Die folgende Rede hielt David North auf öffentlichen Veranstaltungen, die das Internationale Komitee der Vierten Internationale und die World Socialist Web Site am 29. August in Wellington, Neuseeland, und am 5. September in Sydney, Australien, veranstaltete. North ist Chefredakteur der WSWS und Vorsitzender der Socialist Equality Party in den USA.
In etwas mehr als zwei Monaten findet in den Vereinigten Staaten die regelmäßige Präsidentenwahl statt. Aus leichtverständlichen Gründen wird der Ausgang dieser Wahl weltweit mit großem Interesse verfolgt - vielleicht sogar mit größerem Interesse als in den USA selbst. Man empfindet die USA als gefährliches Land, kontrolliert von unbedachten und rücksichtslosen Militaristen, die vor nichts zurückschrecken, um ihre globalen Ziele zu erreichen. Gegen diese Auffassung habe ich keine Einwände zu erheben.
Der Parteitag der Republikaner, der sich vergangene Woche in New York versammelte, um George W. Bush erneut zum Präsidentschaftskandidaten zu ernennen, hatte mehr mit dem Nürnberger Parteitag der Nazis gemein als mit dem typischen Parteitag einer bürgerlich-demokratischen Partei in den USA. Außerhalb des Parteitags, auf den Straßen New Yorks, wurden fast 2.000 Leute zusammengetrieben, mit riesigen Netzen gefangen und verhaftet, um die politischen Proteste abzublocken.
Innerhalb des Parteitags jubelte ein reaktionärer Mob den faschistoiden Reden eines Dick Cheney - des Vizepräsidenten und Vertreters von Halliburton, der über eine von den Medien totgeschwiegene geheime Regierung präsidiert - und eines Senators Zell Miller aus Georgia zu. Miller, ein Demokrat, spricht für den Flügel der Demokratischen Partei, der offen oder verdeckt für die Wiederwahl Bushs eintritt.
Millers Rede artikulierte die undemokratische, autoritäre, militaristische und imperialistische Weltanschauung am deutlichsten, die in den herrschenden Kreisen weit verbreitet ist. Er sagte: "Nicht der Reporter, sondern der Soldat hat uns die Pressefreiheit geschenkt. Nicht der Poet, sondern der Soldat und hat uns die Redefreiheit geschenkt." Unnötig zu sagen, dass die Medien nicht auf die Absurdität dieser Aussage eingingen, die nicht nur im Widerspruch zur Rechtsgrundlage der US-Verfassung steht, sondern auch von der Geschichte des Landes widerlegt wird. Man sollte Millers Aussage nicht einfach als wirres Gerede eines überdrehten rechten Politikers abtun, hat doch die Regierung während der letzten drei Jahre entschlossene Anstrengungen unternommen, den Einsatz von Militärtribunalen zu legitimieren, vor denen der Angeklagte über keine verfassungsmäßigen Rechte verfügt, noch nicht einmal über den Schutz vor willkürlicher Verhaftung.
Das bringt mich zu einer weiteren Aussage Millers vor dem Republikaner-Parteitag: "Niemand sollte auch nur im Traum daran denken, Oberbefehlshaber dieses Landes zu werden, wenn er nicht von ganzem Herzen überzeugt ist, dass unsere Soldaten Befreier im Ausland und Verteidiger im Inland sind."
Diese Aussage verfälscht den Inhalt der amerikanischen Verfassung und die Absichten ihrer Autoren. Dabei ist Millers Erklärung weder originell noch außergewöhnlich. Die von Politikern und Medien-Leuten immer wieder aufgestellte Behauptung, der Präsident sei der "Oberbefehlshaber" des Landes, zielt darauf ab, die Leute zu verwirren, ihre natürlichen demokratischen Instinkte zu untergraben und den Trend zu einer Militär- und Polizeidiktatur zu rechtfertigen.
Der erste Satz von Artikel II, Abschnitt 2 der US-Verfassung lautet: "Der Präsident ist Oberbefehlshaber der Armee und der Flotte der Vereinigten Staaten und der Miliz der Einzelstaaten, wenn diese zur aktiven Dienstleistung für die Vereinigten Staaten aufgerufen wird..." Dieser Satz ist unzweideutig. Der Präsident ist nicht Oberbefehlshaber des ganzen Landes, sondern des Militärs. Er ist der höchste gewählte Entscheidungsträger des Landes, und nicht sein Führer [deutsch im Original]. Die Bezeichnung des Präsidenten als Oberbefehlshaber unterstreicht, richtig verstanden, die Vorherrschaft des gewählten, zivilen Vertreters des Volkes über das Militär, und nicht die des Militärs über den zivilen Zweig der Regierung. Millers Rede unterstreicht exemplarisch, wie fremd die Vorstellungen der Demokratie für die herrschende Klasse Amerikas geworden sind.
Wir haben es hier nicht nur mit einem intellektuellen Niedergang zu tun. Die zügellose Konzentration von Reichtum in den Händen einer sehr kleinen Bevölkerungsschicht hat unausweichlich zur Folge, dass die soziale Basis der bürgerlichen Herrschaft schrumpft. Das zwingt die herrschende Klasse, sich eine neue Basis unter Elementen zu schaffen, die außerhalb der breiten Masse der Bevölkerung stehen und weitgehend von dieser unabhängig sind. Darin besteht die Rolle der Freiwilligenarmee. Sie wird durch Banden von Berufskillern und Folterknechten ergänzt, die vom Militär angeheuert werden, um den Unterdrückungsapparat im Irak und in Afghanistan zu verstärken. Die Kriegserfahrungen im Irak, wo amerikanische Soldaten daran gewöhnt werden und teilweise sogar Geschmack daran finden, massenhaft Zivilisten zu töten und zu unterdrücken, bringt einen gefährlichen gesellschaftlichen Typ hervor, auf den sich die herrschende Elite zunehmend stützten wird, um die Ordnung in den Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten.
Einige von Euch mögen sich an die Rede erinnern, die ich vor vier Jahren, unmittelbar nach der Wahl vom November 2000, hier in diesem Raum hielt. Es war der 3. Dezember, und der Wahlausgang war immer noch unbekannt. Ich sagte damals, das Wahlergebnis werde zeigen, wie weit es in den Vereinigten Staaten noch ein Engagement für die traditionellen Formen der bürgerlichen Demokratie gebe. Kaum zwei Wochen später griff das Oberste Gericht ein, stoppte die Nachzählung der umstrittenen Stimmen in Florida und wählte George W. Bush zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Dieses Ereignis kennzeichnete einen Wendepunkt in der amerikanischen Geschichte, dessen internationale Bedeutung mittlerweile zu Tage getreten ist.
Die Ereignisse der letzten vier Jahre haben die weltweite Wahrnehmung der Vereinigten Staaten grundlegend verändert. Selbst für jene, die die amerikanische Gesellschaft nicht durch eine rosa Brille betrachtet und Washingtons ständige Bekenntnisse zu Demokratie und Hilfsbereitschaft nicht unkritisch akzeptiert haben, kamen die jüngsten Ereignisse als Schock. Mit der Invasion Afghanistans und des Irak lebte ein ungezügelter Imperialismus wieder auf, wie ihn die Welt seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr erlebt hat. Der groteske Sadismus, der auf den Bildern aus dem Gefängnis Abu Ghraib zur Schau gestellt wurde, wird für eine ganze Generation zum Inbegriff des brutalen und raubgierigen Charakters der Besetzung des Irak durch die USA werden.
In der Politik wie im Leben überhaupt neigen Leute zur Hoffnung, es gebe eine einfache und leichte Lösung für schwierige und ernsthafte Probleme. Daher ist die Vorstellung so attraktiv, die Wahl John Kerrys zum Präsidenten werde vielleicht nicht zu einer völligen Verwandlung, aber doch zu einer Verbesserung des internationalen politischen Klimas führen. Wer das glaubt, geht von der Auffassung aus, die gegenwärtige amerikanische Politik sei das Ergebnis der persönlichen Charaktereigenschaften des Insassen des Weißen Hauses. Die Ironie dieser Auffassung liegt darin, dass sie Bush, eine ignorante Null, in eine Art welthistorische Figur verwandelt.
Aber ausgehend von einer Geschichtsauffassung, die alles dem "schlechten Bush" in die Schuhe schiebt, kann man die großen Probleme unserer Zeit nicht verstehen, geschweige denn lösen. Selbst wenn Kerry die Wahl trotz seiner feigen und bankrotten Kampagne gewinnen sollte, würde dies den zerstörerischen und barbarischen Kurs des amerikanischen Imperialismus nicht grundlegend ändern. Die Besetzung des Irak würde damit nicht beendet, noch würde die Wahrscheinlichkeit weiterer, zerstörerischer Krieg in naher Zukunft gemindert.
Selbst wenn man zugesteht, dass die amerikanische Außenpolitik bis zu einem gewissen Grad durch die kriminellen Eigenschaften der Persönlichkeit Bushs und seines Klüngels geprägt wird - was sicherlich zutrifft -, bleibt der subjektive Faktor von zweitrangiger Bedeutung. Allein schon die Tatsache, dass Bushs Politik im politischen und gesellschaftlichen Establishment der Vereinigten Staaten derart breite Unterstützung genießt, macht deutlich, dass hier grundlegendere Faktoren im Spiel sind, als die gestörte Persönlichkeit des Präsidenten.
Die Eroberung und Besetzung des Irak ist Ausdruck eines kolossalen Versagens der amerikanischen Demokratie. Wie jedermann auf der Welt weiß, wurde der Krieg auf der Grundlage offener Lügen geführt: dass es erstens im Irak Massenvernichtungswaffen gebe; dass zweitens das Regime Saddam Husseins über Verbindungen zu Al-Qaida verfüge und deshalb irgendwie in die Ereignisse vom 11. September verwickelt sei; und dass drittens die Vereinigten Staaten dem Irak Demokratie bringen würden.
Vor der Invasion im März 2003 wurde nicht eine dieser Behauptungen vom politischen Establishment und den Massenmedien ernsthaft hinterfragt. Das war kein Zufall. Da die Kriegspolitik der Bush-Regierung im politischen Establishment und beiden großen Parteien große Unterstützung genoss, gab es keinerlei Interesse, die von der Regierung vorgebrachten Kriegsgründe all zu penibel zu überprüfen. Dass dies so war, zeigt auch der Umstand, dass die Unterstützung der herrschenden Elite für die anhaltende Besetzung des Irak auch dann nicht wesentlich abbröckelte, als die Lügen entlarvt wurden. Senator Kerrys kürzlich gemachte Äußerung, er hätte die berüchtigte Senatsresolution, die den Präsidenten zur Gewaltanwendung gegen den Irak ermächtigte, selbst dann unterstützt, wenn er gewusst hätte, das es dort keine Massenvernichtungswaffen gebe, widerlegt gründlich die Behauptung, die Politik der Bush-Regierung sei eine Art anomale Abweichung von einer zurückhaltenderen und gemäßigteren amerikanischen Außenpolitik.
Zur Begründung ihrer Politik führt die Bush-Regierung pausenlos das Gespenst des 11. September 2001 an. In der modernen Mythologie der amerikanischen Politik nimmt dieses Datum einen erhabenen Platz ein. Nach dem 11. September, sagt man, sei "alles anders". Das ist eine allgemein akzeptierte Binsenweisheit, die einer sorgfältigen Überprüfung nicht stand hält.
Die Ereignisse vom 11. September spielten bei der Festlegung der internationalen Strategie der Vereinigten Staaten so gut wie keine Rolle. Jeder Beobachter der amerikanischen Außenpolitik hätte selbst mit bescheidenem Wissen lange vor dem 11. September - ja sogar bevor Bush Präsident wurde - voraussehen können, dass die Invasion der USA in Afghanistan und dem Irak unvermeidlich war.
Die gesamte Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik seit dem Ende des ersten Golfkriegs war darauf berechnet, eine Wiederaufnahme des Kriegs gegen den Irak zu rechtfertigen. Ebenso wurde die Invasion Afghanistans durch die wachsende Aufmerksamkeit vorweggenommen, die amerikanische Politikstrategen während der neunziger Jahre der geostrategischen und ökonomischen Bedeutung Zentralasiens zuwandten. Kein geringerer als Zbigniew Brzezinkski, der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, veröffentlichte 1997 ein Buch mit dem Titel "Die einzige Weltmacht", in dem er argumentierte, die globale Stellung Amerikas im 21. Jahrhundert hänge vom Erringen einer dominierenden Rolle in Zentralasien ab. Da er sich der hohen sozialen Kosten bewusst war, die ein anhaltendes militärisches Engagement in Zentralasien dem amerikanischen Volk aufbürden würde, warnte Brzezinski, dass sich dafür in den USA kaum Unterstützung gewinnen ließe, "außer in Situationen, in denen nach allgemeinem Empfinden das nationale Wohlergehen bedroht oder gefährdet ist".
Der 11. September hatte keine Neuausrichtung der amerikanischen Außenpolitik zur Folge, sondern er lieferte den Vorwand für die Umsetzung geostrategischer Ziele, die seit der Zeit Jimmy Carters von allen US-Regierungen formuliert und verfolgt wurden.
Es lohnt sich, noch einmal auf die grundlegenden geostrategischen Ziele einzugehen, die die Bush-Regierung mit den von ihr geführten Kriegen verfolgt hat und, nicht zu vergessen, die Clinton-Regierung mit dem Krieg gegen Serbien im Jahr 1999.
Das wichtigste Ziel der drei Präsidentschaften (Bush I, Clinton und Bush II), die seit der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 im Amt waren, bestand darin, die historische Gelegenheit zu nutzen, die durch den sowjetischen Zusammenbruch entstanden war, um eine unanfechtbare globale Vormachtstellung für die Vereinigten Staaten zu erlangen. Bereits 1992 veröffentlichte das amerikanische Militär ein neues Strategiedokument, das es zum Ziel der amerikanischen Politik erklärte, jeden anderen Staat daran zu hindern, die Vormachtstellung der USA in der Welt herauszufordern.
Im Rahmen dieser globalen Strategie ist die Beherrschung des Nahen Ostens und Zentralasiens mit ihren riesigen Öl- und Erdgasreserven unverzichtbar. Für die USA ist der Zugang und die Kontrolle dieser Reserven - die einen großen Bestandteil aller weltweit bekannten Reserven ausmachen - nicht nur entscheidend, um den eigenen Bedarf zu befriedigen. In einer Welt, in der die Erschöpfung der Öl- und Erdgasreserven im Verlauf des nächsten Vierteljahrhunderts zu einer Schlüsselfrage wird, verleiht die Kontrolle über die Verteilung und Zuteilung dieser Reserven den USA auch einen Machthebel gegenüber ihren gegenwärtigen und zukünftigen Rivalen.
In Bezug auf dieses grundlegende strategische Ziel - die Errichtung und Konsolidierung der weltweiten Vorherrschaft der USA - gibt es zwischen George Bush und John Kerry keinen bedeutenden oder grundlegenden Unterschied. Soweit es überhaupt Differenzen gibt, sind sie taktischer Natur - sie drehen sich um die Frage, wie weit die vereinigten Staaten beim Verfolgen ihrer Hegemonialpläne einen internationalen imperialistischen multilateralen Rahmen akzeptieren sollten.
Selbst die Kritiker von Bushs Außenpolitik anerkennen, dass ein Regierungswechsel an deren unilateraler Ausrichtung nichts grundlegend ändern würde. So schreibt Professor G. John Ikenberry:
"Nach dem Ende des Kalten Krieges und aufgrund des Fehlens jedes ernsthaften geopolitischen Herausforderers sind die Vereinigten Staaten in der Lage, alleine zu handeln, sagen die Fürsprecher des Unilateralismus. Haben sie Recht, dann befindet sich die internationale Ordnung im frühen Stadium einer bedeutsamen Veränderung, ausgelöst durch das ständige und energische Bemühen der Vereinigten Staaten, sich von den unilateralen Beschränkungen einer früheren Ära zu lösen. Es spielt keine große Rolle, wer Präsident und welche Partei an der Regierung ist: die Vereinigten Staaten werden ihre Macht direkter, unvermittelter und mit weniger Einschränkungen durch internationale Regeln, Institutionen oder Bündnisse ausüben. Das Ergebnis wird eine hegemonistische, auf Macht beruhende internationale Ordnung sein. Der Rest der Welt wird sich beschweren, aber andere Nationen werden weder fähig noch willens sein, den Vereinigten Staaten genügend Kosten aufzuerlegen, um ihren Kurs zu ändern." (unsere Hervorhebung) [1]
Diese Schlussfolgerung ist ohne Zweifel richtig, denn ungeachtet seiner schwachen Kritik am Unilateralismus der Bush-Administration betont Kerry bei jeder Gelegenheit, dass seine eigene Administration nicht zögern würde, unilateral vorzugehen, falls sich dies im "nationalen Interesse" als nötig erweisen sollte.
Ikenberry beklagt die verstärkte Neigung zum Unilateralismus, erklärt aber deren Grund nicht. Er verweist immer wieder auf die enorme militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten über alle anderen Nationalstaaten und behauptet, dieser wichtige geopolitische Tatbestand erlaube es den USA, internationale Opposition gegen ihre eigene Politik einfach zu ignorieren. Aber diese Erklärung ist unzureichend. Schließlich hat sich die Truman-Administration unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, als die militärische und wirtschaftliche Überlegenheit der USA ihren Höhepunkt erreichte, intensiv darum bemüht, vielschichtige multilaterale internationale Strukturen zu entwickeln.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die dominierende Stellung der USA im internationalen Kapitalismus weniger durch ihre Militärmacht, als durch ihre damals unanfechtbare wirtschaftliche Überlegenheit gewährleistet. Höchstes Symbol der amerikanischen Macht war nicht die Atombombe, sondern der Dollar. Die gesamte internationale Finanz- und Handelsstruktur stützte sich auf den Dollar, der als internationale Reservewährung diente und zu einem festen Kurs in Gold umtauschbar war. Die enorme finanzielle und industrielle Macht der USA stellte die wesentlichen Mittel für die enorme Expansion der Weltwirtschaft zur Verfügung.
Die heutige Weltlage unterscheidet sich stark von der Lage nach Kriegsende. Die globale ökonomische Stellung der USA ist im Verlauf der vergangenen 60 Jahre dramatisch geschwächt worden. Schon 1971 hatte die relative Schwächung der Vereinigten Staaten gegenüber ihren wichtigsten kapitalistischen Rivalen in Europa und Japan den Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems und seiner tragenden Säule, der festen Bindung des Dollars ans Gold, nach sich gezogen. In den folgenden Jahrzehnten sind die Vereinigten Staaten vom größten Kreditgeber der Welt zur größten Schuldnernation geworden. Vor sechzig Jahren speiste die amerikanische Wirtschafts- und Finanzmacht den Wiederaufbau der kriegs- und krisenzerstörten kapitalistischen Weltordnung. Heute hängt die Lebensfähigkeit des amerikanischen Finanzsystems von der Bereitschaft fremder Staaten und Investoren ab, das atemberaubende Leistungsbilanzdefizit der USA zu decken.
Die USA borgen jetzt etwa 540 Milliarden Dollar im Jahr, um ihr rasch wachsendes Leistungsbilanzdefizit zu decken. Im ersten Quartal 2004 machte das 5,4 Prozent des BSP aus, weit mehr als die bisherige Höchstmarke von 3,5 Prozent, die 1987 erreicht wurde, als der Dollar über einen Drittel seines Werts verlor und die Börse einbrach.
Unter bürgerlichern Ökonomen herrscht weitgehend Übereinstimmung, dass das Leistungsbilanzdefizit - dessen größter Bestandteil die negative Handelsbilanz ausmacht - zu einer ernsthaften Krise führen wird. Viele glauben, ein erhebliches Absinken des Dollarkurses mit möglicherweise destabilisierenden internationalen Auswirkungen sei unvermeidlich und notwendig.
So schreibt Peter G. Peterson, der Vorsitzende des Council on Foreign Relations: "Der nächste Run auf den Dollar wird, sollte er stattfinden, ernsthafte Erschütterungen in der realen’ Wirtschaft auslösen - sinkendes Konsumenten- und Investorenvertrauen, ein ernsthafter Wirtschaftsrückgang, und schließlich eine globale Rezession... Kaum ein von mir befragter politisch Verantwortlicher, Finanzhändler und Ökonom glaubt, das amerikanische Leistungsbilanzdefizit könne auf dem jetzigen Niveau länger als fünf Jahre durchgehalten werden. Viele sehen ein reales Krisenrisiko. Nach Ansicht des früheren Notenbankvorsitzenden Paul Volcker liegen die Chancen dafür bei etwa 75 Prozent in den nächsten fünf Jahren; der frühere Finanzminister Robert Rubin spricht von einem Tag der ernsthaften Abrechung’. Was könnte eine derartige Krise auslösen? So gut wie alles: ein Terroranschlag, ein schlechter Tag an der Wall Street, enttäuschende Beschäftigtenzahlen oder sogar eine gereizte Bemerkung eines Zentralbankmitglieds." [2]
Der bekannte Wirtschaftskommentator der Financial Times, Martin Wolf, beschreibt die Lage noch unverblümter: "Die USA befinden sich jetzt auf einem bequemen Weg in den Ruin. Sie lassen sich in Richtung wachsender Haushaltsdefizite und Auslandsschulden treiben, die die Kreditwürdigkeit des Landes und die globale Rolle seiner Währung gefährden. Das wird wahrscheinlich und nicht zufällig auch zu einem nicht mehr beherrschbaren Anwachsen des amerikanischen Protektionismus führen. Und was noch schlimmer ist: je länger der Prozess anhält, desto größer wird schließlich der Schock für den Dollar und für das Niveau der realen Inlandsausgaben sein. Wenn sich der Trend nicht ändert, werden die UA in zehn Jahren Haushaltsschulden und -verpflichtungen von jeweils über 100 Prozent des BSP haben. Sie werden die Kontrolle über ihr ökonomisches Schicksal verloren haben." [3]
Die Einsicht, dass sich ihre Stellung in der Weltwirtschaft verschlechtert, trägt maßgeblich dazu bei, dass sich die Vereinigten Staaten verstärkt auf militärische Gewalt stützen. Aber paradoxerweise sind die enormen Kosten der weitreichenden militärischen Operationen eine weiteres, enormes Gewicht, das auf der nationalen Wirtschaft lastet. Die Operation im Irak zeigt das deutlich. Es kostet die Vereinigten Staaten eine Milliarde Dollar pro Woche, zwei Divisionen für "Stabilisierungsoperationen" im Irak einzusetzen. Aufs Jahr umgerechnet entspricht das dem gesamten BSP Neuseelands. [4] Und die Kosten des Irakkriegs addieren sich zu den enormen Summen, die ohnehin für militärische Zwecke ausgegeben werden. Das Haushaltsbüro des Kongresses hat kürzlich ausgerechnet, dass die Bush-Administration die notwendigen Kosten für militärische Ausgaben in den kommenden zehn Jahren stark unterschätzt hat. Es rechnet mit einem Mehrbedarf von mindestes 1,1 Billionen Dollar. [5]
Bedeutsamer noch als die finanzielle Belastung sind die destabilisierenden und potentiell explosiven Auswirkungen des amerikanischen Militarismus auf die Beziehungen zwischen den imperialistischen Staaten. Das Vormachtstreben der Vereinigten Staaten vollzieht sich nicht in einem geopolitischen Vakuum. Wo die Ambitionen der Vereinigten Staaten die Interessen anderer Staaten berühren, sind Konflikte und Zusammenstöße unvermeidlich.
Hinter den gegenseitigen Beschuldigungen, die die Vereinigten Staaten und Europa im Vorfeld des Irakkriegs gegeneinander erhoben, verbergen sich reale Konflikte über materielle Interessen. Diese Konflikte können irgendwann zu mehr führen, als zu heftigen diplomatischen Auseinandersetzungen. Das "alte Europa" hat sich schließlich auf die Lippen gebissen und mürrisch zugeschaut, wie die Vereinigten Staaten in den Irak eindrangen. Aber wird es sich ebenso verhalten, wenn die USA auf der Jagd nach neuen Ölquellen Europa in Afrika beiseite drängen? Im Juli 2002 erklärte der stellvertretende Außenminister Walter Kansteiner während eines Nigeriabesuchs: "Das afrikanische Öl hat für unsere nationalen Interessen strategische Bedeutung." Die Bush-Administration hat sechs afrikanische Länder ausgemacht, die für die Energiepolitik der USA strategische Bedeutung haben: Nigeria, Angola, Gabon, die Republik Kongo, Tschad und Äquatorial Guinea (letzteres war Ziel einer Verschwörung, hinter der niemand Geringeres als Sir Mark Thatcher, der Sohn der früheren britischen Premierministerin stand). Im Verteidigungsministerium wird zur Zeit darüber diskutiert, ein neues Afrikanisches Oberkommando zu bilden, das die Aktivitäten des US-Militärs auf dem Kontinent koordiniert. [6]
Neben möglichen Konflikten mit alten imperialistischen Rivalen schafft das amerikanische Vordringen nach Zentralasien während der letzten fünf Jahre die Möglichkeit militärischer Konflikte mit allen anderen Staaten, die ein Interesse an der Zukunft der Region haben, einschließlich Iran, Indien, China und Russland.
Gehen wir einmal davon aus, dass sich ein Personalwechsel im Weißen Haus, im Außenministerium und im Pentagon auf gewisse Aspekte der amerikanischen Außenpolitik auswirken würde. Eine Kerry-Administration würde sich vielleicht stärker bemühen, die Zustimmung seiner imperialistischen Verbündeten für eine weitere Militäraktion zu bekommen. Aber solche Unterschiede betreffen den Stil, nicht den Gehalt der Politik. Im Rahmen der kapitalistischen Weltordnung kann der Grundwiderspruch zwischen Weltwirtschaft und nationalstaatlicher Ordnung nicht friedlich bewältigt werden. Der gewalttätige und aggressive Charakter des amerikanischen Kapitalismus ist - wie der des deutschen Kapitalismus in den dreißiger und vierziger Jahren - nur der schärfste Ausdruck des räuberischen Wesens der imperialistischen Ordnung.
Als Hitlers Armeen im Mai 1940 Frankreich überrannten, wies Trotzki eine oberflächliche Erklärung für den Kriegsausbruch von sich. "Der jetzige Krieg - der zweite imperialistische Krieg - ist kein Zufall," schrieb er. "Er rührt nicht aus dem freien Willen dieses oder jenes Diktators her. Er wurde lange vorher vorausgesagt. Er folgte unerbittlich aus den Widersprüchen der internationalen kapitalistischen Interessen. Entgegen den offiziellen Fabeln, die das Volk einlullen sollen, ist die Hauptursache des Krieges, wie aller anderen sozialen Übel - Arbeitslosigkeit, hohe Lebenskosten, Faschismus, koloniale Unterdrückung - das Privateigentum an den Produktionsmitteln und der bürgerliche Staat, der darauf beruht.... So lange sich die Hauptproduktivkräfte der Gesellschaft im Besitz von Trusts, d.h. vereinzelten Kapitalistencliquen befinden, und so lange der nationale Staat ein fügsames Werkzeug in den Händen dieser Cliquen bleibt, muss der Kampf um Märkte, um Rohstoffquellen, um die Weltherrschaft unvermeidlich einen immer verwüstenderen Charakter annehmen." [7]
Wie passend, zeitgemäß und vorausschauend diese Worte sind! Die gewaltigen, mächtigen ökonomischen Kräfte, die die Politik des amerikanischen Imperialismus prägen und bestimmen, werden sich nur aufgrund eines Personalwechsels im Weißen Haus nicht ändern. Die Debatte zwischen Bush und Kerry, wie die globalen Ziele der Vereinigten Staaten am besten erreicht werden können, ist eine Debatte im Rahmen der herrschenden Elite, jenes kleinen Bruchteils der amerikanischen Gesellschaft, in dem sich die große Masse des Reichtums konzentriert. Die Sorgen der Millionen gewöhnlichen Amerikaner aus der Arbeiterklasse, die mehrheitlich gegen den Krieg sind, drücken sich in den offiziellen Kampagnen der beiden imperialistischen Parteien in keiner Weise aus.
Wer sich einbildet, die Ausrichtung der amerikanischen Politik werde sich bedeutend ändern, falls Kerry Bush ablöst, gibt sich erbärmlichen Illusionen hin. Es gibt aber keinen Mangel an solchen Illusionen unter Leuten, die sich für Linke halten. Herr Tariq Ali, der in den sechziger und siebziger Jahren zu den Führern der britischen International Marxist Group zählte und sich nach wie vor als Sozialisten bezeichnet, ruft zur Wahl Kerrys auf. Herr Alis bisherige Leistungen als politischer Analyst flößen allerdings wenig Vertrauen ein. Als er Ende der achtziger Jahre für Perestroika und Glasnost warb, die er als großen Fortschritt für den Sozialismus in der Sowjetunion bezeichnete, widmete er ein Buch zu dem Thema keinem Geringeren als Boris Jelzin, "dessen Mut ihn zu einem wichtigen Symbol im ganzen Land gemacht hat". Aber verweilen wir nicht in der Vergangenheit, wenden wir uns dem zu, was Tariq Ali jetzt zu den amerikanischen Wahlen zu sagen hat.
In einem Interview mit Radio WBAI in New York City behauptete Ali am 5. August, eine Niederlage Bushs würde ein positives Signal ins Ausland schicken. "Die Niederlage einer Kriegstreiberregierung würde als Schritt vorwärts gesehen," sagte er. "Mehr will ich nicht sagen, aber ich habe nicht die geringsten Zweifel, dass dies weltweite Auswirkungen hätte."
In welchem Sinn wäre ein Wahlsieg Kerrys ein Schritt vorwärts und was wären die weltweiten Auswirkungen einer solchen Entwicklung? Würden sich die US-Truppen danach aus dem Irak zurückziehen? Würden sie sich aus Afghanistan zurückziehen? Die Antwort auf diese Fragen lautet unzweideutig Nein. Und was die weltweiten Auswirkungen einer Niederlage Bushs angeht, so könnte sie sogar die Bemühungen der USA erleichtern, europäische Unterstützung für die Besetzung des Irak und andere Militäroperationen zu gewinnen, die sich noch im Planungsstadium befinden. Mit diesem Argument versucht übrigens Kerry selbst, einflussreiche Kreise der herrschenden Elite zu überzeugen, sich hinter seine Kandidatur zu stellen.
Ein anderes Argument, Kerry zu unterstützen, findet sich in der linksliberalen Zeitschrift Nation vom 16. August. Naomi Klein erklärt dort mit einer neuartigen Begründung, warum sie sich schließlich entschlossen hat, die "Jeder-außer-Bush"-Kampagne zu unterstützen: Bush sei unter "fortschrittlichen Leuten" so verhasst, dass diese gar nicht in der Lage seien, ernsthaft über Politik und die tieferen Ursachen des Kriegs und der gesellschaftlichen Krise nachzudenken, so lange dieser Präsident bleibe.
"Dieser Wahnsinn muss ein Ende finden," schreibt sie, "und das kann am schnellsten durch die Wahl Kerrys geschehen, nicht weil er anders ist, sondern weil er in den meisten wichtigen Bereichen - Irak, "Krieg gegen Drogen", Israel/Palästina, Freihandel, Unternehmenssteuern - genau so schlimm ist. Der wichtigste Unterschied wird sein, dass Kerry dabei als intelligente, vernünftige und fürchterlich eintönige Person rüber kommen wird. Deshalb habe ich mich der Jeder-außer-Bush-Kampagne angeschlossen: nur mit einem Langweiler wie Kerry am Ruder werden wir in der Lage sein, mit der Fixierung auf den Präsidenten Schluss zu machen und uns wieder den wirklichen Fragen zuzuwenden."
Soll man auf ein solches Argument überhaupt eingehen? Frau Klein hat entdeckt, dass all ihre Freunde den Kopf verloren haben, und beschlossen, es ihnen nachzumachen, indem sie den eigenen entfernt.
Es gibt einen Namen für die Art von Politik, die von den Tariq Alis und Naomi Kleins dieser Welt praktiziert wird: Opportunismus. Wir verstehen darunter die Zurückstellung grundlegender politischer Prinzipienfragen hinter pragmatische und rein taktische Überlegungen. Gleichgültig gegenüber theoretischen Fragen (die sie als rein "abstrakt" abtun), weichen Opportunisten schwierigen Fragen der politischen Entwicklung gewöhnlich aus. Kritisieren Marxisten ihre Weigerung, die Auswirkungen ihrer taktischen Rezepte vom Standpunkt der unabhängigen politischen Organisation der Arbeiterklasse und der Entwicklung sozialistischen Klassenbewusstseins zu durchdenken, rechtfertigen die Opportunisten ihre pragmatische Politik im Namen des politischen Realismus. "Ihr Marxisten lebt in einer Welt der Theorie, wir leben in der realen’ Welt," erklären sie.
Es käme diesen pragmatischen Opportunisten niemals in den Sinn, dass sie die unrealistischsten Politiker überhaupt sind. Ihre Auffassung der Wirklichkeit beruht auf der oberflächlichen Bewertung von Ereignissen, der Berechnung kurzfristiger Vorteile und einer gehörigen Dosis Selbsttäuschung - und nicht auf einem wissenschaftlichen Einblick in die Gesetze des Klassenkampfs und seiner politischen Dynamik.
Alle Argumente, die die Opportunisten zugunsten einer Stimmabgabe für Kerry vorbringen, tragen, ob sie es wollen oder nicht, zur politischen Desorientierung der Arbeiterklasse bei. Die Arbeiterklasse bleibt damit ohne jegliche Vorbereitung für die Zeit nach der Wahl, in der sie es - ganz gleich wie die Wahl ausgeht - mit einer enormen Verschärfung der politischen, ökonomischen und sozialen Krise der Vereinigten Staaten zu tun haben wird.
Dass es der Arbeiterklasse während der jahrzehntelangen Todeskrise des Liberalismus nicht gelungen ist, sich von der Vorherrschaft der Demokratischen Partei zu lösen, ist eine historische Tragödie. Während der letzten 35 Jahre ist die Demokratische Partei unaufhaltsam nach rechts gegangen. Die wichtigste Ursache für diese Entwicklung ist die geschwächte internationalen Stellung des amerikanischen Kapitalismus. Sie hat die materielle Grundlage für jene Art liberaler, sozialreformistischer Politik untergraben, die es der Demokratischen Partei ermöglicht hatte, Arbeiter anzusprechen.
Aufgrund der allgemeinen Krise des amerikanischen Kapitalismus und bedeutenden Veränderungen in der sozialen Struktur der Gesellschaft - darunter eine beachtliche Bereicherung jener Schicht gutverdienender Freiberufler (Rechtsanwälte, Akademiker, usw.), in der die Demokratische Partei traditionell ihre politischen Repräsentanten findet - gibt es in der Kapitalistenklasse und ihrem Umfeld so gut wie keine Anhänger des Sozialliberalismus mehr.
Der Zerfall des amerikanischen Liberalismus ist derart weit fortgeschritten, dass die Demokratische Partei noch nicht einmal in der Lage ist, ernsthaft gegen die Bush-Administration anzugehen. Sie kann und will die Antikriegsstimmung breiter Bevölkerungsschichten nicht artikulieren. Im Gegenteil, ihr wichtigstes Ziel besteht darin zu verhindern, dass die Opposition gegen den Krieg einen politischen Ausdruck findet.
Betrachten wir noch einmal, wie es zur Nominierung John Kerrys kam: Während der Vorwahlkampagnen im Winter 2003-2004 wurde allgemein anerkannt, dass die Ablehnung des Irakkriegs die Frage war, die die Leute politisch motivierte. Laut Umfragen lehnten etwa 80 Prozent der Wähler, die sich selbst als Demokraten identifizierten, den Irakkrieg ab. Aus diesem Grund war Gouverneur Howard Dean aus New Hampshire anfangs so populär. Alle anderen Kandidaten mit Ausnahme von Senator Joseph Lieberman passten sich an diese weitverbreitete Antikriegsstimmung an. Lieberman, der sich stolz zur Invasion des Irak und seiner anhaltenden Besetzung bekannte, erreichte bei keiner Vorwahl mehr als sieben Prozent der Stimmen. Monatelang sah es aus, als könnte Dean zum Kandidaten der Demokratischen Partei nominiert werden. Dann nahmen ihn die Medien unter heftigen Beschuss und erklärten ihn für "unwählbar". Die Medienkampagne hatte Erfolg, weil sie an das Bedürfnis der gewöhnlichen demokratischen Wähler appellierte, im November mit einem Kandidaten in die Wahl zu ziehen, der die Wahl tatsächlich gewinnen kann.
Diese Stimmung führte zur plötzlichen Neubelebung der Kandidatur John Kerrys, die in einer Sackgasse zu stecken schien. Plötzlich - und dank der behutsamen und geschickten Nachhilfe der Medien - merkten die Wähler in Iowa und New Hampshire, wo die ersten Vorwahlen stattfanden, dass Kerry als Kriegsheld gegen die erwartete chauvinistische Schlammschlacht des Bush-Lagers immun sein würde. Da Kerry seine Rhetorik sorgfältig der Antikriegsstimmung anpasste, seine Zustimmung zur Kriegsresolution im Senat herunterspielte und sich als Gegner von Bushs Kurs im Irak ausgab, unterstützten ihn die Wähler als Antikriegskandidat, der die Chance zum Wahlsieg hat. So war seine Nominierung bereits Anfang März perfekt.
Da war das Ende jeder Diskussion über die Ablehnung der Invasion und Besetzung des Irak innerhalb der Demokratischen Partei. Die Kriegsfrage, die alle politischen Aktivitäten in der Vorwahlperiode motiviert hatte, verschwand von der Bildfläche. Durch ein geschicktes Manöver hatte die herrschende Elite sichergestellt, dass die Wahlkampagne kein Forum für die allgemeine Opposition gegen den Irakkrieg abgeben würde. Die Antikriegs-Wähler waren wirksam entmündigt worden.
Diese Entwicklung hat gezeigt, in welchem Maße die offiziellen politischen Parteien in den Vereinigten Staaten von den breiten Massen unabhängig sind. Die Konzentration der politischen Macht in den Händen zweier bürgerlicher Parteien ergänzt die Konzentration des Nationalvermögens in einer äußerst schmalen sozialen Schicht, die die herrschende Elite Amerikas ausmacht.
Soziale Polarisierung und Ballung von Reichtum in den Vereinigten Staaten
Man kann die politische Lage in den Vereinigten Staaten unmöglich verstehen, wenn man das wichtigste Kennzeichen der amerikanischen Gesellschaft außer acht lässt: die extreme Ballung von Reichtum und das entsprechende Anwachsen von Ungleichheit.
Der Tod Ronald Reagans im Juni hat in der herrschenden Elite eine außergewöhnliche Resonanz ausgelöst. Hinter den überschwänglichen Tributen steckte mehr als rührselige Sentimentalität. Reagans Tod bot dem Establishment einen Anlass, über die Veränderungen nachzudenken, die während des letzten Vierteljahrhunderts - d.h. seit Reagans Wahl zum Präsidenten im Jahr 1980 - in der amerikanischen Gesellschaft stattgefunden haben, und das atemberaubende Anwachsen seines kollektiven Reichtums zu feien.
Um diesen Punkt zu verdeutlichen, habe ich einige Tabellen mitgebracht, die die Ballung des Reichtums und das Anwachsen der sozialen Ungleichheit illustrieren. [8] Diese Statistiken bestätigen nicht nur das extreme Ausmaß der heute bestehenden Ungleichheit, sie erlauben auch einen Einblick in die sozialen und ökonomischen Hintergründe wichtiger politischer Entwicklungen des letzten Vierteljahrhunderts.
Tabelle 1 stellt die Veränderung der Familieneinkommen zwischen 1947 und 1979 dar. Die Statistik zeigt, dass das robuste Wachstum der US-Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg den Familien aller Bevölkerungsschichten zugute kam. Das Einkommen des Fünftels mit dem niedrigsten Einkommen stieg um 116 Prozent, das des nächsten Fünftels um 100 Prozent und das Einkommen des mittleren Fünftels um 114 Prozent. Das oberste Fünftel erzielte einen Zuwachs von 99 Prozent und die reichsten fünf Prozent einen Zuwachs von 86 Prozent. Wir sehen also, dass alle Teile der Bevölkerung erheblich vom Nachkriegswachstum profitierten; zumindest anteilsmäßig erzielten die unteren 80 Prozent den höchsten Zuwachs.
Betrachten wir nun Tabelle 2, die die Veränderung der Familieneinkommen zwischen 1979 und 2001 darstellt. Welch ein Unterschied! Wir sehen, dass das Einkommen der unteren 80 Prozent kaum mehr stieg, während der reichste Teil der Bevölkerung und besonders die obersten 5 Prozent weiterhin erheblich hinzugewannen. Das Familieneinkommen des ärmsten Fünftels steig lediglich um 3 Prozent, das des zweiten Fünftels um 11 Prozent. Das mittlere Fünftel erzielte einen Zuwachs von 17 Prozent und das vierte Fünftel von 26 Prozent. Das reichste Fünftel gewann dagegen 53 Prozent hinzu und ein Teil dieser Gruppe, die reichsten fünf Prozent, erhöhten ihr Einkommen sogar um 81 Prozent.
Tabelle 3 stellt die Veränderung der Familieneinkommen nach Abzug der Steuern dar. Hier ist die Ungleichheit noch auffallender. Das Familieneinkommen des untersten Fünftels sank zwischen 1979 und 1997 um 1 Prozent, während das der obersten fünf Prozent um 157 Prozent stieg!
Tabelle 4 zeigt das Einkommen von Vorstandsvorsitzenden als Vielfaches eines durchschnittlichen Arbeitereinkommens im Verlauf der Jahre 1960 bis 2001. 1960 verdienten die Vorstandsvorsitzenden der 100 reichsten Firmen im Schnitt 41 Mal so viel wie ein durchschnittlicher Fabrikarbeiter. 1970 betrug dieser Faktor aufgrund eines deutlichen Anstiegs der Aktienkurse bereits 79. Im Laufe der siebziger Jahre ging er dann wieder auf 42 zurück; eine schwere Wirtschaftskrise hatte die Aktienkurse deutlich sinken lassen. Doch was geschah dann! 1990 verdiente ein Vorstandsvorsitzender 85 Mal so viel wie ein Durchschnittsarbeiter, 1996 209 Mal so viel und 2000 sogar 531 Mal so viel!
Tabelle 5 zeigt die Verteilung der Vermögen in den Vereinigten Staaten im Jahr 2001. Das reichste 1 Prozent der Bevölkerung kontrolliert 33 Prozent des Nationalvermögens, die nächsten 4 Prozent besitzen 26 Prozent und die nächsten 5 Prozent weitere 12 Prozent. Zusammengenommen besitzen die reichsten 10 Prozent also 71 Prozent des Nationalvermögens. Das nächste Zehntel besitzt 13 Prozent, das Fünftel darunter 11 Prozent. Das mittlere Fünftel kommt gerade noch auf 4 Prozent und die folgenden 22 Prozent auf 0,3 Prozent, während die ärmsten 18 Prozent überhaupt kein oder negatives Eigentum haben.
Tabelle 6 ist besonders wichtig. Die Analyse der Schwankungen des Anteils am Nationalvermögen, über den das reichste Prozent der Bevölkerung verfügt, erlaubt einen tiefen Einblick in die soziale Klassendynamik der amerikanischen Geschichte während der letzten achtzig Jahre. Nachdem er 1929 einen Spitzenwert erreicht hatte, sank der vom reichsten Prozent kontrollierte Anteil am Nationalvermögen während der Depression der 1930-er Jahre beträchtlich. Er stabilisierte sich gegen Ende der vierziger sowie in den fünfziger Jahren wieder und stieg leicht an, in den sechziger Jahren dann etwas stärker. In den siebziger Jahren fiel er wieder dramatisch ab - zum Teil aufgrund der Errungenschaften, die sich die Arbeiterklasse damals erkämpfte. Eine wichtigere Rolle spielten allerdings die Auswirkungen der Wirtschaftskrise der siebziger Jahre, die einen drastischen Niedergang der Aktienkurse auslöste.
Dieser Niedergang der Aktienkurse war eine Folge der merkwürdigen Verbindung von Inflation und Rezession (Stagflation), der abnehmenden Rentabilität des verarbeitenden Sektors der US-Wirtschaft und eines allgemeinen Vertrauensverlustes in der herrschenden Klasse. Auf diese Verschlechterung ihrer sozialen Stellung reagierte die amerikanische Bourgeoisie mit einem brutalen Gegenangriff auf die Arbeiterklasse.
1979 ernannte Präsident Jimmy Carter, ein Demokrat, Paul Volcker zum Vorsitzenden der Notenbank. Dieser erhöhte die Zinssätze dramatisch auf ein nie da gewesenes Niveau und stürzte die US-Wirtschaft in eine Rezession. Diese Politik zielte bewusst darauf ab, die Arbeiterklasse durch Massenarbeitslosigkeit zu schwächen, einen Angriff der Regierung und Unternehmen auf die Gewerkschaften zu erleichtern und den Lebensstandard zu senken.
Das angesehene Magazin Business Week sprach die politischen Absichten der Bourgeoisie offen aus, als es im Juni 1980 schrieb, die Umwandlung der amerikanischen Industrie erfordere "einschneidende Veränderungen der grundlegenden Institutionen, des Rahmens der Wirtschaftspolitik und der Vorstellungen der wichtigsten Akteure auf der wirtschaftlichen Bühne - Wirtschaft, Gewerkschaften, Regierung und Minderheiten - darüber, was sie in die Wirtschaft hinein stecken und was sie heraus bekommen. Aus diesen Veränderungen muss sich ein neuer Gesellschaftsvertrag zwischen diesen Gruppen entwickeln, basierend auf einer genauen Anerkennung dessen, was jeder zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstum beizutragen hat und was er dafür erwarten kann."
Einige Monate später wurde Ronald Reagan zum Präsidenten gewählt und die Bühne für einen beispiellosen Angriff auf die Arbeiterklasse freigemacht. Dieser Angriff wurde von der Regierung unterstützt, sein Erfolg wurde durch den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie sicher gestellt. Sein Ergebnis zeigt sich im unaufhörlichen Anstieg des Anteils am Nationalvermögen, das das reichste Prozent der Bevölkerung kontrolliert.
Eine neue, von Arthur Kennickel verfasste Notenbankstudie zeigt, dass dieses reichste Prozent Aktien im Wert von etwa 2,3 Billionen Dollar besitzt. Das sind ungefähr 53 Prozent aller Aktien im Individualbesitz. Außerdem gehören ihnen 64 Prozent aller Rentenwerte, die sich im Individualbesitz befinden.
Das Spiegelbild dieses außerordentlichen Reichtums der Elite ist die zunehmend prekäre Lage der breiten Masse der amerikanischen Arbeiter und die wirklich verzweifelte Lage, in der sich die ärmeren Teile der Arbeiterklasse befinden.
So nimmt die Zahl der sogenannten "Working Poor" laufend zu. Laut Business Week "verdienen heute über 28 Millionen, etwa ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung im Alter von 18 bis 64 Jahren, weniger als 9,04 Dollar pro Stunde. Das ergibt bei voller Arbeitszeit ein Jahresgehalt von 18.800 Dollar - die offizielle Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie."
Business Week gibt zu, dass sich die "Working Poor" "in einer Unterwelt größter Unsicherheit abrackern, wo ein verpasster Bus, ein blockierter Motor, ein krankes Kind den Unterschied zwischen Erhalt des Arbeitsplatzes und Entlassung bedeutet, zwischen Lebensunterhalt und ständigem Zittern vor abgestellten Telefonen und 1000-Dollar-Ambulanz-Rechnungen, die sie unter einem Berg von Schulden begraben können.
Ein Chef, der unter dem Druck steht, Profite zu erzielen, kann jederzeit Stunden streichen und so das Familienbudget kürzen - oder umgekehrt Beschäftigte zwingen, Überstunden zu machen, mit verheerenden Auswirkungen auf die Planung der Kinderbetreuung. Und viele, die lange genug gearbeitet haben, um das Anrecht auf Zulagen zu erwerben, erleben, wie diese weggekürzt werden. Die Zeit zum Umziehen, Toilettenpausen oder Arbeitspausen werden in der Regel nicht mehr bezahlt. Beschwert sich jemand, findet sich immer ein Jüngerer, Billigerer und später in die USA Eingereister, der bereit ist, für weniger zu arbeiten." [9]
Das sind die Vereinigten Staaten von Amerika im Jahr 2004!
Die Krise Amerikas und die weltweiten Aussichten für den Sozialismus
Die hohe Konzentration des Reichtums und die extreme soziale Ungleichheit stehen hinter dem Zusammenbruch der bürgerlichen Demokratie in den Vereinigten Staaten. Die starke Ausweitung von Polizeistaatsmaßnahmen, die die Regierung in den vergangenen drei Jahren vorgenommen hat, ist keine Reaktion auf die sogenannte "terroristische Bedrohung", sondern auf die extreme Zuspitzung der Klassengegensätze in Amerika.
Die auffälligste und verhängnisvollste Schwäche, welche die Politik der radikalen Linken vom Marxismus unterscheidet, ist deren Unfähigkeit, sich eine Krise des kapitalistischen Systems in den Vereinigten Staaten vorzustellen oder die Arbeiterklasse als grundlegende revolutionäre Kraft in der amerikanischen Gesellschaft zu sehen. Der Arbeiterklasse sozial entfremdet und politisch von den Bildern der amerikanischen Allmacht betäubt, die von den Medien erzeugt werden, sieht das linksradikale Milieu keine objektive Grundlage für einen Kampf gegen die kapitalistische Herrschaft in den Vereinigten Staaten. Das ist der Grund für die extreme Demoralisierung der radikalen Linken und ihr Gefühl der hoffnungslosen Isolation. Sie können absolut nicht sehen, wie die Wechselwirkung zwischen globalen ökonomischen Widersprüchen und scharfen Klassengegensätzen innerhalb der Vereinigten Staaten die Voraussetzungen für revolutionäre Explosionen im Zentrum des Weltimperialismus hervorbringt.
Diese Schwäche findet sich nicht nur bei der amerikanischen Linken. Es handelt sich um ein internationales Phänomen. Es gibt viele Aspekte dieser allgemeinen politischen Krise auf der Linken. Aber wenn man die Ursachen dieser Krise analysiert und erklärt, muss man besonderes Gewicht auf das Versagen eines großen Teils der Linken legen, die strategischen historischen Lehren aus dem Kampf für den Sozialismus im zwanzigsten Jahrhundert zu ziehen - insbesondere aus den Ursachen für die Degeneration und den schließlichen Zusammenbruch der Sowjetunion.
Aufgrund des Fehlens einer systematischen Erarbeitung der wesentlichen Erfahrungen der internationalen sozialistischen Bewegung im zwanzigsten Jahrhundert, wurde der Zusammenbruch der Sowjetunion weitgehend als Beweis für das Scheitern des Sozialismus und des Bankrotts einer revolutionären Perspektive betrachtet, die sich auf die Arbeiterklasse stützt.
Wer diese Geschichte dagegen studiert hat, wer verstanden hat, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht unvermeidlich vorherbestimmt, sondern das Ergebnis einer falschen Politik war, die sich auf die antimarxistische und reaktionäre Vorstellung eines nationalen Wegs zum Sozialismus stützte, für den erscheint die gegenwärtige politische Situation völlig anders. Die Lehren aus der Vergangenheit liefern den Schlüssel zum Verständnis der Gegenwart.
Wir nähern uns dem Jahrestag zweier großer theoretischer Errungenschaften. 2005 jährt sich zum hundertsten Mal die ursprüngliche Formulierung von Einsteins Relativitätstheorie, die das menschliche Verständnis des Universums verwandelte. Und 2005 jährt sich auch zum hundertsten Mal die russische Revolution von 1905, der erste große Ausbruch revolutionärer Arbeiterkämpfe im zwanzigsten Jahrhundert. Die damaligen Ereignisse lieferten den Anstoß für einen enormen Fortschritt im theoretischen Denken der internationalen sozialistischen Bewegung - der Formulierung der Theorie der permanenten Revolution durch Leo Trotzki.
Trotzki stellte die vorherrschende nationalistische Auffassung in Frage, die die Aussichten für den Sozialismus in einem bestimmten Land nach dessen industriellem Entwicklungsniveau beurteilte, und wies nach, dass der dynamische Impuls für den Sozialismus aus der allgemeinen Entwicklung der Weltwirtschaft kommt. Der entscheidende Faktor, der in einem bestimmten Land zum Ausbrechen einer revolutionären Krise führt, sind nicht eine Reihe außergewöhnlicher nationaler Bedingungen, sondern die Widersprüche des internationalen Kapitalismus. Weiter kann es, da die Ursachen für die sozialistische Revolution in den globalen ökonomischen Verhältnissen liegen, nach der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse keinen nationalen Weg zum Sozialismus geben. Eine tragfähige Strategie für die Arbeiterklasse muss den Kampf für den Sozialismus und dessen Aufbau als einheitlichen, gegenseitig abhängigen, revolutionären Weltprozess verstehen.
Die theoretischen und politischen Fragen, die Trotzkis Theorie der permanenten Revolution aufwarf, sind keine abstrakten historischen Probleme. Sie bilden die Grundlage für das Verständnis der heutigen Weltlage und die Aufgaben der Arbeiterklasse.
Wir könnten hier ausführlich darauf eingehen, wie Stalins Auffassung eines nationalen Wegs zum Sozialismus - die als "Sozialismus in einem Land" der Theorie der permanenten Revolution entgegengestellt wurde - schließlich zur Zerstörung der Sowjetunion geführt hat. Das Studium dieser Erfahrung bildet die theoretische und politische Grundlage, um das Schicksal der internationalen sozialistischen Bewegung im zwanzigsten Jahrhundert zu verstehen. Die katastrophale Lage im heutigen Russland führt außerdem vor Augen, welche Folgen der Verrat der internationalen Strategien nach sich zog, auf die die Bolschewiki die Eroberung der Macht 1917 gestützt hatten.
Wir könnten auch das Schicksal Chinas betrachten. Es ist noch gar nicht so lange her, da glaubten radikale linke Tendenzen, sie hätten in den banalen Plattitüden des Maoismus ("die Macht kommt aus den Gewehrläufen") das letzte Wort des revolutionären Denkens entdeckt. Man konnte unter den maoistischen Gruppen auf der ganzen Welt die bösartigsten Gegner des Trotzkismus finden. Und selbst unter radikalen Tendenzen, die eine gewisse Sympathie für Trotzkis politische Ideen zeigten, konnte man oft die Ansicht hören, der "Erfolg" der chinesischen Revolution habe Trotzkis Behauptung widerlegt, der Aufbau der Vierten Internationale sei wesentlich für den Sieg des Sozialismus. Hatten nicht Mao und später Ho Tschi Minh, von Castro ganz zu schweigen, die veralteten Auffassungen, Methoden, Perspektiven und Strategien des archaischen "klassischen Marxismus" überwunden? Und was die chinesischen Trotzkisten anbelangte, die den bürokratischen Charakter sowie die nicht-proletarische Basis der maoistischen Partei einer Kritik unterzogen hatten und für ihre theoretische Unbeugsamkeit mit jahrzehntelanger Haft bezahlten - waren sie nicht hoffnungslose "Sektierer", "Flüchtlinge vor der Revolution"?
Machen wir einen Sprung ins Jahr 2004. Was ist aus Maos China geworden? Es ist die Billiglohnplattform, von der das Überleben des Weltkapitalismus gegenwärtig abhängt. Nehmt China aus der modernen Weltwirtschaft heraus, und was bliebe dann von der Stellung des amerikanischen Kapitalismus? Im Jahr 2003 belief sich der bilaterale Handel zwischen den Vereinigten Staaten und China auf über 190 Milliarden Dollar. China ist nach Kanada und Mexiko der drittgrößte Handelspartner der Vereinigten Staaten. Das amerikanische Handelsdefizit gegenüber China belief sich auf 135 Milliarden Dollar, das größte Defizit gegenüber einem einzelnen Land in der Geschichte.
Amerikanisches Kapital strömt nach China. Amerikanische Kapitalisten jagen nach Vermögenswerten, die vom Staat verscherbelt werden, und dringen tiefer in den riesigen chinesischen Binnenmarkt ein.
Was macht China so attraktiv für amerikanische Kapitalisten? Ihr Werwolfappetit auf Mehrwert und Profite wird vor allem durch die niedrigen Arbeitskosten angeregt. Ein chinesischer Arbeiter verdient fünfzehn oder zwanzig Mal weniger als ein vergleichbarer amerikanischer oder europäischer Arbeiter. In der Textilindustrie, in der China mittlerweile führend ist, beträgt der Stundenlohn von 40 Cents noch nicht einmal ein Drittel des entsprechenden mexikanischen Lohns. Nach Schätzung der Vereinten Nationen verdienen 16,1 Prozent der Chinesen (etwa 208 Millionen) weniger als einen Dollar und 47,3 Prozent (etwa 615 Millionen) weniger als zwei Dollar pro Tag. Deshalb hat China nach Angaben der Weltbank eines der günstigsten Investitionsklimas der Welt. [10]
Chinas Öffnung für die Superausbeutung durch die Imperialisten fordert einen schrecklichen sozialen Preis. Während die Vorteile der imperialistischen Investitionen dem korrupten Milieu der chinesischen Staats- und Parteibürokratie zugute kommen, sind die Auswirkungen auf Hunderte Millionen Menschen - besonders in den ländlichen Gebieten - schlichtweg katastrophal.
Betrachtet man Chinas Schicksal und seine Rolle in der Weltwirtschaft, so kann an ohne Übertreibung sagen, dass der Maoismus, eine Variante des Stalinismus, einen wichtigen Beitrag zum Überleben des amerikanischen und des Weltkapitalismus geleistet hat.
Die Sache hat aber auch eine andere Seite. Die Abhängigkeit des amerikanischen und internationalen Kapitals von der chinesischen Billiglohnarbeit macht sie hochempfindlich gegenüber den explosiven sozialen Folgen, die sich unweigerlich aus der Überausbeutung des Landes ergeben müssen.
Wir treten so in eine neue Periode ein, deren Kennzeichen das vermehrte Zusammenfallen von revolutionären Klassenkämpfen im Weltmaßstab sein wird. Die marxistische Bewegung steht vor der Herausforderung, diese Weltbewegung mit dem Bewusstsein ihres internationalen Charakters zu erfüllen, sie mit sozialistischen Überzeugungen zu beleben, und sie gestützt auf die Lehren des letzten Jahrhunderts zu erziehen. Mit dieser Perspektive greifen das Internationale Komitee der Vierten Internationale, die World Socialist Web Site und die Socialist Equality Party in die diesjährigen Wahlen ein.
Während der vergangenen sechs Monate hat die Socialist Equality Party eine energische Kampagne dafür geführt, dass ihre Kandidaten auf nationaler, bundesstaatlicher und örtlicher Ebene in so vielen Staaten wie möglich zur Wahl zugelassen werden. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Unsere Kandidaten müssen gegen undemokratische Wahlgesetze angehen, die dazu da sind, Kandidaten von Drittparteien von der Wahl fernzuhalten. In vielen Staaten sind Zehntausende Unterschriften erforderlich, was es nahezu unmöglich macht, zur Wahl zugelassen zu werden. In diesem Jahr ficht die Demokratische Partei außerdem gezielt und systematisch alle Unterschriften an, die für Drittkandidaten eingereicht werden.
Die Socialist Equality Party hat sich in den letzten Monaten mit diesen Herausforderungen auseinandergesetzt. Bisher sind unsere Kandidaten für das Amt des Präsidenten und des Vizepräsidenten in New Jersey, Iowa, Colorado und Washington zur Wahl zugelassen. Wir erwarten, dass Bill Van Aucken und Jim Lawrence auch in Ohio und Minnesota bestätigt werden. Wir werden auch bundesstaatliche und örtliche Kandidaten in Maine, Michigan und Illinois aufstellen.
Wir fordern die Werktätigen auf, überall dort, wo sie auf dem Wahlzettel stehen, für unsere Kandidaten zu stimmen. In Ohio, wo unserem Kandidaten David Lawrence die offizielle Zulassung aufgrund völlig undemokratischer Gesetze verweigert wurde, rufen wir dazu auf, seinen Namen von Hand einzutragen.
Aber das wichtigste Ziel unserer Kampagne besteht nicht im Sammeln von Stimmen, sondern darin, die politische Erziehung der Arbeiterklasse zu fördern, ihr Verständnis internationaler Ereignisse zu entwickeln und ihr Klassenbewusstsein zu vertiefen. Vor nahezu 66 Jahren, bei der Gründung der Vierten Internationale, sagte Leo Trotzki: "Unsere Partei ist nicht wie andere Parteien. Es ist nicht unser Ehrgeiz, mehr Mitglieder, mehr Zeitungen, mehr Geld in der Parteikasse, mehr Abgeordnete zu haben. All das ist nötig, aber nur als Mittel. Unser Ziel ist die volle materielle und geistige Befreiung der Werktätigen und Ausgebeuteten durch die sozialistische Revolution. Niemand außer uns wird sie vorbereiten und führen."
Dies bleibt zwei Drittel eines Jahrhunderts später die Perspektive des Internationalen Komitees der Vierten Internationale. Aber es gibt bei ihrer Verwirklichung keine Abkürzungen. Der Sozialismus ist nicht die Summe schlauer Taktiken, und schon gar nicht das unbewusste Nebenprodukt militanter Gewerkschaftsforderungen und Protestdemonstrationen. Solche Kampformen spielen eine Rolle, aber sie können den expliziten Kampf für den Marxismus nicht ersetzen. Die Entwicklung einer wissenschaftlichen revolutionären Weltanschauung unter einer beträchtlichen Schicht klassenbewusster Arbeiter ist wesentlich. Der Sozialismus kann nur in einem unermüdlichen und unbeugsamen Kampf erreicht werden, der deutlich macht, dass es außerhalb der Eroberung der Macht im Weltmaßstab keine Lösung für die Probleme unserer Epoche gibt, und auf dieser Grundlage die mächtige marxistische Kultur in der Arbeiterklasse erneuert.
* * *
Anmerkungen:
1. "America and the Ambivalence of Power," Current History, November 2003, pp. 377-82
2. "Riding for a Fall," Foreign Affairs, September/October 2004, p.119
3. August 17, 2004
4. "Riding for a Fall," p. 112
5. Ibid, p. 113
6. Siehe "African Oil and US Security Policy," by Michael T. Klare and Daniel Volman, Current History, May 2004
7. "Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution," in Das Übergangsprogramm, Arbeiterpresse Verlag Essen 1997, S. 213
8. Die Tabellen stützen sich auf Material in www.inequality.org
9. BusinessWeek, May 31, 2004, p. 61
10. "Partners and Competitors: Coming to terms with the new US-China economic relationship," by Bates Gill and Sue Ann Tay, Center for Strategic and International Studies