Jean-Bertrand Aristide und seine Frau haben gegenüber mehreren amerikanischen Kongressabgeordneten erklärt, der abgesetzte Präsident Haitis sei von Angehörigen der US-Armee gezwungen worden, ein Flugzeug zu besteigen. Man habe ihn dann mit zunächst unbekanntem Ziel außer Landes gebracht. Dies sei der Abschluss eines von den USA betriebenen Staatsstreichs gegen seine Regierung.
Der Kongressabgeordnete Charles Rangel erklärte gegenüber dem Nachrichtensender CNN, Aristide habe ihm gesagt, er sei entführt worden, nur unter dem Druck der USA zurückgetreten und gegen seinen Willen in ein zentralafrikanisches Land verschleppt worden. Die kalifornische Kongressabgeordnete Maxine Waters berichtete von Aussagen der Frau Aristides, ihr Mann sei gezwungen worden das Land zu verlassen. Ein Vertreter der US-Botschaft habe dem gewählten Präsidenten Haitis erklärt, "er müsse jetzt gehen - ansonsten würden er und eine Menge Haitianer getötet".
Randall Robertson, der ehemalige Vorsitzende der linksliberalen Forschungsgruppe TransAfrica, berichtete ebenfalls von einem Telefonanruf Aristides. Dieser habe ihm gesagt, dass er in einem Präsidentenpalast in der Hauptstadt der Zentralafrikanischen Republik sitze und von französischen und afrikanischen Soldaten bewacht werde. "Er bat mich der Welt mitzuteilen, dass es sich um einen Staatsstreich handelte, dass er von amerikanischen Soldaten entführt und an Bord eines Flugzeugs gebracht wurde."
Die Regierung Bush wies diese Vorwürfe zurück. Der Sprecher des Weißen Hauses, Scott McClellan, bezeichnete sie als "Unsinn" und "Verschwörungstheorien". Außenminister Colin Powell, der sich gekränkt zeigte, dass ihm solche kriminellen Machenschaften zugetraut werden, erklärte gegenüber der Presse: "Er wurde nicht entführt. Wir zwangen ihn nicht, ein Flugzeug zu besteigen. Er ging freiwillig an Bord."
Die Dementis der Bush-Regierung sind nicht überzeugend.
Der französische Radiosender RTL brachte ein Interview mit einem "verängstigten alten Mann", den sein Korrespondent antraf, als er Aristides Residenz aufsuchte. Er gab sich als sein Hausmeister zu erkennen. "Die amerikanische Armee kam um zwei Uhr morgens, um ihn wegzubringen", sagte er. "Die Amerikaner zwangen ihn mit Waffengewalt herauszukommen."
Die Montrealer Tagezeitung La Presse - die gedruckt wurde, bevor Aristides Vorwürfe bekannt wurden - erschien am Montag mit einem Bericht ihrer Sonderkorrespondentin in Haiti, Marie-Claude Malboeuf. Unter Berufung auf eigene Quellen schrieb sie, "dem Ex-Präsidenten von Haiti mussten Handschellen angelegt werden, bevor er die Drohungen der Diplomaten ernst nahm".
Außerdem hatten Vertreter der USA Aristide unverblümt gesagt, dass ihre in Haiti stationierten Soldaten weder ihn noch seine Regierung vor den faschistischen Killern beschützen würden, die kurz vor dem Einmarsch in Port-au-Prince standen. Colin Powell persönlich telefonierte mit Ron Dellums - einem ehemaligen Kongressabgeordneten, der im Auftrag Aristides Lobbyarbeit für die haitianische Regierung betrieb - um ihn davon zu unterrichten, dass die USA nicht für die persönliche Sicherheit des haitianischen Präsidenten garantierten. Und als Aristides Wachpersonal - Angestellte der in San Francisco ansässigen Steele Foundation, bei denen es sich um ehemalige US-Militärangehörige handeln dürfte - bei der US-Botschaft in Port-au-Prince anfragte, ob man im Falle eines Angriffs der Rebellen mit amerikanischem Schutz rechnen dürfe, da lautete die Antwort: Nein, ihr müsst euch selbst helfen.
Die Bush-Regierung kam an die Macht, indem sie den Ausgang der Wahlen im Jahr 2000 fälschte. Sie zerrte die amerikanische Bevölkerung in einen völkerrechtswidrigen Eroberungskrieg gegen den Irak, indem sie Lügen über Massenvernichtungswaffen verbreitete. In ihren Führungsetagen sitzen Leute, die für zahllose imperialistische Gräuel verantwortlich sind: von Flächenbombardierungen in Vietnam bis hin zur Finanzierung von Todesschwadronen in Mittelamerika. Ganz ohne Zweifel ist ihnen auch die Entführung des haitianischen Präsidenten zuzutrauen. Die Führungsspitzen der Republikanischen Partei, die bereits den Militärputsch gegen Aristide im Jahr 1991 unterstützten und seine Wiedereinsetzung unter der Regie Clintons im Jahr 1994 ablehnten, haben dem ehemaligen Priester seine Brandreden gegen den US-Imperialismus nie verziehen - mag Aristide auch, als er wieder an der Regierung war, die vom IWF diktierten Strukturreformen umgesetzt haben.
Ob Aristide bei seinem Rücktritt vor den Drohgebärden der USA zurückwich oder ob er gezwungen wurde, ein US-Militärflugzeug zu besteigen, ändert letztlich nichts am Charakter der Ereignisse in Haiti: Die Regierung Bush hat die gewählte Regierung Haitis gestürzt. Sie tat dies im Bündnis mit einer selbsternannten politischen Opposition, die aus Haitis traditioneller Oberschicht stammt und von berüchtigten Henkersknechten der Diktaturen Duvalier und Cédras geführt wurde. An der Spitze der Rebellenmiliz, derer sie sich bediente, standen ehemalige Offiziere der aufgelösten haitianischen Armee und der Todesschwadronen FRAPH.
Die US-Marineinfanteristen und die faschistischen Rebellen zogen während der vergangenen zwei Tage zeitgleich in Port-au-Prince ein, was nur unterstreicht, dass sie sich abgesprochen hatten.
Als die faschistischen Aufständischen im Februar ganz Haiti unsicher machten, betonten die USA, Frankreich und Kanada, dass sie sich jeder Einmischung enthalten würden, bis Aristide sich mit der oppositionellen Demokratischen Plattform geeinigt hätte. Dabei wussten sie ganz genau, dass die Opposition, die sie selbst mit organisiert und finanziert hatten, Aristides Kopf wollte. Als die Opposition ein von den USA und Frankreich vorgelegtes Abkommen ausschlug, das Aristide auf die Rolle einer Galionsfigur beschränkt hätte, machten Washington und Paris den Präsidenten dafür verantwortlich und forderten seinen Rücktritt.
Kaum war Aristide abgesetzt, da sahen die USA keinerlei Hindernisse mehr für eine Intervention. Innerhalb von Stunden begann das erste Kontingent von rund 2000 Marineinfanteristen mit der Besetzung des Flughafens von Port-au-Prince, und der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen genehmigte eine "Friedensmission" unter Führung der USA.
Die Beweise dafür, dass die Führer der Aufständischen an den blutigen Unterdrückungsmaßnahmen früherer haitianischer Diktaturen beteiligt waren, sind derart unbestreitbar, dass sich selbst US-Außenminister Colin Powell zu der Aussage gezwungen sah, einige der Rebellen seien "Kriminelle", die in der haitianischen Politik keine Funktion ausüben sollten. Allerdings nannte er keine Namen.
Zweifellos ist bereits ein Abkommen in Vorbereitung, wonach die Aufständischen Teil der neuen haitianischen Regierung werden. Wahrscheinlich werden sie zum Kern einer neuen Armee.
Die Demokratische Plattform hat die Aufständischen prompt willkommen geheißen, die sich übrigens den schönen Namen Front de libération - Forces armées d'Haiti ("Befreiungsfront - bewaffnete Streitkräfte Haitis") zugelegt haben. Am Sonntag erklärte Evans Paul, ein ehemaliger Bürgermeister von Port-au-Prince und prominenter Sprecher der Opposition, gegenüber La Presse : "Wir müssen ein Notstands-Sicherheitssystem improvisieren. Ich erwarte Guy Philippe (den wichtigsten Befehlshaber der Aufständischen) zu Gesprächen." André Apaid, ein US-Staatsbürger und Betreiber typischer Ausbeutungsbetriebe, der sich zum wichtigsten Sprecher der Opposition aufgeschwungen hat, erklärte zur gleichen Zeit: "Die Rebellen müssen in die Lösung einbezogen werden, weil auch sie Haitianer sind."
Am Montag trafen sich die Führer der Demokratischen Plattform mit Anführern der Aufständischen, unter ihnen auch Philippe. Dieser ehemalige haitianische Offizier, der in den USA ausgebildet wurde, gilt laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch als besonders brutal. Er erwarb sich diesen Ruf als Polizeichef, der im Jahr 2001 versuchte, die Aristide-Regierung zu stürzen. Ein weiterer Gesprächspartner der Opposition ist Louis-Jodel Chamblain, Mitbegründer der Todesschwadron FRAPH.
Nach der Unterredung pries Paul abermals die Aufständischen, insbesondere Chamblain, der von der kanadischen Zeitung Globe and Mail mit den Worten zitiert wurde, er danke den USA, Frankreich und Kanada dafür, "dass sie uns erlaubt haben, Aristide loszuwerden". Chamblain ergänzte, er befürchte nicht, für seine Rolle als Organisator von Mord und Terror unter der Cédras-Diktatur zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Dem Gespräch war eine Kundgebung der Aufständischen vorangegangen, die unter den Augen der US-Marineinfanteristen abgehalten wurde, welche den Präsidentenpalast Haitis bewachen. Oberst David Berger, der Führer des Kontingents in Haiti, erklärte: "Ich habe keine Anweisungen, sie zu entwaffnen." Auftrag der US-amerikanischen und französischen Truppen ist der Schutz von "Schlüsselpositionen" in der haitianischen Hauptstadt. Das heißt, dass die Aufständischen im größten Teil von Port-au-Prince freie Hand haben.
Während der vergangenen zwei Monate machten sich die internationalen Medien weitgehend zum Sprachrohr der Demokratischen Plattform. Sie wiederholten deren grob übertriebene Behauptungen über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen des Jahres 200 und ignorierten dabei die weitaus größeren und schlimmeren Verstöße gegen die Demokratie, die auf das Konto der Opposition gehen. Sie verschwiegen deren Bereitschaft, den gewählten Präsidenten Haitis mit Hilfe von Faschisten zu stürzen.
Entsprechend konzentrierten sich die meisten Berichte seit Aristides Sturz auf die Feierstimmung in den gehobenen Wohngebieten von Port-au-Prince. Doch wenigstens der Reporter Neil Macdonald von der Canadian Broadcasting Corporation gab zu, dass die Stimmung in den Slums der haitianischen Hauptstadt "getrübt" sei.
Gelegentlich gab es auch Berichte über schreckliche Racheakte, die sich vielleicht in erster Linie gegen die Chimères richteten - die bewaffneten Banden, die Aristide unterstützten - deren wichtigstes Ziel aber darin bestand, die unangefochtene Macht der haitianischen Elite über die weitgehend ungebildete, verarmte und unterernährte Masse der Bevölkerung zu befestigen.
Der Miami Herald zitierte einen mit einem Maschinengewehr bewaffneten Unternehmer mit den Worten: "Wir arbeiten mit jedem zusammen, der den Frieden bringt." "Es kam zu zahlreichen Morden mit Gewehren und Macheten, als die Chimères versuchten, sich gegen Vergeltungsakte zu wehren", erklärte Sue Montgomery vom kanadischen Sender Canwest.
Eine der ersten Maßnahmen der Aufständischen in Port-au-Prince war die Freilassung zahlreicher ehemaliger Militärangehöriger, die einsaßen, weil sie an der Unterdrückung der Opposition gegen die Cédras-Diktatur oder an Verschwörungen gegen deren gewählte Nachfolgeregierung beteiligt gewesen waren.
Verschiedene Regierungen anderer Karibikstaaten haben die Rolle der USA in Haiti kritisiert. Zweifellos befürchten sie, dass die in der Region involvierten Großmächte - die USA und Frankreich - auch weiterhin gegen traditionelle demokratische Normen verstoßen. P. J. Patterson, der Premierminister Jamaicas, der gegenwärtig der Gemeinschaft karibischer Staaten CARICOM vorsteht, erklärte: "Die Absetzung von Präsident Aristide... schafft einen gefährlichen Präzedenzfall für demokratisch gewählte Regierungen an jedem Ort, denn sie fördert die Beseitigung ordentlich gewählter Personen von Regierungsämtern mit Hilfe aufständischer Truppen."
Auch aus dem politischen Establishment innerhalb der USA wurde Kritik an der Rolle der Bush-Regierung in Haiti laut. Dabei wurde jedoch in erster Linie bemängelt, dass man nicht Frankreich die Initiative überlassen dürfe, und die Besorgnis geäußert, dass die fortgesetzte Instabilität Haitis eine Fluchtwelle armer Haitianer in Richtung der Küste Floridas auslösen könnte. Die New York Times warf der Regierung Bush eine schlechte Taktik vor, während sie ansonsten das Schüren eines faschistischen Aufstands zugunsten eines "Regimewechsels" ganz in Ordnung fand: "Bushs Zögern [Truppen nach Haiti zu entsenden] erweckt den Eindruck, als ob Washington die Marineinfanteristen so lange zurückhielte, bis Aristide sein Amt aufgegeben habe, und damit die Haitianer den schlimmsten Verbrecherbanden des Landes ausliefere."
Bush seinerseits unterstrich seine Verachtung für Demokratie und für die haitianische Bevölkerung, indem er am Sonntag erklärte, sobald Aristide abgesetzt sei und der US-Botschafter in Haiti die Beeidigung seines Nachfolgers geleitet habe, sei "die haitianische Verfassung in Kraft". Nicht weniger übel waren die Äußerungen des französischen Außenministers Dominique de Villepin. Er brüstete sich, Aristides Abtritt sei "das Ergebnis perfekter Koordination" zwischen Washington und Paris.