Nach dem Massaker in Dschenin sollten eine Reihe Fragen gestellt werden. Eine davon liegt auf der Hand und könnte eigentlich von allen größeren Zeitungen in den Vereinigten Staaten und Europa aufgeworfen werden: Warum wird Slobodan Milosevic der Prozess gemacht, nicht aber dem israelischen Premierminister Ariel Scharon?
Diese Fragestellung ist keine politische Sympathiebekundung für Milosevic - einen nationalistischen und pro-kapitalistischen Politiker, der Mitverantwortung trägt für die Katastrophe, die über die jugoslawische Bevölkerung hereingebrochen ist. Sie ist vielmehr eine Anklage an das Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen in Den Haag und seinen Nachfolger, den Internationalen Strafgerichtshof. Die schreiende Ungleichheit in der Behandlung von Milosevic und Scharon macht deutlich, dass diese Gerichtshöfe nichts weiter als Instrumente der imperialistischen Außenpolitik sind.
Wenn bei der Entscheidung, ob jemand als Kriegsverbrecher angeklagt wird, objektive Schuldkriterien herangezogen würden, dann müsste Scharon auf die Anklagebank des Internationalen Strafgerichtshofs, der für die Untersuchung von Kriegsverbrechen auf der ganzen Welt zuständig ist. Die Verschonung Scharons von Anklagen beweist, dass das Haager Tribunal zur Untersuchung der Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien nichts weiter als ein politischer Schauprozess ist, der von den Vereinigten Staaten und anderen Nato-Mächten angestrengt wurde, um ihren Krieg gegen Serbien und die anhaltende militärische Besetzung des Balkans zu rechtfertigen.
Die juristische Glaubwürdigkeit des Haager Tribunals war bereits zuvor stark unterhöhlt worden. Der ehemalige jugoslawische Präsident verteidigt sich nachdrücklich und erfolgreich, indem er im Gegenzug den Westmächten Verbrechen gegen den Frieden vorwirft, die diese bei ihrer Destabilisierungskampagne gegen Jugoslawien begangen haben. Es sind auch neue Beweise aufgetaucht, die einige der zentralen Vorwürfe gegen ihn widerlegen. Der Bericht des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation, der holländische Friedenstruppen und die Vereinten Nationen mit dem Massaker an 7.000 bosnischen Muslimen 1995 in Srebrenica in Verbindung bringt, fand keinen Beweis dafür, dass Milosevic oder "die serbischen Autoritäten in Belgrad eine direkte Rolle bei dem Massaker spielten".
Selbst die Unterstützer des Haager Tribunals mussten sich bereits fragen, warum Milosevic als einziger auf der Anklagebank sitzt. Im Februar traf der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen eine Entscheidung, die wiederum benutzt wurde, um die juristische Entscheidung darüber zu vertagen, ob Scharon in Belgien unter Anklage gestellt werden darf. In Belgien wurde 1993 ein Gesetz verabschiedet, wonach das Land berechtigt ist, Kriegsverbrechen zur Anklage zu bringen, die von wem auch immer irgendwo in der Welt begangen wurden. Eine Gruppe Palästinenser beantragte daraufhin eine Anklage gegen Scharon wegen seiner Verantwortung für die Massaker an 2.000 Palästinensern in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatilla im September 1982 in Beirut. Aber in Bezug auf einen Haftbefehl, der von Belgien gegen einen kongolesischen Regierungsvertreter ausgestellt worden war, entschied der UN-Gerichtshof, dass ein ehemaliges oder aktives Regierungsmitglied "völlige Immunität gegen Strafverfolgung genießt" und nicht vor einem ausländischen Gericht angeklagt werden kann. (Die Unterstützer einer Anklage gegen Scharon argumentieren, dass sich das Urteil des UN-Gerichtshofs zur diplomatischen Immunität spezifisch auf den kongolesischen Vertreter bezog und dass die Entscheidung anders ausgefallen wäre, wenn der Vorwurf auf Völkermord gelautet hätte. Die Genfer Konvention stellt ausdrücklich fest, dass bestimmte schwere Verbrechen, wie Völkermord, vor jedem nationalen Gericht verhandelt werden können.)
In den Monaten seit die Entscheidung, ob Scharon angeklagt werden kann, vertagt worden ist, hat Scharon die Liste seiner Kriegsverbrechen um die Invasion im Westjordanland und das Massaker in Dschenin verlängert. Und doch genießt er weiterhin als Staatsmann den vollen Respekt der Bush-Regierung und ihrer europäischen Gegenspieler, während Milosevic in einer Gefängniszelle gehalten wird.
Es ist höchst unwahrscheinlich, dass Scharon einen Prozess wie Milosevic erleben wird, denn die Gerichtsverfahren in Den Haag oder in jeder anderen UN-Körperschaft sind alles andere als unbefangen und unparteiisch. Die Vereinigten Staaten und die europäischen Mächte wurden von der Strafverfolgung bei den jugoslawischen Kriegsverbrecher-Tribunalen ausgenommen. Gleichzeitig erkennen weder Israel noch die Vereinigten Staaten die Autorität des Internationalen Strafgerichtshofs für ihre eigenen Staatsbürger an, und die Statuten des Gerichts sind dergestalt, dass jede Großmacht über ein Vetorecht gegen die Strafverfolgung ihrer eigenen Politiker und Militärs verfügt.
Nach vernünftigen Kriterien jedoch wäre ein Prozess gegen Scharon nicht nur eindeutiger zu begründen als die Anklagen gegen Milosevic, sondern auch die spezifischen Verbrechen, die ihm vorgeworfen werden, wiegen schwerer und haben eine andere Größenordnung.
In Bezug auf die Kriege in Kroatien 1991, Bosnien 1992-95 und Kosovo 1999 werden Milosevic Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verletzung des Kriegsrecht vorgeworfen. Die Anklagen hinsichtlich Kroatien und Bosnien wurden nachträglich aufgenommen, als sich herausstellte, dass die Beweise gegen Milosevic in Bezug auf das Kosovo für eine Verurteilung nicht ausreichen würden. Die tatsächliche Zahl an Todesfällen in Kosovo, für die er verantwortlich gemacht wird - in der Anklageschrift aufgeführt als albanische Opfer serbischer Soldaten, Polizisten oder paramilitärischer Einheiten - beläuft sich auf 346. Scharon hingegen wurde bereits von einer israelischen Untersuchungskommission hinsichtlich der Massaker in Sabra und Schatilla für schuldig befunden, aber nur formal abgestraft, so dass er seine politische Karriere fortsetzen und schließlich sogar das höchste Staatsamt Israels besetzen konnte.
Die Behauptung, dass serbische Truppen 1999 im kosovarischen Dorf Racak 45 albanische Zivilisten massakriert hätten, lieferte der Nato den unmittelbaren Vorwand, um Milosevic‘ Regime den Krieg zu erklären. Aber die Ereignisse von Racak waren immer umstritten.
Das angebliche Massaker soll "am oder um den" 15. Januar 1999 stattgefunden haben. Die Angabe ist deshalb so vage, weil es keine unabhängigen Zeugen gibt. Serbien hat immer behauptet, dass die Leichen Angehörige der Befreiungsarmee des Kosovo (UCK) seien, die in bewaffneten Auseinandersetzungen zuvor gestorben waren und zu Propagandazwecken zusammengelegt wurden. Die Europäische Union entsandte ein Untersuchungsteam, das von einem amerikanischen Vertreter geleitet wurde, und Washington übernahm unkritisch die Version der UCK, dass es sich bei dem Vorfall um einen Beweis für "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" auf Anordnung Milosevic‘ handelte. Weniger als zwei Monate später begannen Nato-Flugzeuge unter Führung der Vereinigten Staaten Belgrad zu bombardieren.
Ein mehrfach veröffentlichter Bericht von einem Team finnischer Pathologen hat der serbischen Version von den Ereignissen in Racak mehr Gewicht verliehen. In einem Interview, das in der deutschen ARD ausgestrahlt wurde, sagte Dr. Helena Ranta, nach ihrem Kenntnisstand könne man "sagen, dass die ganze Szene in diesem kleinen Tal gestellt war... Diese Schlussfolgerung war Teil unseres ersten Untersuchungsberichts und auch unserer späteren forensischen Untersuchungen, die wir im November 1999 direkt in Racak unternahmen."
Was ist mit Dschenin? Hier gibt es keine Zweifel, dass Israel Gräueltaten begangen hat. Jeder Fernsehsender, jede größere Zeitung hat Bilder von israelischen Hubschraubern und Panzern veröffentlicht, die Häuser von Zivilisten unter Beschuss nahmen und zum Einsturz brachten. Reporter berichteten von dem Verwesungsgeruch, der aus den Ruinen stieg, und von den Leichen, die reihenweise in den Straßen lagen, weil die israelische Armee per Gerichtsbeschluss davon abgehalten worden war, die Toten in unmarkierten Massengräbern zu bestatten.
Ein Großteil der ersten Schätzungen ging von mehreren hundert Toten aus, aber die Zahlen konnten nie verifiziert werden, weil Israel die offizielle Untersuchungskommission der Vereinten Nationen nicht ins Land ließ, während die Armee weiter Leichen unter die Erde brachte. Die letzten Berichte sprachen von 54 Toten, darunter viele, die unmöglich Kämpfer gewesen sein können - so z. B. Frauen, Kinder, alte Männer, sogar an den Rollstuhl gefesselte Menschen.
Im Gegensatz zu Racak haben die Westmächte einen außerordentlichen Widerwillen gezeigt, Israel überhaupt irgendwelche Verbrechen vorzuwerfen. Die Vereinten Nationen haben sich verbogen, um Israels Forderungen entgegenzukommen, dass sich jede Untersuchung auf eine reine Tatsachenbeschreibung beschränken müsse, aus der kein Urteil abgeleitet werden dürfe und die nicht zu strafrechtlicher Verfolgung führen würde. In Washington konnte man sich kaum dazu entschließen, auch nur eine leise Kritik zu äußern. Der amerikanische Außenminister Colin Powell unternahm keinen Versuch, während seiner diplomatischen Mission in Israel letzten Monat Dschenin persönlich zu besuchen. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, vor einem Unterausschuss des Senats zu bezeugen, dass er keine Beweise für ein Massaker in Dschenin gesehen habe. Des weiteren beschrieb er die vorgeschlagene Untersuchung der Vereinten Nationen als ein Mittel zur Zerstreuung der "wilden Spekulationen, die es um das Geschehen gibt, wobei mit Begriffen wie Massaker und Massengräber um sich geworfen wird, was aber nicht zuzutreffen scheint".
Beachtenswert ist auch die offizielle Begründung der Scharon-Regierung für die Handlungen der israelischen Armee in Dschenin. Israel verwahrt sich gegen den Vorwurf, ein Massaker begangen zu haben, und verweist darauf, dass nur etwa 40 Leute gestorben seien, zum größten Teil Mitglieder der Hisbollah, des Islamischen Dschihad oder anderer militanter Gruppen. Israels Schätzungen über die Zahl der Opfer kann, gelinde gesagt, nicht unkritisch übernommen werden. Aber es ist doch bemerkenswert, dass die von israelischer Seite genannte Zahl der palästinensischen Opfer in Dschenin beinahe identisch ist mit der Zahl der in Racak Getöteten - die nach Angaben serbischer Stellen UCK-Kämpfer waren.
Kein westlicher Politiker und nur wenige Journalisten schrecken davor zurück, Racak ein Massaker zu nennen, wohingegen viele Artikel erschienen sind, die Israels Rechtfertigungen für die Handlungen in Dschenin Glaubwürdigkeit verleihen und akzeptieren, dass kein Massaker stattgefunden habe. Peter Beaumont beruhigte seine Leser im Observer vom 21. April: "Leicht kann man sich von dem Vorhandensein der Leichen verstören lassen... Durch das reine Gewicht der Zahl derer, die auf dem Boden zusammengelegt sind - beinahe 30 an diesem Nachmittag - kommt die Vermutung auf, dass es sich um Opfer eines Massakers handele."
Dem sei aber nicht so, sagt Beaumont: "Ein Massaker - wie es gewöhnlich verstanden wird - fand im Flüchtlingslager von Dschenin nicht statt. Welche Verbrechen hier auch immer begangen wurden - und es scheint, als ob es einige waren - ein vorsätzliches und kalkuliertes Massaker an Zivilisten durch die israelische Armee war nicht dabei."
Beaumont stellt dann die unfundierte Behauptung auf, dass "die von dieser Zeitung und anderen Journalisten gesammelten Beweise immer deutlicher machen, dass die Mehrheit der bislang geborgenen Leichen palästinensische Kämpfer von Islamischer Dschihad, Hamas und den Al-Aqsa-Brigaden waren".
Ein Bericht der BBC vom 29. April, in dem der britische Militärexperte von Amnesty International Major David Holley interviewt wurde, bezog sich auf 54 Leichen. Unter diesen befanden sich mehrere Zivilisten, "mit möglicherweise 20 bis 30 ungeklärten Fällen", "ein oder zwei Zivilisten, die beschossen und exekutiert wurden" und "Scharfschützen, die Menschen auf den Straßen niedergeschossen haben, obwohl es sich eindeutig um Zivilisten handelte, die den Kämpfen zu entkommen versuchten".
Aber Holley versichert unbeirrt, dass "Massaker ein Wort ist, das in solchen Situationen zu oft benutzt wird und nicht wirklich weiterhilft", bevor er seine Unterstützung für Israels Bemühungen kundtut, die Zusammensetzung des Untersuchungsteam der Vereinten Nationen selbst zu bestimmen. Die BBC strahlte den Bericht mit einer Überschrift aus, in der das Wort Massaker in Anführungszeichen gesetzt war.
Sieben Tage nach Beaumonts Artikel hat Scharon glasklar zu verstehen gegeben, dass er noch nicht einmal eine wirkungslose Untersuchung der Vereinten Nationen zu Dschenin erlauben würde.
Ein paar zusätzliche Punkte können ergänzt werden:
Die Anklageschrift gegen Milosevic enthält das Eingeständnis, dass die albanisch-separatistische UCK den Bürgerkrieg im Kosovo durch "eine Kampagne des bewaffneten Aufstands und gewaltsamen Widerstands gegen die serbischen Autoritäten" heraufbeschworen hat, unter anderem durch "Angriffe, die sich in erster Linie gegen jugoslawische und serbische Polizeikräfte richteten". Während Israels Behauptung, dass der Einfall in palästinensisches Gebiet ein Mittel zur Bekämpfung der terroristischen Bedrohung sei, Glauben geschenkt wird, werden andererseits die Bemühungen der serbischen Regierung, eine terroristische Bedrohung auf ihrem eigenen Territorium einzudämmen, als Kriegsverbrechen verurteilt.
Bis jetzt konnte das Haager Tribunal in keinem konkreten Einzelfall nachweisen, dass Milosevic selbst die aufgeführten Gräueltaten befohlen oder gutgeheißen hat, die größtenteils irregulären serbisch-nationalistischen Kräften zugeschrieben werden, die nicht unter seiner Kontrolle standen. In Dschenin und anderswo besteht keine solche Unklarheit. Die Zerstörung des Westjordanlands wurde von den Streitkräften durchgeführt, die unter direktem Befehl der hohen Militärs und unter Scharons Autorität als Staatschef stehen.
Am verräterischsten ist vielleicht der Umstand, dass der Prozess gegen Milosevic letztendlich auf der Annahme beruht, dass - unabhängig davon, ob ihm eine direkte Verantwortung wirklich nachgewiesen werden kann - sein Eintreten für ethnische Säuberungen das politische Klima geschaffen habe, in dem Gräueltaten stattfinden konnten. Doch man muss sich fragen, wie Scharons Politik bezüglich des Westjordanlands und Gazastreifens bezeichnet werden soll, wenn nicht als ethnische Säuberung.
Unabhängig davon, ob Zivilisten vorsätzlich getötet wurden oder nicht, verfolgt die systematische Zerstörung von Wohnhäusern, Straßen, Fahrzeugen, Strom- und Wasserleitungen, Kanalisationsanlagen - Grundvoraussetzungen des Lebens - durch die israelische Armee das Ziel, die ethnischen Araber zur Flucht zu zwingen und ihr Land für den Bau weiterer israelischer Militärbasen und Siedlungen zu gewinnen. Diese Tatsache allein ist Beweis für die ungleichen Kriterien, die von den Westmächten angelegt werden, und für die Heuchelei aller Verteidiger Israels, die beanspruchen, von humanitären Überlegungen auszugehen.