Anfang März kündigte der Siemens-Vorstand die Verlagerung von 2000 Arbeitsplätzen aus den Werken Bocholt und Kamp-Lintfort am Niederrhein, wo zur Zeit noch 4500 Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Produktion von Mobiltelefonen beschäftigt sind, nach Ungarn an. Die Produktionskosten sind dort auf Grund der wesentlich niedrigeren Löhne bedeutend geringer als in Deutschland.
Als Alternative bot der Vorstand an, dass die Beschäftigten in Bocholt und Kamp-Lintfort ohne Lohnausgleich länger arbeiten und auf tariflich abgesicherte Zusatzleistungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld verzichten sollten. Nur dann könne man über den Erhalt der Arbeitsplätze in diesen Werken auch nur verhandeln. Unabhängig davon erhielten 288 Beschäftigte aus der Produktion des Bocholter Werks bereits am 15. März ihre Kündigung.
Aufgeschreckt durch die weit fortgeschrittenen Pläne für die Verlagerung der Handy-Produktion, die zum Bereich ICM (Information & Communication Mobile) gehört, machten IG-Metall-Vertreter bekannt, dass bei Siemens über 10.000 Arbeitsplätze von Abbau und Verlagerung nach Osteuropa oder Asien bedroht sind. Weitere konkret betroffene Bereiche sind die Netzwerksparte (ICN), die Verkehrstechnik (TS), die Automatisierungstechnik (A&D) und der Bereich Energieübertragung (PTD).
Laut einem Bericht des Spiegel vom 29. März 2004 ordnete Siemens-Chef Heinrich von Pierer an, in sämtlichen deutschen Produktionsstandorten durchzurechnen, "um wie viel billiger produziert werden könnte, wenn die Arbeitskosten auf dem niedrigeren Niveau zum Beispiel des neuen EU-Mitglieds Ungarn lägen". Ergebnis: Der Gegenwert der um durchschnittlich 25 Prozent günstigeren Arbeitskosten entspreche ungefähr 10.000 Arbeitsplätzen am Standort Deutschland.
Die Drohung des Siemens-Vorstands gegenüber den Beschäftigten in Deutschland ist unmissverständlich: Entweder wird dieser Kostennachteil durch niedrigere Löhne und längere Arbeitszeiten ausgeglichen, oder die Produktion wird verlagert. Die Wiedereinführung der 40-Stunden-Woche ohne Lohnausgleich (in der Metallindustrie gilt in Westdeutschland die 35-Stunden-Woche), der Verzicht auf Weihnachts- und Urlaubsgeld sowie die Überlegung, den Samstag wieder zum Regelarbeitstag (ohne entsprechende Zuschläge) zu machen - all dies sei praktisch die Mindestvoraussetzung für den vorläufigen Erhalt der Arbeitsplätze.
Produktionsverlagerungen in Niedriglohnländer und die Ausnutzung schlechter Arbeitsbedingungen für Beschäftigte in Osteuropa, China, Indien oder Südamerika sind für den international operierenden Siemens-Konzern nichts Neues. So nutzte Siemens von Anfang an zielstrebig den Zusammenbruch der stalinistischen Regime in Osteuropa seit 1989 und das Ende der Sowjetunion 1991 für den Aufbau oder die Übernahme von Fertigungsstandorten und Niederlassungen in diesen Ländern. Die Löhne liegen oftmals nur bei einem Fünftel oder noch weniger derjenigen für vergleichbare Tätigkeiten in Deutschland und Westeuropa. Seit 1993 hat sich das Verhältnis von Siemens-Arbeitsplätzen in Deutschland von 238.000 zu 153.000 im Ausland auf 167.000 in Deutschland zu 247.000 im Ausland im Jahr 2003 verändert.
Dennoch haben die Angriffe auf Arbeitsplätze und soziale Bedingungen, wie sie jetzt vom Siemens-Vorstand gefordert und umgesetzt werden, eine neue Qualität. Mehrmals drohte Siemens-Chef Heinrich von Pierer in den letzten Wochen mit dem Austritt aus dem Arbeitgeberverband, um sich nicht mehr an die mit der IG Metall ausgehandelten Tarifverträge halten zu müssen. Gleichzeitig nutzt er die von der Gewerkschaft selbst angebotenen Flexibilisierungsmöglichkeiten, um seine Pläne rücksichtslos durchzusetzen. Wenig öffentliche Beachtung fand in diesem Zusammenhang bei der erst kürzlich abgeschlossenen Tarifrunde die Möglichkeit für Unternehmen, bei Bedarf für bis zu 50 Prozent der Beschäftigten die Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche auszudehnen, allerdings mit entsprechendem Lohnausgleich.
Dass sich Konzerne wie Siemens jetzt ermutigt sehen, mit ihren Angriffen auf die Arbeiter hier in die Offensive zu gehen, steht in direktem Zusammenhang mit der EU-Osterweiterung, die am 1. Mai in Kraft tritt.
Wie die Partei für Soziale Gleichheit in ihrem Wahlaufruf für die Europawahlen über die Folgen der EU-Osterweiterung schreibt: "Die Erweiterung der EU von 15 auf 25 Mitgliedsstaaten am 1. Mai 2004 verschärft die soziale Krise. Das Gefälle zwischen den reichsten und ärmsten Ländern wächst, ohne dass nennenswerte Ausgleichsmaßnahmen vorgesehen sind, wie dies bei früheren Erweiterungsrunden der Fall war. Und die extrem niedrigen Löhne in Osteuropa werden als Hebel eingesetzt, um auch in den reicheren Ländern die sozialen Standards nach unten zu treiben."
Protestaktionen von Siemens-Beschäftigten in Bocholt und Kamp-Lintfort
Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Siemens-Werke in Bocholt und Kamp-Lintfort beteiligten sich seit Bekanntwerden der neuen Verlagerungspläne für die Handyproduktion an mehreren Protestaktionen. Am 1. April demonstrierten 1000 in Kamp-Lintfort und 800 in Bocholt. Auch an dem europaweiten Aktionstag gegen Sozialabbau am 3. April beteiligten sich Delegationen von betroffenen und besorgten Siemens-Arbeitern.
Das Werk in Kamp-Lintfort wurde 1963 gegründet und feierte im letzten Jahr sein 40jähriges Bestehen. Mit der Handy-Produktion wurde 1985 begonnen. Es war der Betrieb, in dem Siemens zum ersten Mal Mobiltelefone in Serie produzierte.
Das Werk wurde auch mit Unterstützung der Europäischen Union, des Landes Nordrhein-Westfalen und der Stadt ausgebaut, da die Region am Niederrhein und im Ruhrgebiet besonders stark vom Niedergang im Bergbau und in der Stahlindustrie betroffen war. Für die Arbeiterinnen und Arbeiter, die von Abbaumaßnahmen und Entlassungen betroffen sind, wird es schwer bis fast unmöglich, in dieser Region andere Arbeitsplätze zu finden. Die Arbeitslosigkeit ist bereits jetzt sehr hoch.
Während IG-Metall-Vetreter und Betriebsräte öffentlich gegen den Erpressungsversuch von Seiten des Siemens-Vorstands protestierten, erklärten sie dennoch ihre Bereitschaft zu Verhandlungen über weitere Flexibilisierungsmaßnahmen. Dabei ist anzumerken, dass auf Grund von früheren Restrukturierungsmaßnahmen im Werk in Kamp-Lintfort bereits hoch flexibel gearbeitet wird. So wurde in einem betrieblichen Bündnis 1996 vereinbart, dass die Produktionsstraßen maximal ausgelastet werden. "Seither wird rund um die Uhr, in 18 Schichten, durchgehend von Montag bis Samstag, gearbeitet. Nur so, versicherte ihnen das Management, sei der Standort zu halten." (Spiegel vom 29. März 2004) Das ist inzwischen Schnee von gestern.
Wie weitergehende Zugeständnisse aussehen könnten, wurde mit dem Abschluss eines Ergänzungstarifvertrags für die Service-Reparaturwerkstatt für Handys und schnurlose Telefone in Bocholt Ende März vorgeführt. Die drohende Verlagerung von etwa 220 Arbeitsplätzen nach Ungarn sei damit gestoppt worden, wie der Erste Bevollmächtigte der IG Metall in Bocholt, Heinz Cholewa vor der Presse erläuterte. In dieser Ausnahmeregelung vom Tarifvertrag wird die Jahresarbeitszeit für die betroffenen Arbeiterinnen und Arbeiter ohne Urlaub und Feiertage auf 1760 Stunden festgelegt. Urlaubs- und Weihnachtsgeld (was zusammen in etwa einem Monatslohn/-gehalt entspricht) fallen weg. Dafür solle bei vollständiger Zielerreichung eine leistungs- und ergebnisabhängige Komponente von 45 Prozent eines Monatsgehalts gezahlt werden. Für den Übergang sei im laufenden Jahr eine Einmalzahlung von 70 Prozent eines Monatsgehalts vorgesehen. Der Vertrag habe eine Laufzeit vom 1. Mai 2004 bis zum 30. April 2006.
Nach Siemens-Berechnungen hätte eine Verlagerung der Reparaturwerkstatt nach Ungarn Kostenvorteile von rund vier Millionen Euro ergeben. Mit der außertariflichen Einigung gehe man davon aus 3,6 Millionen Euro einzusparen. Die Einwilligung zu dieser massiven Lohnsenkung und Verlängerung der Arbeitszeit wurde von IG Metall und Betriebsrat damit begründet, dass ihnen die Unternehmensleitung bereits unterschriftsreife Verträge zur Verlagerung dieser Betriebseinheit vorgelegt hätte.
Auch in anderen Bereichen des Siemens-Konzern gab es und gibt es bereits ähnliche Vereinbarungen. So berichtet die Frankfurter Rundschau vom 31. März 2004, dass unter anderem bei dem Gemeinschaftsunternehmen Bosch und Siemens Hausgeräte (BSH) im letzten Jahr 1000 von 15.500 Arbeitsplätzen abgebaut wurden. Im Kühlschrankwerk von BSH im baden-württembergischen Giengen sei durch eine soeben abgeschlossene Vereinbarung die Verlagerung von 450 Arbeitsplätzen in die Türkei verhindert worden. Die Vereinbarung beinhaltet den Verzicht auf alle übertariflichen Leistungen. Die Beispiele könnten fast endlos fortgesetzt werden.
Dennoch sind allein 8.000 Arbeitsplätze bei den Tochtergesellschaften Siemens VDO, Bosch und Siemens Hausgeräte, Osram und Siemens Business Services konkret gefährdet. Hinzu kommen weitere 5.000 bei der Siemens AG, wozu die 2.000 von Verlagerung bedrohten Arbeitsplätze bei ICM in den Werken Kamp-Lintfort und Bocholt gehören. Der Bereich PTD (Power Transportation & Distribution) hat vor, sein Werk in Kirchheim/Teck, wo bisher Transformatoren gefertigt wurden, komplett zu schließen. 250 Arbeitsplätze sind davon betroffen. Auch die Transformatorenfertigung soll nach Ungarn verlagert werden. Der Bereich ICN (Information & Communication Networks/ Netzwerksparte) stellt die Fertigung von Flachbaugruppen in Bruchsal ein. Davon sind 350 Arbeitsplätze betroffen. Die Fertigung soll nach China verlagert werden. Ebenso die Fertigung von Kleinsteuerungen LOGO!, für die der Bereich A&D (Automation & Drives/Automatisierung und Antriebstechnik) verantwortlich zeichnet.
Darüber hinaus zieht sich Siemens auch aus der Ausbildung zurück. Das Konzept "Zukunft durch Ausbildung" sieht den Wegfall von Siemens-Ausbildungsstandorten in Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein und dem Saarland vor. In Essen soll die kaufmännische Schule geschlossen werden. Die davon betroffenen 180 Auszubildenden sollen in Berlin, Erlangen oder München ihre Ausbildung fortsetzen. Vier Dozenten, sieben Ausbilder und ein Ausbildungsleiter sind ebenfalls von der Schließung betroffen. Laut Presseinformation der IG Metall hat Siemens die Ausbildung in den vergangenen drei Jahren um 25 Prozent heruntergefahren. Während 2001 noch 2900 Auszubildende eingestellt wurden, waren es 2003 nur noch 2200.
Neben Tausenden von Arbeitsplätzen in Fertigung und Produktion, die Schließungen, Zusammenlegungen und Verlagerungen zum Opfer fallen, sind auch mehr und mehr Arbeitsplätze in praktisch allen Bereichen und Abteilungen des Siemens-Konzerns betroffen.
So heißt es in einem Positionspapier der Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrates der Siemens AG und des Konzernbetriebsrates von Siemens Deutschland vom 1. April 2004: "Von der Verlagerung sind nicht nur, wie bisher, Beschäftigte in der Produktion betroffen, sondern Mitarbeiter in allen Tätigkeitsbereichen z.B. auch in Entwicklung und Verwaltung. Bei den Dienstleistungen wird eine Unterscheidung in standortgebundene und standortunabhängige Tätigkeiten eingeführt, wobei die letzteren in größere Einheiten zusammengefasst und verlagert werden sollen." Die Verlagerung von 180 Arbeitsplätzen aus der Finanzbuchhaltung nach Prag wird wohl nur der Anfang sein für die Auslagerung von Serviceleistungen in Niedriglohnländer.
Bereits im Dezember letzten Jahres kündigte Siemens-Vorstandsmitglied Johannes Feldmayer, der im Zentralvorstand auch für das Osteuropageschäft zuständig ist, in einem Interview mit der Financial Times Deutschland (Ausgabe vom 12./13./14. Dezember) an, dass die Software-Entwicklung in Zukunft bis zu einem Drittel in Niedriglohnländern Osteuropas geleistet werden solle. Siemens wolle die EU-Osterweiterung nutzen, um im großen Stil Software-Entwicklung, Fertigung und Buchhaltungsfunktionen in den Beitrittsländern aufzubauen. Er sagte: "Wir müssen uns diesem Trend stellen, wie alle unsere Wettbewerber, und teilweise auch Aktivitäten dorthin verlagern." Neben dem erwarteten Wachstum in dieser Region führte er vor allem auch die Kostenvorteile und das Potenzial hoch qualifizierter Software-Ingenieure ins Feld. "Wir treffen da auf ganz fantastische Mitarbeiter mit hervorragender Ausbildung."
Laut dem Bericht der FTD beschäftigt Siemens weltweit mehr als 50.000 Forscher und Entwickler (F&E), davon etwa 30.000 in Deutschland, den Rest überwiegend in Hochlohnländern. "Rund 30.000 der F&E-Mitarbeiter sind Software-Entwickler, schließlich setzt Siemens in allen Sparten Software ein - von der Verkehrstechnik über die Industrieautomatisierung bis zur Informationstechnologie. In Osteuropa arbeiten an 21 Standorten etwa 2.700 Entwickler für Siemens." Dieser Bereich werde zügig wachsen, erklärte Feldmayer gegenüber der FTD. Auch der Anteil der für Siemens arbeitenden Programmierer in Indien soll ausgedehnt werden. Bisher sind es rund 3.000. Ihr Anteil soll auf etwa 10.000 wachsen, laut Spiegel Online vom 23. März 2004.
Ähnlich wie heute Heinrich von Pierer drohte Feldmayer bereits im Dezember, dass diese Entwicklungen, das Offshoring von Forschung und Entwicklung, und insbesondere der Software-Entwicklung in Niedriglohnländer, den Reformdruck in Deutschland erhöhen wird.
Und: "Am Ende profitiert Deutschland davon, weil wir wieder wettbewerbsfähiger werden." Was die Siemens-Vorstände damit meinen, demonstrieren sie durch ihre Politik: Entweder Arbeiter und Angestellte in Deutschland, einschließlich hochqualifizierter Spezialisten und Ingenieure, akzeptieren längere Arbeitszeiten, niedrigere Löhne und den Abbau von sozialen Leistungen, oder Produktion, Verwaltung und Entwicklung werden verlagert. Ein Beispiel, das Heinrich von Pierer immer wieder im Munde führt, ist China, wo die Beschäftigung von 12.000 Ingenieuren genauso viel kostet wie die von 2.000 in Deutschland. In Russland, der Ukraine, in Vietnam oder Kambodscha könnten die Kosten wahrscheinlich noch niedriger liegen. Dem Wettbewerb nach unten sind unter kapitalistischen Bedingungen keine Grenzen gesetzt.
Arbeiter und Angestellte, die für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze kämpfen wollen, dürfen sich weder auf die Erpressungsversuche des Siemens-Vorstands einlassen, noch auf die Zugeständnisse der Gewerkschaften und Betriebsräte, die oftmals von nationalistischen Tönen gefärbt sind. So flammte im Zusammenhang mit der Diskussion über die Verlagerung von Arbeitsplätzen von einigen SPD-Politikern der Vorwurf auf, Siemens verhalte sich "unpatriotisch", ja gar "vaterlandslos". Dies wurde allerdings schnell wieder aus der öffentlichen Debatte zurückgezogen, da es unbestreitbar ist, dass die deutsche Industrie und deutsche Konzerne zu den größten Nutznießern der EU-Osterweiterung gehören und große Teile der Industrie insgesamt für den Export produzieren.
Die Ursache für die Vernichtung der Arbeitsplätze liegt nicht in der grenzüberschreitenden Organisation der Produktion an sich, sondern in einem Wirtschaftssystem, das den privaten Profit höher stellt als die Bedürfnisse der Bevölkerung - egal, in welchem Land. Nicht der aussichtslose Versuch, die Unternehmen in den nationalen Rahmen zurückzudrängen, sondern nur der Zusammenschluss mit den Arbeitern in anderen Ländern eröffnet Aussichten auf eine wirksame Gegenwehr.