Der politische Bankrott der PLO und die Wurzeln der Hamas

Nachfolgend veröffentlichen wir den ersten Teil einer dreiteiligen Artikelserie.

Im September 1993 wurde das Abkommen von Oslo begeistert gefeiert. Es sollte die Grundlage zur Beendigung des Jahrzehnte alten israelisch-palästinensischen Konfliktes bilden und innerhalb von fünf Jahren zur Errichtung eines palästinensischen Staates neben Israel führen.

Diese Vision liegt nun in Trümmern. Israels Regierungskoalition aus Likud und Arbeitspartei hat mit der Unterstützung ihrer Hintermänner in den USA Panzer in die 1967 eroberten Gebiete geschickt, um sie erneut zu besetzen und die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) zu zerschlagen. Die Scharon-Regierung hat die Welle von Selbstmordanschlägen der islamistischen Gruppe Hamas genutzt, um das Abkommen von Oslo zu verwerfen und die Palästinensische Autonomiebehörde als terroristisches Gebilde zu bezeichnen.

Bei diesen Selbstmordanschlägen, die sich gegen unschuldige Zivilisten richten, handelt es sich um grauenhafte Verzweiflungstaten junger Menschen, die von politischen Tendenzen beeinflusst werden, die keinerlei fortschrittliche Perspektive im Kampf gegen die israelische Unterdrückung vertreten. Durch Massaker an unschuldigen Zivilisten werden die Interessen und Hoffnungen der palästinensischen Bevölkerung um keinen Deut vorangebracht.

Eine der bekanntesten Gruppen, die für solche Terrorakte die Verantwortung übernehmen, ist Hamas. Sie ist zudem der bekannteste Gegner von Jassir Arafats Fatah-Führung und lehnt deren Perspektive eines säkularen palästinensischen Staates ab. Bisher hat Hamas am meisten vom Scheitern der Bemühungen Arafats profitiert, eine dauerhafte politische Übereinkunft mit Israel und dem US-Imperialismus zu schließen. Tatsächlich tragen Arafats ständige Anbiederungsversuche an Präsident Bush, die er selbst dann noch fortsetzte, als Washington ihn zum Paria erklärte, dazu bei, verzweifelte junge palästinensische Arbeiter in die Arme der islamischen Fundamentalisten zu treiben, die als scheinbar militante Alternative zur Führung der PA auftreten können.

Die reaktionäre Ideologie der Hamas, die religiösen Fanatismus mit extremem Antisemitismus verknüpft, bietet jedoch keinen Ausweg aus der gegenwärtigen Sackgasse. Sie strebt die Errichtung eines islamischen Staats in Palästina an, in dem Juden und andere nicht-muslimische Minderheiten ausgeschlossen wären. Erreichen will sie dies, indem sie ihren jugendlichen Anhängern selbstmörderische Terroraufträge erteilt. Dass eine solche Bewegung Einfluss gewinnen konnte und gegenwärtig die Unterstützung von schätzungsweise 25 Prozent der Palästinenser genießt, kann nur verstanden und politisch bekämpft werden, wenn man das historische Scheitern des säkularen arabischen bürgerlichen Nationalismus untersucht. Darüber hinaus muss der Frage nachgegangen werden, wie der Stalinismus und seine ideologischen Ableger jede wahrhaft sozialistische politische Alternative in der Arbeiterklasse unterdrückten.

Die Moslembruderschaft in Ägypten und Palästina

Kurz nach dem Ausbruch der letzten Intifada 1988 im Gazastreifen gegründet, verband sich Hamas - "Islamische Widerstandsbewegung" - mit der Moslembruderschaft von Gaza, der politischen islamistischen Bewegung.

Die Moslembrüder von Gaza sind eine von einer ganzen Reihe islamistischer Gruppen in der arabischen Welt, deren Wurzeln auf die Renaissance des Islam und das Anwachsen der Moslembruderschaft beziehungsweise deren Umwandlung in eine politische Partei im benachbarten Ägypten im Jahre 1928 zurückgehen. Die Bruderschaft versuchte dem Islam wieder seine ehemals beherrschende Rolle in der Gesellschaft zu verschaffen und Ägypten zu einem islamischen Staat zu machen, der sich auf die Scharia (islamisches Recht) stützt. Daraus folgte, dass die Bruderschaft nur diejenigen als legitime Herrscher anerkennen würde, die in Übereinstimmung mit der Scharia handeln und sich den imperialistischen Mächten widersetzen würden, die Ägypten beherrschten.

Damit verband sie die Propagierung von Korporatismus und Paternalismus von Seiten der Unternehmer und Grundbesitzer als Gegengewicht zum Klassenkampf. Ihr soziales Programm bezog sich notwendigerweise auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Während Frauen das Recht auf Bildung und Arbeit zugestanden wurde, sollten sie getrennt von Männern leben. Die Religion sollte den Kern der Bildung ausmachen und die Wirtschaft sich auf die Prinzipien des Koran stützen. Zu diesem Zweck baute die Bruderschaft ein Netzwerk von Schulen, Krankenhäusern, Fabriken und Moscheen auf. Außerdem wurde ein Netzwerk paramilitärischer Gruppen aufgebaut, und nach dem Zweiten Weltkrieg ein Terrorkommando, das 1948 den ägyptischen Premierminister ermordete.

Vor allem jedoch benutzte sie religiöse Intoleranz und Antisemitismus in der bewussten Absicht, den Säkularismus und den wachsenden Einfluss der sozialistischen und kommunistischen Linken - unter denen sich viele Juden befanden - in der nationalen Bewegung zu bekämpfen und die Arbeiterklasse zu spalten. Das zeigte sich besonders deutlich in der Industriestadt Alexandria, die ethnisch sehr gemischt war. Die gegen die Arbeiterklasse gerichtete Achse der Moslembrüder vermischte Nationalismus und Religion auf diese Weise mit einem reaktionären sozialen Programm.

Nachdem sie die Machtübernahme der "Freien Offiziere", die 1952 Gamal Abdul Nasser in Ägypten an die Macht brachten, zunächst unterstützt hatte, wurde die Bruderschaft 1954 nach einem gescheiterten Attentat auf Nasser verboten und einige ihrer Führer flüchteten nach Saudi-Arabien und in andere Golfstaaten.

Während zweifellos die Illegalität den Einfluss der Bruderschaft verringerte, hing ihr politischer Niedergang doch größtenteils mit der wachsenden Popularität und dem Ansehen der säkularen nationalistischen Bewegungen im Nahen und Mittleren Osten zusammen, vor allem mit der Politik Nassers und später der PLO. In den darauffolgenden 30 Jahren war der Einfluss der Moslembrüder in Ägypten und Gaza minimal.

Der Kampf Ägyptens gegen die früheren Kolonialmächte der Region, Großbritannien und Frankreich, brachte Nasser 1956 in Konflikt mit Israel, als dieses deren gemeinsames Vorgehen gegen Ägypten wegen dessen Verstaatlichung des Suez-Kanals unterstützte. Als sich die Briten und Franzosen aus Suez zurückzogen, wurde Nasser zum Helden. Von diesem Zeitpunkt an übernahm er die Führungsrolle im Kampf für Palästina gegen Israel und erhielt wirtschaftliche und militärische Unterstützung von den Moskauer Stalinisten.

Die fortschrittlichen sozialen, ökonomischen und politischen Reformen seines autoritären Regimes - die begrenzte Säkularisierung des Staates und Aufteilung des Großgrundbesitzes, Nationalisierung der Schlüsselindustrien und Aufbau eines Bildungs- und Gesundheitswesens - verschafften ihm politische Unterstützung. Er schürte politische Illusionen in den säkularen arabischen Nationalismus als Alternative zum Kommunismus im ganzen Mittleren Osten. Nassers wenig durchdachte und äußerst riskante Politik gegenüber Israel, bei der die Sowjetunion eine zynische Rolle spielte, führte 1967 zur katastrophalen Niederlage der arabischen Streitkräfte im Sechstagekrieg.

Der Krieg schuf noch mehr Flüchtlinge, da viele Palästinenser von der Westbank nach Jordanien flüchteten, und führte zur Besetzung der Westbank und des Gazastreifens sowie der Annexion von Ostjerusalem. Statt der Befreiung der Palästinenser fand ein regelrechtes Desaster statt. Der Krieg zeigte die Unmöglichkeit jeder effektiven gemeinsamen Aktion unter der Führung verschiedener konkurrierender bürgerlicher Cliquen in der Region.

Die arabische Niederlage und die Diskreditierung der Politik Nassers ebneten den Weg für zwei unterschiedliche politische Entwicklungen: der Entstehung verschiedener Guerillaorganisationen, die auf unabhängige militärische Kampagnen der Palästinenser zur Befreiung Palästinas setzten, und der politischen Wiedergeburt des Islam.

Al Fatah und die PLO

Die PLO war 1964 gegründet worden, wurde jedoch bald von jenen palästinensischen Würdenträgern dominiert, die Nasser für seine eigenen Zwecke eingesetzt hatte. Jassir Arafats Fatah-Gruppe wurde bald zur wichtigsten Guerillaorganisation. Sie änderte die PLO-Charta zugunsten des bewaffneten Kampfes und übernahm im Februar 1969 unter der Führung von Arafat die Kontrolle über das Exekutivkomitee.

Außer ihrer Verpflichtung auf den bewaffneten Kampf mit dem Ziel eines demokratischen und säkularen Nationalstaats bot die PLO den palästinensischen Arbeitern und Bauern kein politisches oder soziales Programm. Sie agierte als Volksfront, innerhalb derer gemäß Artikel 8 ihrer Charta "die geschichtliche Phase, welche das palästinensische Volk jetzt durchlebt, die des nationalen (watani) Kampfes zur Befreiung Palästinas ist. Deshalb sind Konflikte zwischen den palästinensischen Kräften jetzt sekundär und sollten im Interesse des Grundkonfliktes zwischen den Kräften des Zionismus und Imperialismus auf der einen und dem palästinensischen arabischen Volk auf der anderen Seite beendet werden". Auf dieser Grundlage erklärte sich die PLO zum "einzig legitimen Vertreter" des palästinensischen Volkes und stellte die politische Herrschaft der Bourgeoisie durch ihre Partei Al Fatah sicher.

In Bezug auf die herrschende arabische Elite als ganze erklärte die Charta, dass die PLO "mit allen arabischen Staaten zusammenarbeitet, mit jedem nach dessen Möglichkeiten; und dass sie zwischen ihnen eine neutrale Position entsprechend den Erfordernisse des Befreiungskrieges einnehmen und sich auf dieser Grundlage nicht in die inneren Angelegenheiten irgend eines Staates einmischen wird".

Die PLO konnte niemals aus der politischen Sackgasse herauskommen, in welche die palästinensischen Massen von den arabischen Regimes geführt worden waren. Denn obwohl sie eine wirkliche Volksbewegung darstellte und sich in ihren Reihen unterschiedliche soziale Tendenzen befanden, diente ihr Programm dazu, die Klassenfragen zu überdecken und der nationalen Frage unterzuordnen. Trotz ihrer heroischen und oft verzweifelten Kämpfe vertrat sie die Interessen der palästinensischen Bourgeoisie, die nach einem nationalen Rahmen strebte, in dem sie ihre eigene Arbeiterklasse ausbeuten konnte.

Letztlich erhob sich die PLO einem Phönix gleich aus den sterbenden Überresten des säkularen Nationalismus und als beschränkter Ausdruck einer Bewegung, die im größeren Rahmen des Mittleren Ostens bereits gescheitert war.

Die nächsten 20 Jahre wurde Al Fatah zum Synonym der PLO und die PLO in den Augen der Welt zum Synonym der Revolution und des Kampfes für einen demokratischen und säkularen Staat Palästina. Arafat wurde als Vorsitzender der Fatah und der PLO-Koalition zum Symbol für die PLO und als Mr. Palästina bekannt. Immer wieder wurde sie jedoch von denselben arabischen Regimes verraten, auf die sie angewiesen war und die politisch herauszufordern sie sich weigerte.

Die Niederlage der arabischen Streitkräfte im Krieg vom Oktober 1973 trotz der Wiederaufrüstung Syriens und Ägyptens durch die Sowjetunion führte Ägypten dazu, als Gegenleistung für amerikanische Hilfe eine Vereinbarung mit Israel zu treffen und damit die PLO zu isolieren.

Die PLO stieß bald auf Opposition von Seiten der Regimes jener Länder, von deren Territorium aus sie ihre Operationen gegen Israel durchführte. Sowohl in Jordanien 1970-71 wie auch später im Libanon war die PLO unfähig, ein soziales und politisches Programm zu vertreten, auf dessen Grundlage die palästinensischen und arabischen Massen die israelischen Truppen hätten aufhalten können. Ihre militärischen Kampagnen und Paraden führten nur dazu, die libanesischen Nationalisten abzustoßen, und deren anfängliche Unterstützung verwandelte sich in Hass. So wurde der Weg geebnet, der in die Niederlage der PLO gegen Israel 1982 und das darauffolgende erzwungene Exil führte.

Innerhalb weniger Jahre, nachdem er die PLO unter seine Kontrolle gebracht hatte, war Arafat nun selbst bereit, den Staat Israel anzuerkennen und eine "Zwei-Staaten-Lösung" zu akzeptieren, d.h. einen winzigen und nicht zusammenhängenden palästinensischen Staat auf der Westbank und in Gaza neben Israel anzuerkennen. Diverse Vorschläge in dieser Richtung wurden jedoch stets von Israel und dessen Schirmherren, den USA, abgelehnt.

Es war die Intifada, die spontane Erhebung von palästinensischen Arbeitern und Jugendlichen im Dezember 1987 in den besetzten Gebieten, welche die PLO in die Arme des US-Imperialismus trieb. Diese Aufstandsbewegung erschreckte nicht nur die israelische, sondern auch die palästinensische Bourgeoisie und den US-Imperialismus. Sie fürchteten, dass die revolutionäre Bewegung der Massen außer Kontrolle geraten könnte, nicht nur in Palästina, sondern in der ganzen ölreichen Region.

Im Dezember 1988 garantierte Arafat in einer Wort für Wort vom amerikanischen Außenministerium diktierten Erklärung die Sicherheit Israels, akzeptierte, dass ein Friedensvertrag mit Israel eine "Strategie und keine vorübergehende Taktik" sei, und verurteilte alle Arten des Terrorismus "einschließlich individuellen, Gruppen- und Staatsterrorismus". In Anerkennung seiner Erniedrigung antwortete Arafat bei einer Pressekonferenz auf die Forderung, seine Anerkennung Israels zu bekräftigen: "Was wollen Sie noch? Soll ich hier einen Striptease machen? Das wäre unziemlich."

Der moderne politische Islam

Israels Vernichtung der arabischen Armeen im Sechstagekrieg von 1967 diskreditierte die säkularen nationalistischen Regimes von Ägypten und Syrien ebenso wie die sie unterstützende Sowjetunion. Sie hatten sich als unfähig erwiesen, ihre Differenzen zu überwinden und Maßnahmen zum Schutz ihrer Ausrüstung und militärischen Einrichtungen vor einem Überraschungsangriff Israels zu treffen, von einem Sieg über Israel ganz zu schweigen.

Der Krieg von 1967 führte nicht nur zum Aufstieg der PLO, sondern auch zur Wiederbelebung der Moslembruderschaft und ähnlicher Kräfte im ganzen Mittleren Osten und in Nordafrika. Die Islamisten profitierten von der Krise des säkularen Nationalismus und waren zu einem gewissen Grad in der Lage, das politische Vakuum zu füllen, welches vor allem dadurch entstanden war, dass die Stalinisten sich jeder politisch unabhängigen Rolle für die Arbeiterklasse widersetzten.

Während die PLO sich für einen demokratischen und säkularen Nationalstaat einsetzte, lehnte die Moslembruderschaft beides ab - sie wollte einen islamischen Staat in jedem Land unter Ausschluss anderer Religionen als Vorbedingung einer umfassenderen islamischen Identität.

In Ägypten machte Nassers Nachfolger Anwar Sadat die Säkularisierung des Staates rückgängig, um sich mehr Unterstützung zu verschaffen. Er änderte die Verfassung und erkannte die Scharia als hauptsächliche Rechtsgrundlage an. Er rekrutierte Moslembrüder und islamistische Studenten für seine Kampagne gegen die Nasseranhänger und Linken. Schließlich machte er 1980 die Scharia zur Hauptquelle der Gesetzgebung. Damit spielte er selbst eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer islamischen politischen Opposition. Neben der wieder gestärkten Moslembruderschaft kamen andere militante Islamistengruppen wie die Gamaat Islamiya auf, aus der die Splittergruppe Islamischer Jihad in Gaza hervorging.

Wird fortgesetzt

Teil 2

Teil 3
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - September/Oktober 2002 enthalten.)
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