation könnte den Realwert der Staatsschulden verringern, aber Inflation ist keine praktikable langfristige Strategie, um mit anhaltenden Haushaltsdefiziten umzugehen. [...] Wenn die Regierung weiterhin Geld druckt, um das Defizit zu finanzieren, so führt diese Situation schließlich zur Hyperinflation (wie in Deutschland in den 1920-er, in Ungarn in den 1940-er, in Argentinien in den 1980-er und in Jugoslawien in den 1990-er Jahren) ... Hat ein Staat auf den Finanzmärkten erst einmal seine Glaubwürdigkeit verloren, kann es schwer sein, sie wiederzugewinnen."

Wenn wir diese Zahlen präsentieren und die Meinung von Experten zitieren, so wollen wir nicht behaupten, dass die darin angeführten Möglichkeiten in genau der Form eintreten müssen. Obwohl alles auf das Gegenteil hindeutet, muss man davon ausgehen, dass es in der herrschenden Elite Amerikas immer noch einflussreiche Teile gibt, die nicht bereit sind, der Bush-Regierung auf dem Weg zum Abgrund blindlingszu folgen. Bevor das Bilanzdefizit eine Größenordnung von 50 oder 75 Prozent des BIP erreicht und der Dollar zusätzlich zu den 35 Prozent der letzten drei Jahre weitere 30 bis 40 Prozent an Wertverlust hinnehmen muss, werden mächtige Teile der Bourgeoisie eingreifen und einen Kurswechsel verlangen. Aber welche Optionen stehen zur Wahl? Unabhängig davon, welche alternative Politik vorgeschlagen wird, gehen alle mit ernsten Konsequenzen einher. Darüber hinaus muss jede alternative Politik, ganz zu schweigen von der Beibehaltung des jetzigen Kurses, zu einem stärkeren Angriff auf den Lebensstandard und die gesellschaftlichen Bedingungen der Arbeiterklasse in den Vereinigten Staaten führen.

Man sollte nicht vergessen, dass der zugrunde liegende historische Prozess, der in diesen Zahlen seinen Ausdruck findet, der lange und anhaltende Niedergang des amerikanischen Kapitalismus ist. Das Schicksal des Dollar ist unvermeidlich mit der Produktivkraft und Weltposition der amerikanischen Industrie verknüpft. Die Selbstbereicherung der herrschenden Elite ist deshalb so Ekel erregend, weil der Prozess des Geldmachens in zunehmendem Maße von den realen Produktivkapazitäten der amerikanischen Industrie abgekoppelt ist. Das amerikanische Kapital klappert die Welt nach billiger Arbeitskraft und billigen Rohstoffen ab, während die Produktionsbasis der amerikanischen Industrie verfällt und der Lebensstandard von großen Teilen der Arbeiterklasse entweder stagniert oder sinkt.

Was ist also unsere politische Prognose? Die herrschende Klasse Amerikas kann sich nicht durch friedliche Maßnahmen aus dieser Krise befreien; dies gilt nicht nur für ihre Politik in Übersee sondern auch innerhalb der Vereinigten Staaten selbst. Außerhalb der amerikanischen Grenzen wird der US- Imperialismus noch brutaler und rücksichtsloser vorgehen. Die US-Regierung ist sich in hohem Grade darüber bewusst, dass es für die Vereinigten Staaten keinen anderen Weg gibt, um den Verlust ihrer überragenden Stellung während der Nachkriegszeit auszugleichen. Nur so kann die außergewöhnliche Tatsache verstanden werden, dass sie den Krieg unverhohlen zu einem akzeptablen und angemessenen Mittel zur Durchsetzung geostrategischer Ziele erklärt hat.

Wenn Amerika seine Stellung als vorherrschende imperialistische Macht behalten will, muss es sich den Zugang zu den wichtigen Öl- und Erdgasquellen im Mittleren Osten und Asien sichern. Und damit nicht genug. Es muss auch das letzte Wort in der Frage haben, wie diese Ressourcen an die anderen Großmächte verteilt werden - an Europa und Japan sowie an China und Indien. Und schließlich muss es dafür sorgen, dass der Ölpreis in Dollar berechnet wird und nicht in Euro.

Das blutige Programm des amerikanischen Imperialismus erfordert die Umverteilung von kritischen Finanzressourcen aus dem sozialen in den militärischen Wirtschaftsbereich. Dies kann nicht erfolgen, ohne die jetzt schon bedeutenden sozialen Spannungen in den Vereinigten Staaten weiter zu verstärken. Was kann die Bush-Regierung tun? Es gibt keine guten und einfachen Antworten. Mutatis mutandis - bei allen offensichtlichen Unterschieden - bestehen große Ähnlichkeiten zwischen der Situation, der die Bush-Regierung zu Beginn des vierten Jahres ihres selbsterklärten "Kriegs gegen den Terrorismus" gegenübersteht, und der des Nazi-Regimes in den späten 1930-er Jahren, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs. Wie ein aufmerksamer Historiker erklärte:

"... es scheint in den Jahren 1938/39 kein wirtschafts- oder sozialpolitisches Problem gegeben zu haben, für das aus Sicht der Nazis eine eindeutige Lösungen zur Hand war. Die forcierte Kriegsvorbereitung seit Frühjahr 1938 hatte die Kapazitäten und Reserven in jeglicher Hinsicht überstrapaziert. ... Schwierigkeiten verbanden sich zu einer umfassenden Krise des gesamten Wirtschafts- und Regierungssystems; ihr zugrunde lag die Frage, wie das Sozialprodukt zwischen den militärischen und zivilen Bedürfnissen aufgeteilt werden sollte. Anders gesagt, die Regierung stand dem akuten politischen Problem gegenüber, wie viel Opfer sie vom Volk zugunsten von Wiederbewaffnung und Krieg verlangen konnte." (9)

Wenn das in einem Land ein Problem war, in dem es der Bourgeoisie bereits gelungen war, das brutalste und rücksichtsloseste Regime der Weltgeschichte an die Macht zu bringen, dann ist das politische Dilemma, dem die Bush-Regierung gegenübersteht, entsprechend größer. Es gibt schon jetzt eine weitverbreitete Opposition gegen die Bush-Regierung. Und gerade die Tatsache, dass diese latente gesellschaftliche Opposition innerhalb der existierenden politischen Strukturen keinen Ausdruck finden kann, verleiht ihr einen außergewöhnlich explosiven Charakter.

Die Aufgabe der Socialist Equality Party muss darin bestehen, sich auf die Logik der Weltwirtschaftskrise zu stützen, das Wiederaufleben sozialer Kämpfe in den Vereinigten Staaten vorwegzunehmen und sich auf die revolutionäre Kraft in der amerikanischen Gesellschaft - die Arbeiterklasse - auszurichten. Für diejenigen, die mit der Geschichte gesellschaftlicher Konflikte in den Vereinigten Staaten von den 1870-er bis zum Ende der 1980-er Jahre nicht vertraut sind, die in einem sozialen Umfeld aufgewachsen sind, in dem es keine Streiks, Kämpfe mit der Polizei, Massendemonstrationen und andere typische Formen des Klassenkampfes gab, wie sie in den Vereinigten Staaten über ein Jahrhundert lang üblich waren, mag dieses Beharren auf der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse utopisch oder seltsam wirken. Aber die historische Erfahrung zeigt, dass die Ruhe - oder besser gesagt, die Lähmung und Stagnation - der letzten anderthalb Jahrzehnte ein starkes Abweichen von den Grundmustern der amerikanischen Sozialgeschichte darstellte.

Studiert man den wichtigsten Maßstab des Klassenkonflikts in den Vereinigten Staaten - Streikstatistiken - so springt einem sofort das buchstäbliche Verschwinden von organisierten Arbeitskampfmaßnahmen in den vergangenen zwei Jahrzehnten ins Auge [Siehe Tabellen 5, 6 und 7]. Die Zahl der Arbeiter, die an Arbeitseinstellungen beteiligt waren, die Zahl der ausgefallenen Arbeitstage und der Prozentsatz der gesamten Arbeitszeit, die durch Streiks verloren ging, sind so weit heruntergegangen, dass sie praktisch keine Rolle mehr spielen. Diese Zahlen sind vollkommen atypisch für die Grundmuster der Klassenbeziehungen, die sich zwischen den 1870-er und 1980-er Jahren in den Vereinigten Staaten herausgebildet haben.

Tabelle 5: Zahl der Arbeiter, die an Arbeitseinstellungen von 1.000 oder mehr Arbeitern beteiligt waren, 1947-2003, Quelle: US Bureau of Labor Statistics.

Tabelle 6: Zahl der ungenutzten Arbeitstage aufgrund von Arbeitseinstellungen von 1.000 oder mehr Arbeitern, 1947-2003, Quelle: US Bureau of Labor Statistics.

Tabelle 7: Anteil verlorener Arbeitszeit aufgrund von Arbeitseinstellungen von 1.000 oder mehr Arbeitern, 1947-2003, Quelle: US Bureau of Labor Statistics.

Welche Erklärung kann man für den erstaunlichen Niedergang des wichtigsten objektiven Maßstabsdes sozialen Konflikts in Amerika finden? Entweder verhält sich die amerikanische Arbeiterklasse vollkommen gleichgültig gegenüber dem Verfall ihrer gesellschaftlichen Stellung, und das gewaltige Anwachsen von sozialer Ungleichheit während der letzten zwei Jahrzehnte erfolgte, ohne dass es zu gesellschaftlichen Spannungen und Rissen geführt hätte, oder die bestehenden politischen Strukturen und Organisationen, durch die Arbeiter traditionell ihre soziale Unzufriedenheit zum Ausdruck brachten, haben alle Unmutsäußerungen in der Arbeiterklasse unterdrückt. Letzteres ist die weitaus plausiblere Erklärung. Es ist auch die korrekte Erklärung.

Das Auftreten der Arbeiterklasse als unabhängige und revolutionäre politische Kraft ist nicht nur eine Frage der Organisation, sondern auch des gesellschaftlichen Bewusstseins, der politischen Perspektive und des theoretischen Wissens über die Gesetze der Geschichte und die kapitalistische Produktionsweise. Während der Jahrzehnte, in denen sie einen beachtlichen Einfluss in den Vereinigten Staaten genoss, widmete sich die offizielle Arbeiterbewegungder Aufgabe, alle Spuren dieser wichtigen intellektuellen Komponenten des Klassenbewusstseins auszurotten. Darüber hinaus verunmöglichten ihr nationaler Provinzialismus, verbunden mit einer sklavischen Treue zur Demokratischen Partei, jede effektive Reaktion auf die kapitalistische Offensive der 1980-er Jahre und die mit der kapitalistischen Globalisierung entstandenen neuen Bedingungen.

Das Wiederaufleben von intensiven gesellschaftlichen Kämpfen und Klassenkonflikten ist in den Vereinigten Staaten und international unausweichlich. Unsere Aufgabe besteht darin, uns auf das unvermeidliche Wiedererwachen der Klassenkämpfe im Weltmaßstab vorzubereiten. Wir tun dies, indem wir eine internationale Perspektive und ein Programm ausarbeiten, auf das sich die Arbeiterklasse in ihren Kämpfen stützen muss, indem wir energisch daran arbeiten, den Einfluss der World Socialist Web Site zu vergrößern, und indem wir eine neue Generation von Jugendlichen, Studenten und Arbeitern an den Sozialismus heranführen undauf der Grundlage der unvergleichlichen Geschichte des Internationalen Komitees der Vierten Internationale zu Marxisten erziehen.

– – – – – – – – –

Anmerkungen

1. http://www.aflcio.com/corporateamerica/paywatch/ceou/database.cfm

2. Writings of Leon Trotsky 1932-33 (New York, 1972), pp. 232-33.

3. The Passing of an Illusion (Chicago 1999), p. 2. (aus dem Englischen übersetzt)

4. Georg Lukács Werke Band 13, Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins, 1. Halbband, Luchterhand 1984

5) Leo Trotzki, "Die Dritte Internationale nach Lenin", Essen 1993, S. 24-25

6) Antonio Gramsci, "Prison Notebooks", New York 1971, p. 240; aus dem Englischen

7) The U.S. as a Net Debtor: The sustainability of the U.S. External Imbalances, Nouriel Roubini und Bred Setser, November 2004.

8) Sustained Budget Deficits: Longer-Run U.S. Economic Performance and the Risk of U.S. Financial and Fiscal Disarray, 4. Januar 2004, erhältlich unter: http://www.brook.edu/views/papers/orszag/20040105.pdf.

9) Nazism, Fascism and the Working Class, Tim Mason, Cambridge, UK, 1995, S. 106.

Loading