Zwei auf der Berlinale herausragende Filme waren das neue Werk des Altmeisters Bertrand Tavernier, (a commence aujourd'hui (Heute beginnt es)und ein neuer Film aus der Türkei, Günese Yolculuk (Reise in die Sonne).
Tavernier, 1941 in Lyons geboren, macht schon seit 35 Jahren interessante Filme, darunter so hervorragende historische Dramen wie Das Leben und sonst nichts(1989) und Kapitän Conan(1996). Seine Spannweite reicht von Round Midnight(1986), der Geschichte eines Jazzmusikers mit Dexter Gordon in der Hauptrolle, bis zu romantischen Komödien wie D'Artagnans Tochter(1994). Mit Heute beginnt es hat sich Tavernier vom historischen Drama auf Breitleinwand verabschiedet und den Alltagssorgen von Leuten wie Du und ich in einer kleinen französischen Stadt zugewandt. Dieser Wechsel war in seinem letzten Werk schon zu spüren, einem Dokumentarfilm über die Lebensbedingungen in Grand Pechers, einem Pariser Vorort mit sozialem Wohnungsbau.
Jener Film hatte einen interessanten Ursprung. 1997 unterschrieb Tavernier als einer von 65 professionellen Filmemachern ein Manifest, das sich gegen das neue französische Ausländergesetz richtete, welches alle Bürger verpflichtete, den Behörden jeden Ausländerbesuch zu melden. Der Minister für Stadt und Integration reagierte auf das Manifest, indem er die Unterzeichner aufforderte, auf Kosten der Stadt einen Monat in Grand Pechers zu leben, um die Probleme besser zu verstehen, die durch die Eingliederung und Integration ausländischer Arbeiter und ihrer Familien entstünden. Tavernier und sein Sohn Nils, der Schauspieler ist, nahmen die Herausforderung an, und das Ergebnis war ein eindringlicher Dokumentarfilm, Jenseits des Stadtrings, der durch das französische Fernsehen populär wurde.
Die Story von Heute beginnt es ist schnell erzählt. Daniel Lefebvre ist der Direktor einer Vorschule in Hernaing, einer kleinen Stadt im Norden von Frankreich. Die Stadt war einmal eine blühende Bergarbeiterstadt, aber heute sind die Zechen geschlossen und die Region ist von Arbeitslosigkeit gezeichnet. Die offizielle Arbeitslosenrate beläuft sich auf 34 Prozent. Lefebvre ist der Sohn eines Bergarbeiters. Eines Tages kommt eine Mutter, Madame Henry, erst spät nach der Schule, um ihr Kind abzuholen. Am Spielplatz angekommen, lehnt sie sich vor, um ihre Tochter zu küssen, - und fällt vornüber, weil sie betrunken ist. Voller Scham flüchtet sie, wobei sie ihre Tochter zurückläßt.
Lefebvres erste Reaktion ist, das Jugendamt anzurufen und um Hilfe zu bitten. Man informiert ihn darüber, daß der soziale Hilfsdienst vollkommen überlastet sei und ihm nicht helfen könne. Lefebvre bringt das Mädchen persönlich zu ihrer Mutter und wird mit dem Schmutz und Elend konfrontiert, in dem die Familie lebt. Madame Henry ist nicht die einzige, die unter solchen Bedingungen leben muß. Lefebvre, der nun etwas tiefer schürft, entdeckt bald, daß sie dieses Los mit vielen Einwohnern der Stadt teilt.
Einer seiner Kollegen erklärt ihm: Auch vor dreißig Jahren waren die Leute hier schon arm, aber wenigsten hatten sie damals Arbeit. Heute sind die Bergwerke geschlossen, und durch die Massenarbeitslosigkeit kommt zu der gewohnten Armut noch Elend und Verwahrlosung hinzu, was sich auch auf die Kinder auswirkt. Ein Kollege sagt zu Lefebvre, er solle nicht so hitzköpfig sein, die Lehrer müßten sich um das Wohl der normalen Kinder kümmern, sie könnten sich nicht mit den Problemfällen abgeben. Lefebvre entgegnet, in seiner Gruppe seien die meisten Kinder Problemfälle.
Auf eigene Faust nimmt er den Kampf auf, um die Dinge zu ändern, wodurch er Streit mit dem Bürgermeister bekommt. Dieser beklagt sich über die Leute, die rechten Parteien ihre Stimme geben, so daß man davon ausgehen kann, daß er Sozialist ist. Aber auf Lefebvres Bitte um eine Erhöhung der finanziellen Mittel jammert er, seine Hände seien gebunden; es sei kein Geld da; er habe den Schaden zu beseitigen, den seine Vorgänger angerichtet hätten, usw. Und dann rückt er mit seiner Meinung heraus, daß es im Grunde nicht so sehr am fehlenden Geld liege, weil in Wirklichkeit die Eltern selbst das Problem seien, die nicht genug Verantwortung für ihre Kinder übernehmen würden.
Der Film berührt flüchtig das Thema Gewerkschaften. Lefebvre ist in seiner Einrichtung das einzige Gewerkschaftsmitglied, und er fragt, warum seine Kollegen nicht eintreten. Die prompte Antwort lautet: Weil die Gewerkschaften nichts für uns getan haben, sie kümmern sich nur um sich selbst und ihre Privilegien, - Ende der Durchsage.
Auf seine Art, und vor allem vom Standpunkt der Interessen einer neuen jungen Generation, ist der Film eine beißende Kritik der Bedingungen, unter denen große Teile der Bevölkerung am Vorabend des 21. Jahrhunderts leben müssen. Der Film bietet keine Wunderheilmittel an, aber er ist eine Huldigung an all' diejenigen, die nicht bereit sind, sich mit der Realität abzufinden.
Taverniers Aufmerksamkeit für die Alltagssorgen der Arbeiter legt den Vergleich mit Ken Loachs Arbeit nahe. Nicht nur die Auswahl der Themen ist bei beiden ähnlich. Tavernier bevorzugt in seinem neuen Film, genau wie Loach, realistische Schauplätze und eine handgeführte Kamera, - in vielen Szenen hält er die Kamera niedrig, um uns das Leben aus dem Blickwinkel eines Kindes zu zeigen. In Bezug auf sein Filmteam ist Tavernier, wiederum wie Loach, gerne bereit, Amateure neben Berufsschauspielern einzusetzen, und er gibt seinen Schauspielern bei der Ausgestaltung ihrer Rollen Raum für Improvisationen.
Im Gegensatz zum harten Naturalismus von Loachs Werk fügt Tavernier jedoch poetische Texte in seinen Film ein, die er mit Bildern der Landschaft in Pastelltönen kombiniert, und wodurch er die Handlung begleitet oder manchmal unterbricht. Die kleinen Widrigkeiten des Alltagslebens nehmen großen Raum ein: "Warum weigert sich ein Kind plötzlich, in der Frühstückspause sein Butterbrot zu essen, obwohl es das vorher immer getan hat?" Die lyrischen Passagen weisen darauf hin, daß das Leben nicht nur aus dem Überlebenskampf besteht, nicht einmal für diejenigen, die ganz unten sind. Wenn auch nur unterschwellig, wird doch spürbar, daß es noch etwas anderes, Wertvolleres, Phantastisches und Kreatives jenseits der stumpfsinnigen Brot-und-Butter-Fragen gibt. Tatsächlich besteht oftmals die einzige Möglichkeit, der tagtäglichen Tretmühle zu entfliehen, darin, daß sich ein kleiner Teil des Gehirns plötzlich selbständig macht, zu spekulieren beginnt und sich etwas ganz Anderes erträumt, etwas Außerordentliches, manchmal gar etwas Phantastisches.
Tavernier hat versucht, solchen Vorgängen in seinem neuen Film Raum zu geben, und das verdient Anerkennung. Während im Filmgeschäft viele seiner Zeitgenossen der sozialen Realität schon längst den Rücken gekehrt haben (in Taverniers eigenen Worten ist für viele französische Filmemacher "die Realität nicht mehr modern"), ist sein Film über die Notwendigkeit und Würde des Widerstands und seine Postulat für die Rechte der Kinder ein erfrischendes Gegengift.
Günese Yolculuk (Reise in die Sonne) ist der zweite Film der jungen türkischen Regisseurin Yesim Ustaoglu, und eine eindringliche Darstellung des Lebens sowohl der Türken als auch der Kurden in der heutigen Türkei. Mehmet ist ein junger Türke, der vom Land wegzieht, um sein Glück in Istanbul zu versuchen. Er arbeitet für die Stadtverwaltung, er muß Lecks in den Rohren der Wasserversorgung aufspüren, und umwirbt ein junges Mädchen, die in einer Wäscherei arbeitet. Im Verlauf einer Schlägerei nach einem Fußballspiel springt Mehmet Berzan zu Hilfe, einem Kurden, der von einem chauvinistischen Mob junger Türken bedrängt wird. Die zwei flüchten zusammen, und eine Freundschaft entsteht. Berzan ist politisch aktiv, er kämpft für die kurdische Unabhängigkeit. An einem Stand auf dem Marktplatz beim Hafen verkauft er Musikkassetten, und er schenkt seinem neuen Freund eine Kassette mit kurdischer Musik.
Im Verlauf einer Polizeirazzia wird Mehmet beschuldigt, Besitzer einer Tasche voller Waffen zu sein, die in seinem Reisebus gefunden wird. Er wird verhaftet und handgreiflich von der Polizei verhört. Zusätzlich zur Waffentasche besteht Mehmets Verbrechen darin, daß seine Haut eine Spur dunkler als bei Türken üblich ist. Außerdem besitzt er eine Kassette mit kurdischer Musik. Er wird als kurdischer Terrorist bezichtigt und brutal zusammengeschlagen. Wieder auf freien Fuß gesetzt, kehrt er in seine Bude zurück, die er mit drei andern Männern teilt. Jemand hat ein rotes Kreuz an die Tür gepinselt zum Zeichen, daß hier ein Kurde lebt. Aus Angst vor Repressalien setzen Mehmets Zimmergenossen ihn unter Druck, auszuziehen. Mehmet wird nun auch von seinem Arbeitgeber entlassen, und ohne Arbeit und Obdach wendet er sich an seinen kurdischen Freund. Im Hintergrund hört man eine Radioreportage über den Hungerstreik der Kurden im Gefängnis.
Während einer Demonstration kommt es zu einer blutigen Konfrontation mit der Polizei, und Berzan wird getötet. Mehmet unternimmt es nun, ganz alleine den Sarg seines Freundes in dessen Heimat zu bringen. Und so beginnt das letzte Drittel des Films - eine Reise unter der brütenden Sonne durch die zerstörten Dörfer des kurdischen Anatolien im Südosten der Türkei. Türkische Armee-Einheiten patrouillieren auf der Straße, und ihre Panzer rumpeln über die Ruinen kurdischer Läden und Häuser hinweg, an deren Wände das unvermeidliche rote Kreuz geschmiert wurde. So auch in Berzans eigenem Dorf.
Yesim Ustaoglu konnte für ihre Dreharbeit mit keinerlei finanzieller Unterstützung aus türkischen Quellen rechnen. Das Geld für den Film wurde durch ein Konsortium europäischer Film- und Fernsehgesellschaften aufgebracht. Und Reise in die Sonne ist nach langem der erste türkische Film, in dem man zuweilen auch die kurdische Sprache hören kann. Der letzte türkische Film, der kurdische Dialoge enthielt, war der mehrfach preisgekrönte Film Yol (Der Weg)des Filmemachers Yilmaz Güney, der 1982 die Goldene Palme in Cannes gewann. Yol wurde erst vor kurzem zum Erstenmal im türkischen Kino gezeigt.