Fischer will Freibrief für Kriegseinsätze

Klage gegen Bundesregierung vor dem Bundesverfassungsgericht

Am 19. Juni hat vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe ein denkwürdiges Verfahren begonnen. Die PDS-Bundestagsfraktion erhob Organklage gegen die Bundesregierung, weil diese wenige Wochen nach Beginn des Kosovo-Kriegs einem neuen strategischen Konzept der Nato zugestimmt hatte, ohne zuvor die vom Grundgesetz vorgesehene Einwilligung des Bundestags einzuholen. Die heftige Gegenreaktion der zur ersten Anhörung geladenen Vertreter der Bundesregierung, Bundesaußenminister Joschka Fischer und Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping, zeigen, dass Grüne und Sozialdemokraten mittlerweile zum Vorreiter des Militarismus in Deutschland geworden sind.

Auf ihrem Gipfel in Washington im April 1999 hatten die Nato-Länder Kampfeinsätze außerhalb des Bündnisgebietes und notfalls ohne Mandat des UN-Sicherheitsrates für legitim erklärt. Zur Stärkung "von Sicherheit und Stabilität" im euroatlantischen Raum, so das Schlusskommuniqué 1999, dürfe sich die Nato "aktiv an Konfliktprävention und Krisenreaktionsaktionen" beteiligen. Damit wurde im Nachhinein die offizielle Begründung für die Luftangriffe auf Serbien geliefert, dem ersten Kampfeinsatz ohne UN-Mandat seit der Gründung des Nato-Bündnisses 1949.

Die Tatsache, dass die Bundesregierung unter die Gipfelerklärung ihre Unterschrift setzte, ohne dafür ein Mandat des Bundestags zu haben, ist der Ausgangspunkt der Klageschrift der PDS, die der Verfassungsrechtler Norman Paech ausgearbeitet hat. Die Entscheidung in Washington bedeute eine grundlegende Wandlung der Nato von einem Verteidigungsbündnis zu einer Organisation, die Einsätze in Drittländern zu ihren Aufgaben zähle, begründete Gregor Gysi in Karlsruhe die Klage. Sie beinhalte eine unzulässige Ausweitung des Bündniszweckes über den Artikel 5 des Nato-Vertrags hinaus, die vom Nato-Vertrag und vom dazu ergangenen Zustimmungsgesetz des Bundestages nicht gedeckt sei. Nach Artikel 59, Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes müssten Verträge, die die politischen Beziehungen Deutschlands regeln, dem Parlament zur Zustimmung vorgelegt werden.

Heftig bestritten dies Bundesaußenminister Fischer (Bündnisgrüne) und Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD). Die Nato-Länder hätten nicht ihren ursprünglichen Vertrag geändert, so Fischer, sondern lediglich eine "neue politische Absprache" getroffen. Solche "politische Absprachen" seien nicht zustimmungspflichtig durch den Bundestag. Minister Scharping stieß ins gleiche Horn: Nicht der "Zweck" des Nato-Bündnisses habe sich geändert, sondern nur das "politische Umfeld". Beide warnten wiederholt vor "verheerenden" außenpolitischen Schäden, falls das Gericht der PDS-Klage stattgebe. Die "außenpolitische Handlungsfähigkeit" und "Glaubwürdigkeit" der Bundesrepublik sei gefährdet, so Fischer.

Als die Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts auf den offensichtlichen Zusammenhang zwischen der neuen Nato-Strategie und dem Kosovo-Krieg verwiesen, erwiderte Fischer mit entwaffnender Logik, der Kosovo-Krieg habe sich nicht auf das neue Strategiepapier stützen können, da er einen Monat vorher begonnen worden sei. Die Außenpolitik müsse auf Entwicklungen wie im Kosovo reagieren können, ohne "gleich völkerrechtlich verbindliche Vertragsänderungen" beschließen zu müssen.

Einige Zeitungskommentare bemerkten süffisant, dass nun SPD und Grüne eine Position verteidigen, die sie Mitte der 90er Jahre noch angeprangert hatten. 1994 hatte die SPD mit Unterstützung der FDP eine Verfassungsklage gegen die Kohl-Regierung wegen der Beteiligung der Bundeswehr am Nato-Einsatz in Somalia angestrengt - im übrigen ein Einsatz mit UN-Mandat. Sie sah ihre parlamentarischen Rechte verletzt. Die Grünen unterstützten die SPD, konnten selbst aber nicht klagen, weil sie zu diesem Zeitpunkt nicht im Bundestag vertreten waren. Die Verfassungsrichter urteilten 1994, dass die Bundeswehr zwar an Nato-Aktionen mit UN-Mandat teilnehmen dürfe, aber dass die konkreten Einsätze jeweils erst vom Parlament genehmigt werden müssten.

In Karlsruhe fragte eine Korrespondentin der Frankfurter Rundschau Joschka Fischer: "Zu Oppositionszeiten haben Sie die Notwendigkeit, das Parlament einzubinden, anders beurteilt!" Darauf Fischer unwirsch: "Es mag ja sein, dass Ihnen die politische Richtung des strategischen Konzepts nicht gefällt, aber das ist etwas ganz Anderes. Wir gehen mit dem strategischen Konzept keine Bindungswirkung ein... Es ist abwegig, wenn behauptet wird, wir würden eine Politik am Parlament vorbei führen. Wir diskutierten sehr intensiv mit dem Parlament über diese Fragen... Im Übrigen entscheidet der Bundestag über jeden Einsatz der Bundeswehr im Ausland.... Da findet nichts im Verborgenen statt."

Fischer mag es bestreiten, so oft er will, aber sein Auftritt vor dem Bundesverfassungsgericht zielt trotzdem darauf ab, in der Frage von Krieg und Frieden "eine Politik am Parlament vorbei zu führen" und damit in dieser entscheidenden Frage jede demokratische Kontrolle über die Regierung auszuschalten.

Seit dem Urteil von 1994 hat der Bundestag zwar die Auslandseinsätze der Bundeswehr debattiert und solchen Einsätzen regelmäßig zugestimmt, aber das war jedes Mal mit innerparteilichen Zerreißproben bei den Grünen und teilweise auch bei der SPD verbunden. Nachdem SPD und Grünen am 16. Oktober 1998 im Bundestag der Beteiligung der Bundeswehr am Nato-Krieg gegen Jugoslawien zugestimmt hatten, kam es auf dem Bielefelder Parteitag der Grünen zu tumultartigen Szenen, bei denen auch Fischer selbst von einem Farbbeutel verletzt wurde. Die Tatsache, dass dieser Krieg unter offensichtlicher Umgehung des Völkerrechts geführt wurde, hat bis in die jüngste Zeit zu heftigen Auseinandersetzungen geführt (siehe: Wachsende Kritik am Kosovo-Krieg der Nato vom 19. Juni 2001).

Um eine breite parlamentarische Mehrheit für solche Einsätze zusammenzubringen, musste die Regierung zu angeblichen Sachzwängen, wie der "Gefährdung der Bündnisfähigkeit Deutschlands", oder einer maßlos übertriebenen, teilweise frei erfundenen Propaganda über Menschenrechtsverletzungen und Völkermord Zuflucht nehmen, wie dies im Kosovo-Konflikt der Fall war. Auch das Wort vom "einmaligen Sündenfall" (Ludger Vollmer) machte damals die Runde.

Eine Ablehnung der PDS-Klage durch das Verfassungsgericht käme der Bundesregierung unter diesen Umständen in zweierlei Hinsicht entgegen: Zum einen könnte sie mögliche Widerstände gegen zukünftige Kriegseinsätze mit dem Hinweis auf die geltende Beschlusslage der Nato zurückweisen, zum anderen wäre sie nicht gezwungen, diese Beschlusslage durch den Bundestag ratifizieren zu lassen - was angesichts der grundsätzlichen Bedeutung der Frage zu neuen Spannungen in der ohnehin angeschlagenen rot-grünen Koalition führen würde.

Fischer und Scharping verlangen eine Abweisung der PDS-Klage, um künftig freie Hand für eine aggressive Außenpolitik ohne Rücksicht auf eine mögliche Opposition im Parlament zu haben. Eine solche Gerichtsentscheidung - sie ist erst im Herbst zu erwarten - wäre auch ein erster Schritt, um das Urteil von 1994 auszuhebeln, das noch eine Entscheidung des Bundestags zu jedem einzelnen Bundeswehreinsatz vorsieht.

Letztlich liegt die schrittweise Ausschaltung jeder parlamentarischen Kontrolle in der Logik der zukünftigen Militäreinsätze selbst, die nicht länger defensiven Zwecken, sondern der Durchsetzung der strategischen und wirtschaftlichen Interessen Deutschlands auf der ganzen Welt dienen. Ein solches aggressives Auftreten verträgt sich nicht mit langwierigen parlamentarischen Prozeduren, es erfordert schnelle und unpopuläre Entscheidungen. Militarismus hat sich noch nie mit Demokratie vertragen und tut es auch heute nicht.

Neu ist, dass die Grünen, die einst Basisdemokratie und Pazifismus auf ihre Fahnen geschrieben hatten, jetzt die Vorreiterrolle bei der Beschneidung der Kontrollrechte des Parlaments übernehmen. Sie werden dabei nicht nur von der SPD voll unterstützt, sondern auch von der konservativen Opposition.

Die Legislative wurde vor dem Verfassungsgericht vom CDU-Politiker Rupert Scholz in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Bundestags-Rechtsausschusses vertreten. Er gab zu Protokoll, dass außer der PDS alle anderen Bundestagsfraktionen ihre Mitspracherechte nicht verletzt sähen. Das Nato-Konzept sei im Plenum "eingehend" beraten und in die Ausschüsse überwiesen worden. Niemand im Bundestag habe ein Interesse gehabt, einen förmlichen Beschluss zu fassen.

Es wäre sicher unverhältnismäßig, diese Selbstzensur des Parlaments auf eine Stufe mit der Zustimmung des Reichstags zum Ermächtigungsgesetz im Jahr 1933 oder der Verabschiedung der Notstandsgesetze durch den Bundestag im Jahr 1968 zu stellen. Beide Beschlüsse hatten eine ganz andere Dimension. Dennoch macht auch dieser jüngste Fall wieder deutlich, dass deutsche Parlamente keine Skrupel kennen, wenn es um die Beschneidung ihrer eigenen Rechte geht.

Was die Klägerin PDS betrifft, so hat sie bereits zu erkennen gegeben, dass sie bei künftigen Bundeswehreinsätzen mit von der Partie sein will. Auf ihrem letzten Parteitag in Cottbus hat sie sich ausdrücklich zur deutschen Nation bekannt und Gregor Gysi hat sich dafür stark gemacht, die bisherige pauschale Ablehnung von Auslandseinsätzen der Bundeswehr zugunsten einer Entscheidung von Fall zu Fall aufzugeben. Es ist höchst fraglich, ob die PDS ihre Organklage gegen die Bundesregierung auch heute noch einreichen würde.

Siehe auch:
Wachsende Kritik am Kosovo-Krieg der Nato
(19. Juni 2001)
Parteitag der Grünen stellt sich hinter Kriegspolitik
( 15. Mai 1999)
Grüne stimmen für Bundeswehreinsatz in Kosovo
( 16. Oktober 1998)
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