Während der letzten zwei Monate hat Frankreich die größte Streik- und Protestbewegung seit 1995 erlebt. Millionen von Beschäftigten des öffentlichen Diensts und der Privatwirtschaft beteiligten sich im Laufe von insgesamt acht Aktionstagen an Streiks und Demonstrationen. Im Bildungssektor kam es seit letzten Herbst zu zwölf Aktionstagen, viele Lehrer legten wochenlang die Arbeit nieder.
Die Proteste richteten sich gegen die Rentenreform der konservativen Regierung unter Ministerpräsident Jean-Pierre Raffarin und Präsident Jacques Chirac, die eine Absenkung des Rentenniveaus um bis zu 30 Prozent vorsieht, und gegen die Dezentralisierung des nationalen Bildungswesens. Letztere wird von den Betroffenen als Schritt zur Privatisierung und als Angriff auf die egalitären und demokratischen Werte verstanden, die in Frankreich historisch mit dem zentralisierten Bildungssystem verbunden sind.
Die Bewegung war von einem offensichtlichen Widerspruch geprägt.
Zum einen brachte sie das Ausmaß der Opposition gegen die Regierung ans Licht, die trotz ihrer großen parlamentarischen Mehrheit weitgehend isoliert war. Die Zurückweisung der Regierungspläne war umfangreicher als 1995, als Streiks und Proteste zur Verteidigung der sozialen Sicherungssysteme das Land wochenlang lahm legten. Laut Meinungsumfragen lehnten zwei von drei Franzosen die Pläne Raffarins und seines Sozialministers François Fillon ab. Viele waren bereit und entschlossen, unter großen Opfern dagegen zu kämpfen - wie die Streiks der Lehrer gezeigt haben.
Zum andern gab es nicht die Spur einer Perspektive und einer entschlossenen Führung, wie sie nötig wären, um die Regierung zu besiegen. Im Endergebnis erreichte die Bewegung nichts. Die Regierung sah sich zwar zu einigen Ausweichmanövern gezwungen, setzt ihre Pläne nun aber mit Hilfe ihrer parlamentarischen Mehrheit Schritt für Schritt in die Tat um. Die Gewerkschaften haben ihre Ohnmacht offen eingestanden. "Die Nationalversammlung setzt ihre Debatte über den Plan von Fillon fort und ist entschlossen, darüber abzustimmen. Der Aktionstag von heute kann sie nicht davon abhalten," gestand die Sprecherin der Gruppe von zehn SUD-Gewerkschaften, Annick Coupé, am 19. Juni der Tageszeitung Libération.
Die Niederlage der Bewegung war nicht das Ergebnis mangelnder Kampfbereitschaft, sondern des Fehlens einer konsequenten Führung und einer tragfähigen Perspektive. Die Parteien der äußersten Linken haben zwar nachträglich versucht, die Niederlage in einen Sieg umzumünzen. "Die Regierenden wissen, dass sie die Schlacht um das Bewusstsein verloren haben", erklärte die Ligue Communiste Révolutionnaire am 19. Juni. Und Lutte Ouvrière behauptete im editorial vom 20. Juni, die lange Dauer der Bewegung und ihre Unterstützung durch die Mehrheit der Lohnabhängigen stelle "eine fürchterliche Desavouierung der Regierung" dar. Aber das ist Augenwischerei, darauf ausgerichtet, eine kritische Bilanz zu unterbinden und von der eigenen Verantwortung abzulenken.
Zur Vorbereitung der nächsten Runde der Auseinandersetzung ist eine schonungslose Kritik der Methoden und politischen Tendenzen notwendig, die in der Bewegung vorherrschten. Sonst ist eine weit größere Niederlage unvermeidlich. Die Regierung hat weitere Angriffe bereits angekündigt. Nach den Renten und dem Bildungswesen will sie sich als nächstes die Sozialversicherungen vornehmen, die Sécurité sociale, die bereits 1995 im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen standen.
Die Erfahrungen der letzten beiden Monate haben gezeigt, dass sich die alten Formen des Klassenkampfs erschöpft haben und dass eine neue Perspektive und eine neue Partei notwendig sind. Druck von der Straße und vereinzelte Streiks allein reichen nicht aus, um die Regierung zum Rückzug zu zwingen. Notwendig ist ein politischer Kampf, der die Regierung zum Rücktritt zwingt und durch eine Regierung ersetzt, die die Interessen der arbeitenden Bevölkerung vertritt.
Nicht eine der zahlreichen gewerkschaftlichen und politischen Strömungen, die in der jüngsten Bewegung aktiv waren, stellte sich dieser Aufgabe. Sie haben alle in der einen oder anderen Form dazu beigetragen, die Bewegung zu hemmen oder zu sabotieren.
Der Niedergang der Sozialistischen und Kommunistischen Partei
1995 hatte die konservative Regierung von Alain Juppé auf die wochenlangen Streiks und Proteste reagiert, indem sie ihre Pläne teilweise zurückzog. Der Sozialabbau hörte damit allerdings nicht auf. Ein Jahr später lösten die Mehrheitslinken unter Lionel Jospin die Regierung Juppé ab. Die Hoffnungen auf eine sozialere Politik, die sie im Wahlkampf geweckt hatten, wurden in den nächsten fünf Jahren bitter enttäuscht. Das Ausmaß der Enttäuschung zeigte sich 2002 in der ersten Runde der Präsidentenwahl: Jospin erhielt weniger Stimmen als der faschistische Kandidat Jean-Marie Le Pen und schied aus. Gleichzeitig vereinten die Kandidaten der äußersten Linken über zehn Prozent der Stimmen auf sich.
Von diesem Schlag hat sich die Sozialistische Partei nie wieder erholt. Jospin zog sich zurück und die Partei rückte weiter nach rechts. Sie mag jetzt Lippenbekenntnisse der Solidarität mit den Streikenden ablegen und auf ihrem Parteitag in Dijon im Mai CGT-Führer Bernhard Thibault hochleben lassen, doch sie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie Raffarins Kurs in seinen Grundzügen unterstützt. "Müssten wir als sozialistisch orientierte Regierung verhandeln, kämen wir zu einer Lösung mit etwa gleicher Gewichtung", gab Michel Rocard, eines der Schwergewichte der Partei, unumwunden zu.
Die Sozialisten fordern nicht den Rückzug der Rentenreformpläne, sondern lediglich kosmetische Veränderungen. Ein Kernelement - die Verlängerung der Beitragsdauer im öffentlichen Dienst von 37,5 auf 40 Jahre - unterstützen sie ohne Vorbehalt. Schließlich haben sie selbst die Weichen für die gegenwärtige Rentenreform gestellt. Jospin persönlich hatte im vorigen Jahr auf dem EU-Gipfel in Barcelona gemeinsam mit Präsident Chirac ein Dokument unterzeichnet, dass die europäischen Regierungen verpflichtet, die Lebensarbeitszeit um fünf Jahre zu verlängern.
Die Kommunistische Partei ist seit dem Wahldebakel vom vergangenen Jahr nur noch ein Schatten ihrer selbst. Bei der Präsidentenwahl gleich von zwei Kandidaten der äußersten Linken abgehängt, zerfleischt sie sich seither in inneren Kämpfen. Kaum jemand sieht heute in dieser Partei, die jahrzehntelang Stalin hochleben ließ und dann jeder sozialistisch geführten Regierung als verlässliche Stütze diente, noch eine glaubwürdige Alternative.
Die Gewerkschaften würgen die Bewegung ab
Die Gewerkschaften reagierten auf den offenkundigen Bankrott der Sozialistischen und Kommunistischen Partei, indem sie jedem politischen Konflikt mit der Regierung sorgfältig aus dem Weg gingen. Dabei waren sie - wie fast immer in Frankreich - uneinig und gespalten. Die CFDT sabotierte die Bewegung und traf ein Abkommen mit der Regierung. CGT, FO, SUD sowie einige kleinere Gewerkschaften riefen zu Streiks und Demonstrationen auf. Aber auch sie machten von Anfang an deutlich, dass sie die Regierung nicht in Frage stellen.
Jean-Christophe Le Duigou, Nummer Zwei der CGT, sagte am 4. Juni in Le Monde : "Wir verfolgen eine Logik der Forderungen und nicht das politische Ziel, die Regierung zu schlagen... Wir sind für eine Bewegung im öffentlichen und privaten Sektor, die einen gewerkschaftlichen Sieg erringen kann."
Ebenso deutlich äußerte sich Marc Blondel, der Führer von FO, am 26. Mai in derselben Zeitung. Er habe bewusst die Begriffe "Verstärkung", "Verallgemeinerung" und "Koordinierung" für die weitere Entwicklung des Streiks verwendet, sagte er. "Vor dem Begriff Generalstreik' schrecke ich zurück, weil er - ob man es will oder nicht - die Vorstellung eines Aufstands und eines politischen Kampfs gegen die Regierung weckt."
Seit dem 13. Mai war der Ruf nach einem Generalstreik immer lauter geworden. An diesem Tag hatte die Bewegung ihren Höhepunkt erreicht. Zwei Millionen Menschen nahmen an den Demonstrationen und fast die doppelte Anzahl an den Streiks teil. Umfragen ergaben, dass 66 Prozent der Bevölkerung die Pläne der Regierung ablehnten. Doch die Gewerkschaftsführer lehnten es rundweg ab, einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren, und verfolgten stattdessen eine Zermürbungstaktik gegen die eigenen Mitglieder. Sie riefen ein bis zwei Mal pro Woche zu eintägigen Protesten auf - eine Taktik, mit der die Regierung gut leben konnte. Die Lehrer, die sich zum Teil seit Wochen im Streik befanden, blieben so isoliert, und die Kampfkraft der Bewegung erschöpfte sich nach und nach.
Am 10. Juni versetzte die CGT gemeinsam mit vier Bildungsgewerkschaften dem Streik des Schulpersonals den Todesstoß. Sie setzten sich mit der Regierung an einen Runden Tisch und vereinbarten, dass die bevorstehenden Abiturprüfungen nicht durch die Streiks beeinträchtigt werden. Als Gegenleistung versprach die Regierung, 20.000 von insgesamt 110.000 Beschäftigten des nicht-lehrenden Schulpersonals von den Dezentralisierungsmaßnahmen auszunehmen.
Dieses Abkommen beraubte das streikende Schulpersonal nicht nur eines wichtigen Druckmittels, sondern spaltete es auch. Von der Dezentralisierung ausgenommen wurden vorwiegend besser bezahlte Beschäftigte - Schulärzte, Sozialarbeiter und Berater - während die schlechter bezahlten Arbeiter weiterhin davon betroffen sind. Der Deal vom 10. Juni zeigte, dass die Gewerkschaften jeden koordinierten Widerstand gegen die Regierung ablehnten.
Schließlich würdigte sogar Arbeitsminister François Fillon, verantwortlich für die Rentenreform, vor der Nationalversammlung die Rolle der CGT bei der Entwaffnung der Bewegung. Le Monde kommentierte am 17. Juni: "François Fillon legte übrigens Wert darauf, der CGT und ihrem Sekretär Bernard Thibault für ihre verantwortungsbewusste Haltung' Tribut zu zollen. Er betonte, dass die CGT selbst in angespannten Momenten' eine vernünftige Opposition' betrieben habe. Der Arbeitsminister schuldet der Gewerkschaft mit Sitz in Montreuil Dank dafür, dass sie sich bemüht hat, eine allgemeine Ausdehnung der Bewegung zu unterbinden, die Gefahr lief, außer Kontrolle zu geraten."
Auch Jacques Chirac fand Worte der Anerkennung für die Gewerkschaften. Der Präsident, der sich während der Bewegung bedeckt gehalten hatte, präsentierte sich am 12. Juni als überparteilicher Schiedsrichter. Es gebe "weder Sieger noch Verlierer", dozierte er während einer Rede in Toulouse. Zynisch lobte er die Lehrer, die dafür gekämpft hätten, "dass das Abitur im ganzen Land stattfinden kann". Le Monde merkte an: "Monsieur Chiracs Mitarbeiter, die angstvolle Wochen verbracht hatten, warteten ab, bis sie sicher waren, dass die Abiturprüfungen ohne Zwischenfall stattfanden, um diese Lobesworte zu formulieren."
Die Rolle der äußersten Linken
Es blieb den Parteien der äußersten Linken überlassen, die Blöße der Gewerkschaften mit einem linken Feigenblatt zu bedecken. Ihnen fiel angesichts des offensichtlichen Bankrotts der Mehrheitslinken eine wichtig Rolle zu. Lutte Ouvrière, die Ligue Communiste Révolutionnaire und der Parti des Travailleurs hatten 2002 in der ersten Runde der Präsidentenwahl über zehn Prozent der Stimmen erhalten, die Medien verfolgten aufmerksam ihre Stellungnahmen und ihre Mitglieder waren vor Ort fast überall präsent. Aber anstatt als Alternative, bestätigten sie sich als Fürsprecher der Gewerkschaftsbürokratie.
Lutte Ouvrière lehnte die Forderung nach einem Generalstreik rundweg ab. Es koste zwar nichts, diese Forderung aufzustellen, begründete dies Arlette Laguiller, "aber man wiegt sich damit in Illusionen. Weder LO noch die LCR sind in der Lage, irgendetwas zu proklamieren." Robert Barcia alias Hardy, der Gründer der Bewegung, war noch direkter. Er bezeichnete die Forderung nach einem Generalstreik schlichtweg als "Eselei". Statt für einen Generalstreik (grève générale) trat LO dafür ein, den Streik zu verallgemeinern (généraliser la grève). Hinter dieser Wortklauberei verbirgt sich ein wichtiger politischer Unterschied. LO vermied so einen Konflikt mit der CGT und FO, die - wie wir gesehen haben - einen Generalstreik ablehnten, weil er zu einer politischen Konfrontation mit der Regierung geführt hätte.
Die schreierische Phraseologie dieser Organisation verdeckt einen abgrundtiefen Pessimismus und Opportunismus. LO enthält sich jeder Kritik an den offiziellen Gewerkschaftsapparaten und schiebt den Arbeitern selbst die Verantwortung für die Schwächen der Bewegung zu. Ihr Ruf nach einer Ausdehnung und Verallgemeinerung des Streiks erinnert an die Verzweiflung eines Schiffbrüchigen, der versucht, seinen Durst mit Salzwasser zu löschen. Die Bewegung ist gescheitert, weil ihr eine politische Perspektive und eine entschlossene Führung fehlten. Aber LO weigert sich, für eine kühne politische Perspektive einzutreten, verschanzt sich hinter den Gewerkschaften, die die Bewegung abwürgen, und begründet dies damit, dass die Bewegung noch nicht breit genug und die Arbeiter noch nicht reif genug seien. "Wir können nichts proklamieren", erklärt Laguiller. Aber es geht nicht darum, etwas zu "proklamieren", sondern eine politische Perspektive zu formulieren und dafür die Verantwortung zu übernehmen. Eben das lehnt LO ab. "Wir sind zu schwach, unser Einfluss ist zu gering, die Arbeiter sind nicht weit genug, wir können nichts bewirken", lautet ihr ständiges Credo.
Die politische Vorbereitung der nächsten Runde der Auseinandersetzung überlässt LO vorsichtshalber gleich der Regierung: "Falls sie ihre Offensive gegen die Arbeiter fortsetzt, wird sie am Schluss alle Arbeiter überzeugen, dass nur die allgemeine Entgegnung der ganzen Arbeitswelt den Arm blockieren kann, der sie schlägt." - Welch ein jämmerliches Ausweichen vor der eigenen politischen Verantwortung!
Die LCR hat im Gegensatz zu LO den Ruf nach einem "unbefristeten Generalstreik" in den Mittelpunkt ihrer Agitation gestellt. Aber inhaltlich unterschied sich ihre Linie kaum von jener von LO. Sie verstand unter einem Generalstreik dasselbe wie LO unter einer "Verallgemeinerung des Streiks" - eine rein quantitative Ausweitung der Protestbewegung. Sie erklärte nie, dass der Generalstreik die Frage der Macht stellt, und tat nichts, um die Arbeiterklasse auf eine derartige politische Auseinandersetzung vorzubereiten.
In einer Erklärung der LCR vom 25. Mai heißt es: "Das Ausmaß der Mobilisierung zeigt, dass es möglich ist, die Liberalisierungsoffensive, die unser Land seit zwanzig Jahren zugrunde richtet, durch einen unbefristeten Generalstreik zu stoppen und die Alternative einer solidarischen Gesellschaft zu erzwingen, in der den Profiten, Aktienoptionen und Finanzeinkünften Beiträge abverlangt werden."
Wer soll "gezwungen" werden, diese solidarische Gesellschaft zu errichten? Folgt man der Argumentation der LCR, die die Frage einer alternativen Regierung sorgfältig meidet, dann meint sie offensichtlich die Regierung Raffarin! Der Aberwitz einer derartigen Vorstellung ist offensichtlich. Ein Generalstreik kann die Frage einer anderen Gesellschaft nur in aller Schärfe stellen. Lösen dagegen kann sie nur eine Partei, die die Arbeiterklasse darauf vorbereitet, die politische Macht zu übernehmen.
Ironischerweise blieb es dem rechten Wochenmagazin L'Express überlassen, an Trotzkis Aussagen über den Generalstreik in "Wohin geht Frankreich" zu erinnern. "Der Generalstreik stellt geradeheraus die Frage der Machteroberung durch das Proletariat," zitierte L'Express den Gründer der Vierten Internationale in einem Artikel über LO und LCR. Obwohl das Magazin den Einfluss der beiden Organisationen auf den Streik dramatisierte, gelangte es zum Schluss, dass eine solche Gefahr von ihrer Seite nicht droht.
Lehren aus der Präsidentschaftswahl
Wer die Präsidentschaftswahl 2002 verfolgt hat, kann über die Haltung von LCR und LO nicht überrascht sein. Obwohl die Kandidaten der äußersten Linken damals im ersten Wahlgang 10,6 Prozent der Stimmen erhielten (der führende Kandidat und spätere Wahlsieger Jacques Chirac erreichte nur 19,4 Prozent) und Millionen spontan gegen Le Pen auf die Straße gingen, lehnten sie es strikt ab, die politische Verantwortung für eine unabhängige politische Bewegung der Arbeiterklasse zu übernehmen.
Die World Socialist Web Site schlug ihnen damals in einem Offenen Brief vor, einen aktiven Boykott der zweiten Wahlrunde zu organisieren, in dem sich Chirac und Le Pen gegenüberstanden. "Ein Boykott ist notwendig, um diesen Scheinwahlen ihre Legitimität abzusprechen. Er ist notwendig, weil er der Arbeiterklasse eine unabhängige politische Linie gibt und weil ein aktiver und kühner Boykott die besten Voraussetzungen für die politischen Kämpfe schaffen wird, zu denen es nach den Wahlen kommen wird," schrieben wir.
Wir wandten uns gegen das Argument, eine Stimmabgabe für Chirac bedeute die Verteidigung der Demokratie, und warnten, die Kampagne für Chirac sei ein "Versuch, die französische Arbeiterklasse im Vorfeld von Kämpfen, die weitaus größere Dimensionen annehmen werden als 1995, in eine Zwangsjacke zu stecken. Das Ergebnis einer großen Stimmenzahl für Chirac wäre eine deutliche Steigerung seiner politischen Autorität als quasi bonapartistische Figur. Er würde diese Autorität rücksichtslos gegen die Interessen der Arbeiterklasse einsetzen."
LO, LCR und PT lehnten eine Wahlboykott rundweg ab. Die LCR reihte sich schließlich in eine breite Front ein, die vom rechten bürgerlichen Lager über die Sozialisten bis zu den Kommunisten reichte und zur Stimmabgabe für Chirac aufrief, der dann mit 82 Prozent der Stimmen gewählt wurde. Sie trägt damit eine direkte Mitverantwortung für die Autorität, über die der Präsident heute verfügt.
LO rang sich nach vielem Hin und Her dazu durch, die Abgabe einer ungültigen Stimme zu empfehlen, verhielt sich aber völlig passiv. Eine Kampagne für einen aktiven Boykott lehnte Arlette Laguiller in einem Interview mit der WSWS mit der Begründung ab, das Kräfteverhältnis sei nicht so, dass es einen aktiven Boykott zulässt. Der PT schließlich ignorierte die Wahl einfach und verweigerte jede Stellungnahme.
Inzwischen haben sich die Warnungen der WSWS bestätigt. Chirac setzt seine im vergangenen Jahr gewonnene Autorität rücksichtslos gegen die Interessen der Arbeiterklasse ein.
Folgen des Irakkriegs
Ende Mai, als sich der Niedergang der Bewegung bereits abzeichnete, schrieb Arlette Laguiller im editorial von Lutte Ouvrière : "Wenn die Streiks und Demonstrationen weitergehen und sich in der notwendigen Zeit verstärken, werden die Minister, diese Lakaien der Großunternehmer und Reichen, gezwungen sein, ihren Hass gegen die Arbeiter hinunterzuwürgen und ihre Pläne einzupacken."
Das ist eine erbärmliche Mischung aus Phrasendrescherei, Selbsttäuschung und reformistischen Illusionen! Laguiller tut so, als lebe sie noch in den siebziger Jahren. Damals waren große Streikbewegungen noch in der Lage, den Unternehmern und der Regierung beachtliche Zugeständnisse abzutrotzen. Aber seither hat sich die wirtschaftliche und politische Weltlage grundlegend verändert. Die Globalisierung von Produktion, Handel und Finanzmärkten hat der Politik der Zugeständnisse und Kompromisse den Boden entzogen.
Vor siebzig Jahren schrieb Leo Trotzki in "Wohin geht Frankreich?": "Die Politik der Ausplünderung und Erstickung der Massen ist nicht eine böse Laune der Reaktion, sondern Folge der Zersetzung des kapitalistischen Systems. Das ist die Grundtatsache, die sich jeder Arbeiter zu eigen machen muss, wenn er nicht mit Phrasengeklingel gefoppt werden will. Eben darum zerfallen und verenden die reformistischen demokratischen Parteien eine nach der anderen in ganz Europa."
Diese Worte sind heute wieder von brennender Aktualität. Der Niedergang des Reformismus ist weit fortgeschritten. Schon in den achtziger Jahren konnten reformistische Parteien und Gewerkschaften nirgendwo mehr nennenswerte Reformen erzielen. Der Lebensstandard der Arbeiter stagnierte. In den neunziger Jahren entzog der Globalisierungsprozess und der Zusammenbruch der Sowjetunion der Politik des sozialen Ausgleichs endgültig den Boden. Die Folge war ein weiterer Rechtsruck im reformistischen Lager. In Großbritannien übernahm New Labour das Programm von Margaret Thatcher, in Italien verwandelten sich die Kommunisten in Linksdemokraten, in Deutschland verordnete die SPD-geführte Regierung einen drastischen Sparkurs und in Frankreich lösten sich Jospins Reformversprechen in Nichts auf.
Der Irakkrieg hat diese Entwicklung weiter verschärft. Er kennzeichnet einen weltpolitischen Wendepunkt. Die US-Regierung hat unmissverständlich klar gemacht, dass sie nicht länger bereit ist, das Völkerrecht und die internationalen Institutionen zu respektieren, die den internationalen Beziehungen seit dem Zweiten Weltkrieg eine gewisse Stabilität verliehen hatten. Ihre neue Außenpolitik beruht auf militärischer Gewalt, Einschüchterung, Lügen und politischen Intrigen. Das gilt nicht nur gegenüber dem Nahen Osten, Afrika und Asien, sondern auch gegenüber Europa. Washington betrachtet Europa nicht länger als Partner, sondern als Rivale. Es strebt nicht mehr danach, Europa zu festigen und zu einen, sondern es zu schwächen und zu spalten.
Die Bush-Regierung versucht mit ihrer aggressiven Außenpolitik die tiefen inneren Widersprüche der amerikanischen Gesellschaft in Schach zu halten, indem sie sich die Welt gewaltsam unterwirft und auf der Grundlage der rücksichtslosesten Marktprinzipien umgestaltet. Aus ihrer Sicht stellt jede Form von Sozialleistungen, Steuern auf Einkommen und Gewinne, von staatlicher Wirtschaftslenkung und Umweltschutz eine nicht zu akzeptierende Einschränkung ihrer "Freiheit" dar, die Welt zu plündern.
Die europäischen Regierungen reagieren darauf, indem sie ihrerseits die Angriffe auf die breite Bevölkerung verschärfen. Um im globalen Konkurrenzkampf mit den USA Schritt zu halten, greifen sie Renten, Sozialleistungen, Löhne und demokratische Rechte an. Um bei der Unterwerfung von rohstoffreichen Ländern und Absatzmärkten nicht ins Hintertreffen zu geraten, rüsten sie auf, um in eigener Regie internationale Militäreinsätze durchzuführen. Das hat jeglichen Spielraum für soziale Zugeständnisse und soziale Kompromisse beseitigt und ist der tiefere Grund für den Bankrott der Gewerkschaften und den Niedergang aller reformistischen Parteien.
Was muss getan werden?
Die Erfahrung in Frankreich hat bestätigt, dass es unmöglich ist, die sozialen und politischen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu verteidigen, ohne die Herrschaft der Bourgeoisie und ihre Kontrolle über die Gesellschaft offen in Frage zu stellen. Der Klassenkampf, der sich jahrzehntelang in gewerkschaftlichen Bahnen bewegt hat, muss wieder politische Formen annehmen. Als dringendste Aufgabe ergibt sich der Aufbau einer neuen Partei, die den Einfluss der alten, überlebten Organisationen bekämpft und für die Entwicklung einer unabhängigen politischen Massenbewegung der Arbeiterklasse eintritt. Davon wird der Ausgang zukünftiger Konfrontationen mit der Regierung abhängen.
LCR und LO spekulieren endlos über das "Kräfteverhältnis" und geben dabei nichts sagende Plattitüden von sich. So tröstete sich LO nach dem Abbruch der Bewegung mit den Worten: "Solange die Glut lebendig bleibt, kann das Feuer wieder aufflackern und die Flammen entzünden." Das Kräfteverhältnis ist aber kein statischer, sondern ein dynamischer Faktor. Das wichtigste Element darin ist die revolutionäre Partei. Sie trägt wesentlich dazu bei, das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln und ihr Selbstvertrauen zu stärken - vorausgesetzt, sie blickt den Tatsachen ins Auge und berauscht sich nicht an hohlen Phrasen.
Der Aufbau einer neuen Arbeiterpartei ist eine schwierige Aufgabe, die nicht über Nacht erfolgen kann. Aber er ist unumgänglich. Nur wenn man sich dieser Notwendigkeit stellt, kann sie auch Wirklichkeit werden. Eine kühne Perspektive, die von der veränderten Weltlage ausgeht und daraus die notwendigen Schlussfolgerungen zieht, wird auf wachsende Resonanz stoßen. Die jüngste Bewegung in Frankreich hat ebenso wie die weltweite Bewegung gegen den Irakkrieg im Frühjahr gezeigt, dass sich Millionen Menschen nicht mehr durch die alten, verknöcherten Organisationen vertreten fühlen.
Im Mittelpunkt der Perspektive müssen folgende Fragen stehen:
· Für ein sozialistisches Europa
Die Vorstellung, die Rentenfrage oder irgend eine andere soziale Frage könne im Rahmen der französischen Grenzen gelöst werden, ist absurd. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass in allen europäischen Ländern - ob konservativ oder sozialdemokratisch regiert - ähnliche Angriffe vor sich gehen. Die europäische Arbeiterklasse muss sich zusammenschließen und ihre sozialen Errungenschaften gemeinsam verteidigen.
Binnenmarkt, einheitliche Währung und die kommende Osterweiterung haben Europa ein hohes Maß der wirtschaftlichen Integration verliehen. Das ist eine fortschrittliche Entwicklung. Aber die Europäische Union und ihre Institutionen werden von den stärksten Wirtschaftsinteressen dominiert. Während sich das Kapital frei bewegen kann, wird die Arbeiterklasse durch gravierende Unterschiede der Löhne und des Lebensstandards, die Diskriminierung von Immigranten sowie die Unterdrückung demokratischer Rechte gespalten.
Die extreme Rechte reagiert darauf, indem sie die Rückkehr zur "nationalen Souveränität" verlangt. Die Antwort der Arbeiterklasse weist in die entgegengesetzte Richtung: Sie muss sich europaweit in einer einzigen Partei zusammenschließen und für ein vereintes Europa kämpfen, das auf sozialer Gleichheit und Demokratie beruht - für Vereinigte Sozialistische Staaten von Europa.
· Für Gleichheit und Demokratie
Die Verteidigung demokratischer Rechte und das Eintreten für die soziale und politische Gleichheit aller Menschen sind zentrale Bestandteile des Kampfs für ein sozialistisches Europa.
Insbesondere die Millionen Flüchtlinge und Immigranten, die auf dem Kontinent leben, müssen verteidigt werden. Sie bilden einen bedeutenden Bestandteil der Arbeiterklasse und werden in ihren Kämpfen eine wichtige Rolle spielen. Die Hetze gegen Immigranten und die Spaltung der Arbeiterklasse nach Religion, Hautfarbe, Herkunft sowie Ost und West dienen dazu, die europäische Bevölkerung in Schach zu halten und zu unterdrücken.
· Gegen Imperialismus und Krieg
Der Kampf für ein sozialistisches Europa und der Widerstand gegen Imperialismus und Krieg sind untrennbar miteinander verbunden.
Die europäischen Regierungen haben sich vollkommen unfähig erwiesen, der Kriegstreiberei der Bush-Administration entgegenzutreten. Der anfängliche Widerstand der deutschen und französischen Regierung ging nie über diplomatische Manöver in der UNO hinaus. Nachträglich haben sie den Krieg legitimiert und damit den Kriegstreibern in Washington neuen Auftrieb gegeben.
Der Kampf für ein sozialistisches Europa würde ein mächtiges Gegengewicht zum amerikanischen Imperialismus bilden. Gleichzeitig wäre er ein Anziehungspunkt für die amerikanische Arbeiterklasse und würde sie ermutigen, gegen die Bush-Regierung vorzugehen.
Mit der World Socialist Web Site hat das Internationale Komitee der Vierten Internationale ein wirkungsvolles Instrument geschaffen, um eine neue internationale Arbeiterpartei aufzubauen. Die WSWS verfügt über eine weltweite Leserschaft, analysiert täglich die wichtigsten politischen Ereignisse und gibt eine politische Orientierung.
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