Die Ermordung zweier arbeitsloser Jugendlicher, die am 29. Juni während eines Arbeitslosen-Protestes in Buenos Aires regelrecht exekutiert wurden, markieren eine neue Stufe des Klassenkampfs in Argentinien - sie beschwören einmal mehr das Gespenst einer Militärdiktatur.
Fotos und Videomaterial belegen eindeutig, dass der Tod von Dario Santillan und Maximiliano Kosteki keine zufälligen Ereignisse waren. Insbesondere Santillan dürfte aufgrund eines vorausgegangenen Zusammenstoßes ausgewählt worden sein. Als ein Polizeibeamter in Begleitung des Polizeichefs von Avellaneda, Franchiotti erneut auf ihn zukam, kniete er am Boden der Bahnstation von Avellaneda und half dem verwundeten Kosteki.
Auf einem Foto ist zu erkennen, wie Santillan sich den Beamten zuwendet, seinen rechten Arm hebt und schreit: Schießt nicht, schießt nicht!' Dann drehte er sich um und floh. Ein Polizist schoss ihm aus nächster Nähe in den Rücken. Die Beamten zerrten den sterbenden Santillan auf den Gehsteig außerhalb der Bahnstation und lehnten die Leiche von Kosteki mit dem Kopf nach unten an einen Tisch, eine groteske Trophäe. Die Autopsien haben ergeben, dass beide Männer durch von Polizisten abgefeuerte 9mm-Projektile getötet wurden. Keiner von ihnen war bewaffnet. Die Beamten machten zu keinem Zeitpunkt Anstalten, einen Krankenwagen für die beiden zu rufen.
An den Morden waren sowohl Zivilbeamte der Provinzpolizei von Buenos Aires beteiligt, wie auch der Prefectura Naval, einer halb-militärische Einheit, die für die Bewachung von Häfen und Wasserwegen in Argentinien zuständig ist. Ein Film der Demonstration und der Schüsse zeigt auch Zivilbeamte, die die Reihen der Demonstranten infiltriert haben. Diese Agents provocateurs werfen Scheiben ein und begehen andere Gewalttaten, bevor sie sich gegen die Demonstranten richten, ihre Waffen abfeuern und Leute verhaften.
Im Verlauf der vergangenen Wochen haben Regierungsvertreter die politische Stimmung für diese Angriffe vorbereitet, indem sie davor warnten, dass radikale Elemente unter den Demonstranten einen bewaffneten Aufstand organisieren würden. Dabei griffen sie auf die Sprache der Militärjuntas zwischen 1976-83 zurück. So warf der Generalstabchef von Präsident Eduardo Duhalde, Alfredo Atanasof, den die Proteste tragenden Organisationen wiederholt vor, sie würden Chaos' in Argentinien verbreiten.
Diese Vorwürfe waren nicht vollkommen neu. Schon im Januar versuchten die Behörden die Repression gegen Proteste der arbeitslosen Arbeiter im Norden Argentiniens mit der Unterstellung zu rechtfertigen, Guerrillas aus Kolumbien hätten Agenten unter die Arbeiter geschleust.
Seither haben Regierungsvertreter immer häufiger erklärt, es sei nötig, die Provinzpolizei durch Bundesbeamte zu verstärken. Der Armee-Generalstabchef Lt.Gen. Ricardo Brinzoni gab mehrmals zu erkennen, dass das Militär bereit sei, gegen soziale Unruhen vorzugehen. Im Februar versicherte Brinzoni argentinischen Wirtschaftsvertretern in einem Gespräch: "Wir werden alles tun, was notwendig ist", um die Ordnung aufrechtzuerhalten.
Es gibt Berichte, wonach führende Mitglieder des peronistischen Partido Justicialista das Militär zu einem Putsch drängen, entweder um ein Militärregime zu errichten oder um Duhalde in einen "argentinischen Fujimori" zu verwandeln. Der peruanische [Ex-] Präsident Fujimori hatte 1993 den Kongress aufgelöst und diktatorische Vollmachten übernommen. Jede dieser Varianten würde dazu dienen, der argentinischen Gesellschaft die Politik des IWF aufzuzwingen.
Zu denen, die eine "harte Linie" als Antwort auf die sozialen Proteste fordern, gehört der Außenminister Argentiniens, Carlos Ruckauf, ein Veteran des rechten Flügels der Peronisten. Er hatte 1975 ein Dekret unterzeichnet, das die Armee bevollmächtige, zur "Vernichtung der Subversion" an der Repression innerhalb des Landes teilzunehmen. Dieses Dekret trug maßgeblich dazu bei, den Weg zur Militärdiktatur zu ebnen.
Zu den bedrohlicheren Aspekten der Repressionsmaßnahmen vom Mittwoch gehört das Eintreten der Türen in den Lokalen der Kommunistischen Partei/ Vereinigten Linken in Avellaneda. Die Polizei feuerte mehrere Salven Gummigeschosse aus nächster Nähe auf die Insassen und verletzte dabei zahlreiche Menschen. Eine Anzahl von Parteimitgliedern wurde verhaftet. Diese Razzia wurde ohne legale Grundlage durchgeführt und erinnert an die brutalen Repressionstaktiken der Militärjunta.
Beamte der Duhalde-Regierung scheinen eine direkte Rolle bei der Vorbereitung der Morde durch die Polizei gespielt zu haben. Drei Tage vor dem Angriff teilte ein Bundesrichter dem Reporter Miguel Bonaso von Pagina 12 mit, dass die Polizei die gewaltsame Unterdrückung der Proteste auf der Puente Pueyrredon vorbereite und scharfe Munition einsetzen werde. Das deutet darauf hin, dass die Regierung dem Massaker im vornhinein zugestimmt hat.
Als am letzten Mittwoch die ersten Demonstranten die Brücke von Pueyrredon erreichten, wurden sie bei der vordersten Absperrung von Provinz- und Bundespolizisten durchgelassen und in Richtung der Polizeiabsperrung geschleust, von der aus sie dann attackiert wurden. In diesem Hinterhalt ließ die Polizei die Protestierenden zwischen Tränengaspatronen und Gummigeschossen Spießruten laufen.
Diese Katz-und-Maus-Taktik diente dazu, die Arbeitslosen zu provozieren und in Wut und Panik zu versetzen. Gestürzte oder taumelnde Demonstranten wurden verprügelt und mit scharfer Munition beschossen. Bis zum Samstag gab es noch keine vollständigen Zahlenangaben der Verletzten. Eine vorläufige Schätzung geht von 90 Verletzten aus, davon befinden sich zwei in ernster Verfassung. Zwei weitere werden vermisst, sie sind von der Puente Pueyrredon nicht mehr nach Hause zurückgekehrt.
Zumindest 170 Demonstranten wurden verhaftet, unter ihnen mehrere Verletzte. Sie wurden zur Polizeiwache von Avellaneda verschleppt, wo sie laut Zeugen geschlagen und teilweise gefoltert wurden. Zu den Verhafteten gehören 52 Frauen, sieben von ihnen sind schwanger, und 43 Kinder.
Anfangs lehnten Regierungsvertreter und die Provinzpolizei von Buenos Aires jede Verantwortung für die Todesfälle ab. Sie erklärten, nur Gummigeschosse eingesetzt zu haben. Für kurze Zeit beharrte die Polizei auch darauf, dass sie einen bewaffneten Aufstand vereitelt habe. Dieser Version zufolge haben die Demonstranten mit scharfer Munition einen mörderischen Streit ausgetragen. Doch die Fotos in der Tagespresse von Buenos Aires zeigen eindeutig, dass Dario Santillan hingerichtet wurde.
Nachdem sich die erste offizielle Version als Lüge herausgestellt hatte, erklärte die Regierung, dass eine Gruppe von korrupten Polizisten die Jugendlichen im Zuge eines Rachefeldzuges für ihren Chef Alberto Franchiotti getötet hätten. Franchiotti und drei weitere Beamte unter seinem Kommando wurden wegen des Verbrechens verhaftet. Am Sonntag hat sich nun auch diese Behauptung in Luft aufgelöst, denn die Berichte von Augenzeugen und Pressefotographen belegen, dass die Kugeln, die Kosteki getötet haben, von Einheiten der Bundespolizei und nicht von der Franchiotti unterstehenden Einheit der Provinzpolizei abgefeuert wurden. Außerdem ist auf Videos zu sehen, wie Zivilpolizisten auf Demonstranten schießen.
Diese Zivil-Einheiten - im argentinischen Polizeijargon patotas', Straßen-Rowdys, genannt - sind die direkten Nachkommen der sogenannten Spezialeinheiten', die in den 70er Jahren Oppositionelle der Militärdiktatur kidnappten, folterten, ermordeten und verschwinden' ließen. Auf Filmen über den Zusammenstoß erkennt man auch, wie Zivilpolizisten die Patronenhülsen nach dem Abfeuern wieder aufsammeln, um jeden Hinweis auf den Einsatz von scharfer Munition zu verschleiern.
Maximiliano Kosteki war 23 Jahre alt, er war Künstler und Schriftsteller. Er studierte Keramik, Bildhauerei und Graphik. Er wurde von den Kugeln unterhalb des Herzens getroffen und starb an seinen Verletzungen. Er hatte sich vor zwei Monaten der Arbeitslosen-Bewegung angeschlossen.
Dario Santillan war 21 Jahre alt, er unterstützte das koordinierende Komitee der Arbeitslosen (CTD Anibal Verón). Er war auch aktiv in seiner Nachbarschaft, er beteiligte sich an einer Kampagne für den Aufbau einer Ziegel-Kooperative, welche die Hütten in der Nachbarschaft durch Ziegelauen ersetzen sollte. Seine Freundin Claudia wird demnächst ihr gemeinsames Kind zur Welt bringen. Santillan wurde im unteren Teil des Rückens getroffen, die Kugeln haben eine Arterie durchlöchert. Er ist wie Kosteki verblutet.
Die Wendung der Duhalde-Regierung zu einer neuen harten Linie gegen sozialen Protest hängt mit den Verhandlungen mit dem IWF zusammen. Die Regierung hat bereits signalisiert, dass sie keine Demonstrationen mehr dulden würde, bei denen Strassen und Brücken blockiert werden. Es ist die Absicht der Regierung, dem IWF zu beweisen, dass sie die Opposition der Bevölkerung zu ihrer Wirtschaftspolitik unter Kontrolle kriegen kann.
Die Depression in Argentinien verschlimmert sich; im ersten Vierteljahr 2002 ist das Bruttoinlandsprodukt mit einer Jahresrate von über 16% gefallen. Letzte Woche ist der Vorsitzende der Zentralbank, Mario Blejer, plötzlich zurückgetreten, mit der Begründung, er werde keiner weiteren Runde der Hyperinflation vorstehen, inmitten von Vorhersagen, dass der Wert des Peso kurz davor steht, von einem Peso pro Dollar im Januar auf 7 oder 8 pro Dollar abzustürzen.
Man kann kaum übertreiben, was dieses ökonomische Debakel für die Arbeiterklasse in Argentinien bedeutet. In wenig mehr als einem Jahr hat sich die Zahl der Argentinier, die in Armut leben, verdoppelt. Mehr als 63 Milliarden Pesos auf Sparkonten der Mittelklasse sind verloren gegangen. Grosse Banken stehen kurz vor dem Kollaps, und es ist kein Ende der wirtschaftlichen Depression in Sicht.
Angeekelt von den Morden marschierten zwischen dem 27. und 29. Juni Tausende von Arbeitslosen zum Amtssitz des Präsidenten und forderten das Ende der Duhalde-Regierung.
Am 28. Juni bewegten sich lange Demonstrationsreihen von den Industrievororten, die die Sechs-Millionen-Einwohner-Stadt umgeben, zur Plaza de Mayo, was eine massive Polizeipräsenz zur Folge hatte. Die Polizei verhaftete 30 Demonstranten mit der Behauptung, sie hätten Stöcke, Steine und Molotowcocktails dabei gehabt.
Die Demos krönten einen 24-stündigen, landesweiten Streik der staatlichen Beschäftigten, den die Arbeiter-Zentrale Argentiniens (CTA), die kleinere der beiden Gewerkschaftsverbände, organisiert hatte.