Ein Jahr nach den Milzbrandanschlägen auf den amerikanischen Kongress

Die Bush-Regierung und die amerikanischen Medien haben den Jahrestag der Milzbrandanschläge auf führende Parlamentarier der Demokratischen Partei praktisch mit Schweigen übergangen. Es gab in den Medien kaum Einschätzungen und Kommentare zur Bedeutung der Mordversuche an dem Führer der Mehrheitsfraktion im Senat Tom Daschle und dem Vorsitzenden des Rechtsausschusses im Senat Patrick Leahy, deren Büros Briefe erhielten, die mit Milliarden von Milzbrandsporen gefüllt waren und den Tod von Dutzenden, wenn nicht Hunderten Menschen hätten herbeiführen können.

Die Sendungen an Daschle und Leahy folgten einer Reihe von Briefen mit weniger potenten Milzbrandsporen an Medienunternehmen - die Büros einer Boulevardzeitung in Florida, die New York Post und die Nachrichtenredaktion des Senders NBC. Die Demokratische Partei und die Medien sind ständig Attacken der extremen Rechten in den Vereinigten Staaten ausgesetzt. Doch sowohl die Bundespolizei FBI als auch die Medien selbst haben größtenteils kein Wort darüber verloren, dass eine rechte politische Motivation hinter den Milzbrandanschlägen wahrscheinlich ist.

Ebenso wenig berichten die Medien über das offensichtliche Versagen der Bundespolizei, den oder die Verantwortlichen für die Anschläge festzunehmen, durch die fünf Menschen starben und Dutzende schwer und möglicherweise mit langfristigen Folgen verletzt wurden. Als wenige Tage nach den Anschlägen klar wurde, dass sie höchstwahrscheinlich auf das Konto faschistischer Gesinnungstäter aus dem Umfeld des amerikanischen Militärs bzw. der US-Geheimdienstes gingen und nicht von al-Qaida-Mitgliedern oder irakischen Terroristen verübt worden waren, setzte das FBI seine Ermittlungen nur noch auf Sparflamme fort.

Nach Angaben von Wissenschaftlern, die mit der Presse über die Ermittlungen diskutiert haben, sind die Untersuchungen des FBI durch Verschleppung und merkwürdige Ermittlungsfehler gekennzeichnet:

- Das FBI hätte die Einrichtungen, die Milzbrandsporen vom Typ des Ames-Stranges besaßen, die bei den Anschlägen verwendet wurden, durch eine Routinedurchsuchung von Datenbanken ausfindig machen können. Aber Proben des Bakteriums wurden erst im Februar angefordert, vier Monate nach den Anschlägen.

- Die Annahme der Proben verzögerte sich um weitere zwei Monate, weil in dem Biowaffenlabor der Armee in Fort Detrick, wo die Proben untersucht werden sollten, kein angemessener Lagerraum eingerichtet worden war.

- Die Ermittler entdeckten den verseuchten Briefkasten in der Stadt Princeton (Bundesstaat New Jersey), aus der die Milzbrandbriefe aller Wahrscheinlichkeit nach abgeschickt worden waren, erst im August, zehn Monate nach den Anschlägen. Eine Untersuchung der 600 Briefkästen des Postbezirks hätte nach der Aussage eines Experten nicht länger als zwei Wochen in Anspruch nehmen dürfen.

- Die Ermittler warteten bis September 2002, elf Monate, um die Umgebung des Bürogebäudes in Florida genauer zu untersuchen, in dem die Redaktion der Boulevardzeitung saß und der Fotoredakteur Robert Stevens arbeitete, der das erste Todesopfer der Milzbrandanschläge wurde.

- Die Ermittler haben immer noch nicht mit allen amerikanischen Wissenschaftlern gesprochen, die in den 1950-er und 1960-er Jahren an der Herstellung von Milzbranderregern für das Biowaffenprogramm des amerikanischen Militärs beteiligt waren, obwohl nur noch zwei Dutzend von ihnen leben. Erst Monate nach den Anschlägen wurde damit begonnen, die ersten von ihnen zu befragen.

Am seltsamsten ist natürlich die Behandlung von Dr. Steven Hatfill, auf den das FBI angeblich bereits wenige Tage nach den Milzbrandanschlägen hingewiesen worden war. Hatfill grollte mit dem Staat, weil im August 2001 seine Unbedenklichkeitsbescheinigung zurückgezogen worden war, was ihn letztlich seinen Job bei dem Waffenproduzenten SAIC kostete. Er war laut eigenen Angaben mit beiden Formen des Giftstoffes Anthrax, nassem und trockenem Milzbrand, vertraut. Er hatte einen Roman über einen Biowaffenangriff auf den amerikanischen Kongress geschrieben und eine Studie über die Gefahren von mit Anthraxsporen verseuchten Briefen in Auftrag gegeben, die Informationen über die geeignetste Größe der Sporen und Art der Briefumschläge enthielt.

Obwohl Hatfill über die Gelegenheit, ein Motiv und die nötigen Kenntnisse für die Tat verfügte und angeblich mehrere Tests am Lügendetektor nicht bestand, wurde er nie verhaftet oder in Gewahrsam genommen. Sein Name wurde erst publik durch eine Enthüllungskampagne von Barbara Hatch Rosenberg, eine Biowaffenexpertin in der Föderation Amerikanischer Wissenschaftler, und dem Kolumnisten der New York Times Nicholas Kristof.

Rosenberg behauptete, dass Hatfill die Protektion höchster staatlicher Stellen genieße, weil er an Biowaffenprojekten der höchsten Geheimhaltungsstufe beteiligt gewesen sei. "Wir wissen, dass das FBI diese Person beobachtet, und es ist wahrscheinlich, dass er in der Vergangenheit an geheimen Aktivitäten beteiligt war, die der Staat nicht enthüllt sehen möchte", schrieb sie. "Und hier stellt sich die Frage, ob das FBI nicht vielleicht die Sache irgendwie schleifen lässt und sich möglicherweise nicht besonders anstrengt, die Person, die dies getan hat, ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen."

Kristof beschrieb Hatfills Rolle als Armee- bzw. Geheimdienstmitarbeiter für die von weißen Rassisten regierten Staaten Rhodesien und Südafrika. Er nimmt an, dass Hatfill - den er aus Rücksichtnahme gegenüber den schweigenden staatlichen Stellen zunächst "Mr. Z." nannte - noch heute im Dienste der Vereinigten Staaten steht und bei Operationen in Zentralasien eine aktive Rolle spielt.

Die World Socialist Web Site schrieb damals: "Kristofs zentraler Vorwurf lautet, dass die Ermittlungen zu den Milzbrandanschlägen nicht deshalb in eine Sackgasse geraten sind, weil es an Beweisen fehlte, sondern weil der Hauptverdächtige mächtige Freunde in hohen Stellen hat und eine Protektion von offizieller Seite genießt. [...] Kristofs Kolumne führt unweigerlich zu dem Schluss, dass die Bush-Regierung die Mordversuche an der offiziellen politischen Opposition begünstigt - wenn nicht sogar angestiftet - hat."

Weder Rosenberg noch Kristof erbrachten einen eindeutigen Beweis, dass Hatfill der Milzbrandterrorist war. Aber sie lieferten ausführliche Beweise, die weitaus überzeugender waren als die vagen Verdächtigungen oder rassistischen Unterstellungen, die das Justizministerium vorbrachte, um nach den Terroranschlägen des 11. September die Festnahme Tausender arabischer und muslimischer Immigranten zu rechtfertigen. Der Widerwillen des Justizministeriums, etwas gegen Hatfill zu unternehmen, steht in scharfem Kontrast zu seiner sonstigen Ermittlungspraxis bei der Terrorismusbekämpfung. Wäre der Hauptverdächtige im Anthrax-Fall ein Muslim gewesen - oder, noch besser, ein Iraker - hätte ihn Justizminister John Ashcroft höchstwahrscheinlich als "feindlichen Kämpfer" bezeichnet und auf unabsehbare Zeit eingesperrt.

Dass Hatfill Protektion von hohen Stellen genoss - und immer noch genießt - zeigte sich an den politischen Verbindungen, die ans Licht kamen, nachdem das FBI sich gezwungen sah, offener gegen ihn vorzugehen. Nach der dritten Durchsuchung von Hatfills Appartement in Frederick im Bundesstaat Maryland sandte das Justizministerium einen Brief an die Louisiana State University und verbot der Hochschule, Hatfill für 150.000 Dollar Jahresgehalt als stellvertretenden Leiter ihres mit öffentlichen Geldern finanzierten Biomedizinischen Forschungs- und Ausbildungszentrums anzustellen.

Hatfill schlug zurück und hielt eine öffentliche Pressekonferenz, auf der er jede Verbindung zu den Milzbrandanschlägen leugnete. Er hat Teile der extremen Rechten zu seiner Verteidigung mobilisiert. Sein Pressesprecher und Intimus Pat Clawson ist ein ehemaliger CNN-Journalist, der jetzt an der Radio-Talkshow des rechten Aktivisten und Iran-Contra-Verschwörers Oliver North mitarbeitet. Die rechte Propagandagruppe Accuracy in Media organisierte seine Pressekonferenz und gab Stellungnahmen heraus, in denen sie die angebliche "Verfolgung" Hatfills durch das FBI angreift. Senator Charles Grassley, ein Republikaner aus dem Bundesstaat Iowa, brachte die Sache im Rechtsausschuss des Senats auf und schrieb einen Protestbrief an Ashcroft, in dem er erklärt: "Es ist wichtig, dass die Regierung gemäß den Gesetzen, Regeln, Verordnungen und Verfahrensvorgaben handelt, anstatt willkürliche Entscheidungen zu fällen, die einzelne Bürger beeinträchtigen."

Die vielleicht bedeutendste Intervention kam vonseiten des Wall Street Journal, das Rosenberg und Kristof in einem Leitartikel vorwarf, das FBI unter Druck zu setzen, und erklärte, dass der wahre Schuldige hinter den Milzbrandanschlägen der Irak sei.

Am 9. Oktober veröffentlichte die Baltimore Sun - eine der wenigen Tageszeitungen, die die Anthrax-Geschichte ernsthaft verfolgt haben - einen Bericht, in dem behauptet wird, dass Hatfill wiederholt falsche Angaben über seine Ausbildung und seinen beruflichen Werdegang gemacht hat. So soll er einen Doktortitel der Rhodes University erfunden haben, den er nie verliehen bekam.

Wieder einmal springt ins Auge, mit welch verschiedenem Maß gemessen wird. Muslimische und arabische Immigranten wurden von den Bundesbehörden verhaftet und auf unabsehbare Zeit eingesperrt, weil sie Fristen für Routineanträge bei Behörden versäumt hatten - was vor dem 11. September niemals ein Anlass für Inhaftierung und Verfolgung gewesen wäre.

Die Milzbrandanschläge waren von außergewöhnlicher politischer Bedeutung. Daschle und Leahy gehören zu den höchsten Vertretern der offiziellen Oppositionspartei in Washington. Daschle ist Führer der Mehrheitsfraktion im Senat, der ranghöchste Kongressabgeordnete der Demokraten, während der von Leahy geleitete Rechtsausschuss solch politisch sensible Themen behandelt wie die Ernennung von Richtern und die Gesetzgebung zu Fragen von Abtreibung, Strafjustiz und Bürgerrechten.

Nachdem der mit Anthrax verseuchte Brief am 15. Oktober 2001 von einem Mitarbeiter Daschles geöffnet worden war und Milzbrandsporen in die Klimaanlage des Bürogebäudes gelangt waren, musste das gesamte Gebäude für mehrere Tage geschlossen und gereinigt werden, was dazu führte, dass Dutzende Senatoren für mehrere Monate in provisorische Räumlichkeiten umziehen mussten. Das von den Republikanern kontrollierte Repräsentantenhaus beschloss, seine Sitzungen auf unbestimmte Zeit zu vertagen, und der führende Republikaner im Senat Trent Lott schlug dem Senat vor, es dem Repräsentantenhaus gleich zu tun.

Der Vorschlag Lotts harmoniert auffällig mit der Entscheidung der Bush-Regierung, nach den Terroranschlägen des 11. September eine Schattenregierung in geheimen Bunkeranlagen einzurichten, die im Falle eines zerstörerischen Angriffs mit atomaren, chemischen oder biologischen Waffen auf die Hauptstadt Washington die Regierungsgeschäfte weiterführen sollte. Die Schattenregierung bestand lediglich aus der Exekutive, und es war nicht vorgesehen, eine Kontrolle der Regierung durch ein gewähltes Parlament bzw. die Legislative sicherzustellen oder wiederherzustellen.

Die politischen Konsequenzen des Anthrax-Terrorismus und die Pläne der Bush-Regierung für eine Schattenregierung ergänzen sich perfekt. Beide hätten die parlamentarische Kontrolle außer Kraft gesetzt und der Regierung praktisch unbegrenzte Machtbefugnisse überlassen.

Im vergangenen Dezember kam heraus, dass die Milzbrandsporen in den Briefen an Daschle und Leahy genetisch identisch waren mit denen, die in den Biowaffenanlagen der amerikanischen Armee in Fort Detrick und Dugway hergestellt wurden. Mit anderen Worten: Die Führung der Demokratischen Partei sollte mit Waffen ermordet werden, die vom amerikanischen Militär selbst hergestellt (oder aus seinen Beständen gestohlen) waren. Die ganze Affäre verströmt den Gestank eines versuchten Staatsstreichs.

Siehe auch:
Wer blockiert die Ermittlungen zu den Milzbrandanschlägen in den Vereinigten Staaten?
(25. Juli 2002)
Milzbrandbriefe in den USA: Mordversuche an den Führern der Demokratischen Partei
( 30. Januar 2002)
Milzbrandanschläge in den USA gehen auf Biowaffenanlage der Armee zurück
( 5. Januar 2002)
Milzbrandgefahr in den USA: Warum wird über den rechtsradikalen Terrorismus geschwiegen?
( 30. Oktober 2001)
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