Während die europäischen Staats- und Regierungschefs auf dem EU-Gipfel im griechischen Thessaloniki weitere Maßnahmen zur Flüchtlingsabwehr beschlossen, ertranken im Mittelmeer bei zwei Schiffsunglücken wahrscheinlich mehr als 250 Flüchtlinge. Die Zahl der dokumentierten Todesopfer, die direkt auf die zunehmende Grenzsicherung und den Ausbau der Festung Europa zurückzuführen sind, stieg damit nach einer Zusammenstellung des Anti-Rassismus Netzwerks United auf über 4.000 in den letzten zehn Jahren.
Am Montag den 16. Juni kenterte 50 Seemeilen südlich der zu Italien gehörenden Mittelmeerinsel Lampedusa ein Flüchtlingsboot mit über 60 Menschen an Bord. Nur drei Flüchtlinge, die in einem kleinen Rettungsboot ausgeharrt hatten, wurden gerettet.
Die zweite Katastrophe ereignete sich am darauf folgenden Freitag, als ein mit mehr als 250 Flüchtlingen hoffnungslos überladenes Boot trotz schlechten Wetters von Libyen aus sich auf den Weg nach Italien machte. Nur 60 Seemeilen von der afrikanischen Küste entfernt sank das Boot. Ein Fischkutter, dessen Crew das sinkende Schiff bemerkte, schlug Alarm und löste eine Rettungsaktion aus, an der mehrere Schiffe der tunesischen Marine sowie vier zivile Schiffe und mehrere Boote der nahe gelegenen Ölplattformen beteiligt waren. Trotzdem konnten nur 41 Flüchtlinge gerettet werden. 50 Leichen wurden aus dem Mittelmeer geborgen. Über 160 Menschen wurden noch vermisst, als die tunesischen Rettungsschiffe am Sonntag aufgrund schlechten Wetters die Suche einstellten. Es war die seit Jahren schwerste Schiffskatastrophe im Mittelmeer.
Nur durch Glück waren in der Woche nicht noch mehr Opfer zu beklagen. So hat am 17. Juni die spanische Küstenwache ein Flüchtlingsboot mit 160 Menschen an Bord in der Straße vor Gibraltar aufgebracht, das in schwere Seenot geraten war. Ein nur zwölf Meter langes Boot, das 107 Flüchtlinge transportierte, wurde in der gleichen Woche nach einer achttägigen Fahrt, die in der Türkei begann, von der italienischen Küstenwache in den Hafen von Lampedusa begleitet.
Die total überladenen, altersschwachen Boote werden immer häufiger zu Todesfallen für die Flüchtlinge. Menschenschmuggler, die bis zu 2.000 Euro für die Schiffspassage nach Europa auf in keinster Weise seetüchtigen Booten verlangen, machen immer bessere Geschäfte mit der Not der verzweifelten Menschen.
Doch der Menschenschmuggel ist nicht die eigentliche Ursache der zunehmenden Todesfälle an den europäischen Grenzen, sondern nur das Ergebnis der immer stärkeren Abschottung der EU gegenüber Flüchtlingen und Asylbewerbern. Ohne Aussicht auf Visaerteilung und damit auch ohne Möglichkeit, die Grenzen legal zu überschreiten, sind die Flüchtlinge auf die Dienste von Menschenschmugglern angewiesen. So ist letztendlich die immer restriktivere Ausländerpolitik aller europäischen Staaten auch für die beiden letzten Schiffskatastrophen verantwortlich zu machen.
Die beiden Unglücke, die ein recht breites Medienecho hervorriefen, sind nur die Spitze des Eisbergs. Fast täglich sterben von der Öffentlichkeit unbemerkt Flüchtlinge an den Außengrenzen Europas oder in den Asylsammellagern der EU. United, ein Netzwerk gegen Rassismus und für die Unterstützung von Flüchtlingen und Migranten, dem mehr als 550 europäische Organisationen angehören, hat eine Dokumentation erstellt, die von Januar 1993 bis März 2003 fast 3.800 offiziell bekannt gewordene Opfer der europäischen Flüchtlingspolitik auflistet (http://www.united.non-profit.nl/pdfs/listofdeaths.pdf). Die Dunkelziffer derjenigen, die auf den Schiffspassagen ihre Flucht mit dem Leben bezahlen oder im unwirtlichen Gelände Osteuropas vor Erschöpfung sterben und im Winter erfrieren, dürfte ein Vielfaches betragen.
Das Mittelmeer wird zur Todesfalle für Flüchtlinge
Der größte Teil der von United dokumentierten Todesfälle besteht aus im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen. Die meisten sind namenlose Opfer, die nicht identifiziert wurden und um deren Identifizierung sich keine Behörde kümmert.
So sind beispielsweise am 30. November vergangenen Jahres 100 Flüchtlinge zumeist unbekannter Herkunft bei zwei Havarien nahe der libyschen Küste und vor den Kanarischen Inseln ums Leben gekommen. Am 8. Oktober 2002 starben 16 Menschen aus Afrika, als ihr Boot dem hochmodernen, eigens zur Flüchtlingsabwehr errichteten und mit Radar und Infrarotkameras ausgerüsteten spanischen System zur Überwachung der Meerenge von Gibraltar entgehen wollte. 22 Flüchtlinge starben im Juli letzten Jahres nach einer Kollision mit einem Boot der italienischen Küstenwache. Am 7. März 2002 ertranken 59 Flüchtlinge aus Nigeria und der Türkei in der Nähe Maltas, da ein Schiff der italienischen Marine, obwohl in unmittelbarer Nähe gelegen, erst nach Stunden Hilfe leistete und ganze zwei Flüchtlinge aus dem Wasser fischte. Ein sofort herbeieilender winziger Fischkutter konnte immerhin noch 7 Menschen retten. Ebenfalls durch unterlassene Hilfeleistung, diesmal durch die spanische Küstenwache, kamen 32 Flüchtlinge im August 2000 in der Nähe von Tanger ums Leben.
Andere Flüchtlinge ertrinken, weil sie von den Menschenschmugglern weit vor der Küste von Bord geworfen werden, um an Land zu schwimmen.
Doch das Meer ist bei weitem nicht die einzige Todesfalle für Flüchtlinge. Flüchtlinge sterben im Minenfeld an der griechisch-türkischen Grenze, so zuletzt als am 4. Januar diesen Jahres zwei Männer aus Burundi im dichten Nebel in das Minenfeld gerieten. Sie ertrinken in der Oder, dem Grenzfluss zwischen Polen und Deutschland, unbemerkt von den Grenzschützern und verschwiegen von den deutschen Behörden. Eingezwängt in luftdicht abgeschlossenen Containern ersticken immer wieder Menschen, wie die 58 Chinesen, die am 19. Juni 2000 im englischen Dover gefunden wurden.
Von Grenzpolizei und Behörden direkt zu verantwortende Todesfälle
United listet daneben zahlreiche Fälle auf, bei denen Flüchtlinge von türkischen, spanischen oder deutschen Grenzschützern erschossen oder so schwer misshandelt wurden, dass sie an den erlittenen Verletzungen verstarben.
Am 2. November 2002 wurde ein 23-jähriger Albaner von der griechischen Grenzpolizei beim illegalen Grenzübertritt tödlich verwundet. Im Februar 2001 wurde der Kurde Idris Demir nahe Jönköping von der schwedischen Polizei erschossen, als er nach der Ablehnung seines Asylantrags vor der drohenden Abschiebung flüchtete. In Österreich wurde am 2. Mai 2000 ein Nigerianer in einem Asyllager nahe Wien von der Polizei zu Tode geprügelt, und nur zwei Tage später starb ein 40-jähriger Slowake in Wien, der wegen illegalen Aufenthalts in Untersuchungshaft war.
Und auch die Asylbehörden zeichnen für die tödliche Flucht von Menschen verantwortlich.
Am 12. Februar diesen Jahres starb im schweizerischen Thurhof der Nigerianer Osuigwe C. Kenechukwu, weil ihm im Flüchtlingstransitcenter medizinische Hilfeleistung verweigert wurde. Ähnliche Fälle, die von den Behörden gerne vertuscht werden, sind aus fast allen Staaten der EU dokumentiert.
Nicht minder schwere Folgen hat die Verweigerung der Asylanerkennung. Regelmäßig kommt es zu Selbstmorden in den europäischen Asylbewerberheimen und Abschiebegefängnissen. Der 42-jährige Ukrainer Mikhail Bognarchuk erhängte sich in der Abschiebehaft im britischen Haslar am 31. Januar 2003. Kurz zuvor hatte sich der Georgier David Mamedov, 45, der seit Jahren in Deutschland lebte, in seiner Wohnung im ostwestfälischen Schloss-Holte erhängt, nachdem er seinen Abschiebebescheid erhalten hatte.
Von welcher Verzweiflung die Flüchtlinge getrieben sind, machen zwei Fälle vom 22. März 2001 bzw. 23. April 2000 besonders deutlich. Vor zwei Jahren hatte in Spanien ein marokkanischer Flüchtling, dessen Deportation nach Marokko bevorstand, einen 40-jährigen Asylbewerber aus Guinea ermordet. Das Motiv der Tat war, dass der Marokkaner lieber im spanischen Gefängnis von Almeria seine Strafe absitzen wollte als abgeschoben zu werden. Und ein Jahr zuvor hatte eine chinesische Asylbewerberin in den Niederlanden aus Furcht vor der drohenden Abschiebung zunächst ihre Freundin, deren Asylantrag ebenfalls abgelehnt worden war, erstochen und danach sich selbst getötet.
Europas Grenzsicherung greift weit vor den EU-Außengrenzen
Dabei erreichen viele nicht einmal die Nähe der europäischen Grenze. Zahlreiche Tötungen durch Grenzpolizisten sind zum Beispiel für die türkischen Grenzen dokumentiert. Aufsehen erregend war der Beschuss eines Flüchtlingsbootes nahe Zypern am 22. Mai letzten Jahres durch die türkische Küstenwache. Der Türke Hidar Akay wurde im Kugelhagel tödlich getroffen. Dagegen war die Erschießung von neun Flüchtlingen und die Verwundung von fünf weiteren, als eine Gruppe von 139 Personen aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan Anfang Mai 2000 die Grenze zwischen der Türkei und dem Iran überschritten, den Zeitungen nur eine Kurzmitteilung wert.
Die Türkei, der von der EU bislang die Mitgliedschaft und Beitrittsverhandlungen mit dem Verweis auf die Verletzung der Menschenrechte verwehrt wurden, war dabei in allen Fällen nur ausführendes Organ der EU. Bereits 1995 wurde der Türkei nahe gelegt, illegale Migration stärker zu bekämpfen. Und mit dem Vertrag von Amsterdam und den Beschlüssen des EU-Gipfels 1999 im finnischen Tampere wurde die effektive und gegenüber Flüchtlingen rücksichtslose Grenzsicherung zur Bedingung der EU-Mitgliedschaft. Das rigide Vorgehen der türkischen Grenzschützer ist daher auch eine Folge des Drucks, den die EU auf ihre Nachbarstaaten und Beitrittskandidaten ausübt.
In Libyen - das letzte Schlupfloch nach Europa, da die Regierung von Muammar Gaddhafi aufgrund des gegen sie verhängten Wirtschaftsembargos nicht auf dem Gebiet der Flüchtlingsabwehr mit der EU zusammenarbeitet - werden viele Flüchtlinge Opfer der mörderischen Bedingungen der Wüste. In den letzten Wochen, so die ghanaische Botschaft nach einem Bericht der tageszeitung, seien mehr als 200 Ghanaer in der libyschen Wüste verdurstet. Einen grausigen Fund machten im Mai 2001 Touristen, als sie in der libyschen Sahara einen Lastwagen aus Niger fanden, der sich drei Monate zuvor dort verirrt hatte. An Bord waren 140 Leichen.
Der massive Ausbau des europäischen Grenzregimes
Die jährlich zu Hunderten auf dem Weg nach Europa in europäischen Sammellagern sterbenden Flüchtlinge sind das direkte Resultat der immer schärferen Grenzüberwachung an den europäischen Außengrenzen.
So hat Deutschland trotz seines bankrotten Staatshaushaltes die Mittel für den Bundesgrenzschutz massiv erhöht. An der deutschen Ostgrenze stehen pro Kilometer mehr Grenzschützer als an der nicht minder schwer bewachten Grenze zwischen den USA und Mexiko.
Spanien hat in den letzten Jahren an seiner Südküste das wohl modernste und kostspieligste Überwachungssystem zur Flüchtlingsabwehr weltweit aufgebaut. Mit Radar und Infrarotkameras können die spanischen Behörden entlang eines 115 Kilometer langen Küstenstreifens jedes noch so kleine Flüchtlingsboot schon an der Küste Marokkos identifizieren. Aufgespürte Boote werden dann von Schiffen der Küstenwache zur Umkehr gezwungen.
Teils mit finanzieller Hilfe, teils mit massivem Druck wurden auch die Nachbarstaaten der EU zur Forcierung der Flüchtlingsabwehr angehalten. Ungarn erhielt von der EU praktisch die komplette Ausrüstung der Grenzschützer. Rumänien wurde gezwungen, für 50 Mio. Euro die Grenze zu Moldawien für Flüchtlinge zu einem unüberwindlichen Hindernis zu machen. In Polen sind auf Druck insbesondere Deutschlands 25 Abschiebezentren entstanden. Im November 1998 entstand in Tschechien das erste Abschiebelager. Insassen in beiden Ländern sind vornehmlich Flüchtlinge, die von deutschen Behörden mit Verweis auf die "Sichere Drittstaaten-Regelung" zurückgeschoben wurden.
Am 1. Juli hat die EU-Kommission in einer Mitteilung eine Verstärkung der Nachbarschaftsabkommen mit den zukünftigen Anrainerstaaten der EU nach der Erweiterung 2004 angeregt. Von den insgesamt eigentlich für Entwicklungshilfe der zukünftigen Grenzregionen vorgesehenen rund 1 Mrd. Euro wird ein nicht unerheblicher Teil für die Militarisierung der Grenzen zur Flüchtlingsabwehr, die eines der vier ausgewiesenen Ziele des Nachbarschaftsabkommens darstellt, zweckentfremdet.
Die Zusammenarbeit innerhalb der EU bei der Grenzsicherung, der Einreiseverweigerung, der Abschiebung und der Harmonisierung der Asylverfahren auf niedrigstem Level nimmt ebenfalls immer drastischere Formen an. Auf dem EU-Gipfel im griechische Thessaloniki wurden 140 Mio. Euro zusätzlich für die Intensivierung der Zusammenarbeit bei der Sicherung der EU-Außengrenzen bereitgestellt. Für Abschiebungen und Ausbau der Kooperation mit Drittstaaten für die Rücknahme von Flüchtlingen sind 250 Mio. Euro vorgesehen. Damit soll die massenhafte Deportation von Flüchtlingen aus der EU, die jährlich 350.000 Menschen abschiebt und etwa 150.000 zur "freiwilligen Rückkehr" zwingt, noch effizienter gestaltet werden.
Forciert wurde auf dem Gipfel ebenso der Ausbau eines gemeinsamen Visasystems, wobei die Visaerteilung zur vollständigen Überwachung und Kontrolle an das Vorhandensein biometrischer Daten in den Reisedokumenten der Antragsteller gebunden wird. In einer zentralen Datei, dem Visa Informationssystem (VIS) werden die Daten dann zusammengeführt und für alle Grenz- und Polizeibehörden zugänglich gemacht.
Die VIS soll mit dem Schengen Informationssystem (SIS) gekoppelt werden. Letzteres erhält, wie ebenfalls in Thessaloniki beschlossen wurde, demnächst eine Neuauflage, die einen erweiterten und beschleunigten Datenzugriff durch noch mehr Behörden ermöglichen soll. Zusammen mit der fortschreitenden Militarisierung der EU-Außengrenzen zieht die EU mit dem VIS ihren elektronischen Vorhang immer dichter zu, mit immer tödlicheren Folgen, wie die United- Dokumentation nachdrücklich beweist.
Profitieren werden alleine die Menschenschmuggler, die die EU vorgeblich bekämpfen will. Deren Markt wurde erst durch die ausländerfeindliche EU-Politik der rigorosen Flüchtlingsabwehr geschaffen. Die Menschenschmuggler können heute bereits horrende Preise für die Mittelmeerüberfahrt oder den LKW-Transport über die Ostgrenzen der EU verlangen. Das Angebot reicht von "all-inclusive" - das heißt garantierter Transport vom Herkunfts- bis zum Bestimmungsort mit falschen Papieren für etwa 10.000 Euro - bis zum Hinüberbegleiten über die Grenzen zu Fuß für einige hundert Euro. Die zunehmende Abschottung der EU-Außengrenzen wird zu einem Steigen der Preise führen, da der Grenzübertritt immer riskanter und die Schmuggelwege immer länger werden sowie mehrere Versuche des Grenzübertritts notwendig werden können.
Die Flüchtlinge, die sich für den Weg nach Europa hoch verschulden, werden aber nicht nur höhere finanzielle Opfer bringen müssen. In dem rücksichtslosen Geschäft des Menschenschmuggels werden sie ihre Flucht auch immer häufiger mit dem Leben bezahlen.
Die Einschränkung der Reise- und Bewegungsfreiheit sowie der Tod von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze (die sogenannten "Mauertoten"), die die westlichen Staaten zu Zeiten des eisernen Vorhangs den stalinistischen Regimen Ost- und Mitteleuropas - allen voran die Bundesrepublik der DDR - immer wieder vorgehalten haben, wird immer mehr zu einem Charakteristikum der EU-Politik.