Im Brennpunkt imperialistischer Intrigen

Der Bürgerkrieg in Afghanistan flammt wieder auf

In Afghanistan sind heftige Kämpfe zwischen der fundamentalistisch-islamischen Taliban-Miliz und oppositionellen Truppen unter Ahmad Shah Masud ausgebrochen. In den vergangenen drei Wochen haben die Auseinandersetzungen bereits mehrere hundert Menschen das Leben gekostet und zehntausende in die Flucht getrieben. Möglicherweise werden die Auseinandersetzungen auf Nachbarländer übergreifen und Großmächte zur Intervention veranlassen, womit ein weitaus umfassenderer regionaler Konflikt auf der Tagesordnung stünde.

Die Zusammenstöße begannen am 28. Juli, als die Taliban-Regierung unter Einsatz von Panzern, Artillerie und Kampfflugzeugen gegen die verbliebenen Stützpunkte Masuds vorging - im Pandscher-Tal rund 80 km nördlich der Hauptstadt Kabul, und in den beiden nordöstlichen Provinzen. Nach anfänglichen Erfolgen der Taliban ging Masud zum Gegenangriff über, eroberte Städte in den Shomali-Ebenen nördlich von Kabul zurück und stellte seine Verbindungslinien in das nördlich benachbarte Tadschikistan wieder her. Jüngsten Berichten zufolge scheint sich das Blatt allerdings mittlerweile wieder zugunsten der Taliban zu wenden.

Einige Beobachter sprechen von bis zu 1000 gefallenen Soldaten. Die Schätzungen über die Zahl der Flüchtlinge schwanken zwischen 100.000 und 300.000. Nach Angaben der UN trafen allein Ende vergangener Woche innerhalb von zwei Tagen rund 10.000 Menschen in Kabul ein. Viele waren halb verdurstet, vollkommen erschöpft und trugen nur wenige Habseligkeiten mit sich. Die UN konnten eigenen Angaben zufolge auch Berichte bestätigen, dass die Taliban in einigen Gebieten, die von der Opposition kontrolliert wurden, die Bewohner aus ihren Dörfern vertrieben und ihre Häuser niedergebrannt haben.

Die in Paris ansässige Wohlfahrtsorganisation Medicins du Monde veröffentlichte vergangenen Freitag einen Spendenaufruf, um Nahrungsmittel für die rund 150.000 Afghanen zu beschaffen, die sich vor den Kämpfen in das Pandscher-Tal geflüchtet hatten. Ihr Sprecher Guy Cuasse erklärte, die verarmte Bevölkerung in diesem Tal sei nicht in der Lage, die große Zahl der Flüchtlinge zu verpflegen. Weitere 200.000 bis 300.000 Menschen hätten sich in Richtung Norden auf die Flucht begeben.

Die Flüchtlingswelle wird die wirtschaftliche und soziale Krise des Landes noch verschärfen. Anfang Juni hatte ein Bericht der Welternährungsorganisationen FAO und WFP vorausgesagt, dass aufgrund eines starken Rückgangs der Getreideproduktion mehr als eine Million Menschen in Afghanistan in den kommenden anderthalb Jahren auf Hilfsprogramme angewiesen sein würden. Die FAO/WFP schätzt, dass aufgrund schlechter Wetterverhältnisse, zunehmenden Schädlingsbefalls und verstärkten Anbaus lukrativerer Produkte der Getreide-Ertrag in diesem Jahr um 16 Prozent zurückgehen wird.

Die Taliban, die gegenwärtig mehr als 80 Prozent des Landes kontrollieren, begannen ihre Offensive, nachdem Gespräche unter Schirmherrschaft der UN in der usbekischen Hauptstadt Taschkent vergangenen Monat keine Einigung gebracht hatten. An den sogenannten Sechs-plus-Zwei-Verhandlungen hatten Vertreter der sechs Nachbarstaaten Afghanistans - Iran, China, Pakistan, Tadschikistan, Usbekistan und Turkmenistan - sowie Russlands und der USA teilgenommen.

Am 5. August verurteilte der UN-Sicherheitsrat die Offensive, forderte ein Ende der Kämpfe sowie die Wiederaufnahme der Gespräche und drohte mit Sanktionen. Die UN äußerten in einer Erklärung ihre Besorgnis aufgrund von "Berichten über massive ausländische Unterstützung" für die Taliban-Offensive. Vergangenen Freitag forderte der UN-Generalsekretär Kofi Annan alle Nachbarstaaten Afghanistans auf, sich zur Nichteinmischung in den Bürgerkrieg zu verpflichten, da ansonsten ein "transnationaler Konflikt" drohe.

Diese Verlautbarungen richten sich u.a. gegen die pakistanische Regierung, eine der wenigen, die das Taliban-Regime offiziell anerkennen. Obwohl Islamabad jede Unterstützung für die Regierung in Kabul abstreitet, ist es ein offenes Geheimnis, dass die Taliban in Pakistan Mitglieder für ihre Miliz anwirbt und von pakistanischen Geheimdienstlern sowie "pensionierten" Militärs Unterstützung und Ausbildung erhält.

Die Taliban hatten im September 1996 mit Unterstützung Pakistans und der verhaltenen Zustimmung Washingtons in Kabul die Macht an sich gerissen. Sie waren ursprünglich unter Studenten islamischer Hochschulen in Pakistan entstanden. Nachdem sie die Regierung unter Präsident Burhannudin Rabbani vertrieben hatten, führten die Taliban ihre Version einer zutiefst konservativen islamischen Gesetzgebung ein. Als zugelassene Strafen gelten seither öffentliche Hinrichtungen und Amputationen. Frauen und Mädchen erhalten keinen Zugang zu Bildung oder zur Arbeitswelt und nur eine eingeschränkte medizinische Versorgung. Fernsehen, Film und Pop-Musik sind verboten.

Während sich die Taliban auf die Paschtunen und die sunnitische Richtung des Islam stützen, basiert Masuds Nordallianz hauptsächlich auf der Volksgruppe der Tadschiken in Afghanistan. Vor der letztjährigen Offensive der Taliban, in der diese die wichtigen nördlichen Städte Maimana, Shiberghan und Mazar-if-Sharif eroberten, hatten noch weitere Gruppen zur Opposition gehört: die Jombesh-i-Isami, die unter Teilen der usbekischen Minderheit verwurzelt sind, und die Hezb-i-Wahdad von der Volksgruppe der Hazaris, die überwiegend der schiitischen Richtung des Islam angehören. Heute führt Masud, der frühere Verteidigungsminister der Rabbani-Regierung, die wichtigste Opposition gegen die Taliban.

Die USA wenden sich gegen den Vorstoß der Taliban

Die Clinton-Regierung sprach sich in scharfer Form gegen die jüngsten militärischen Vorstöße der Taliban aus. Am 3. August erklärte der Sprecher des Außenministeriums James Rubin, die USA seien "tief betroffen", dass die Taliban "nach ihrer Zustimmung zu einer friedlichen Lösung... umgehend zur Schlacht rüsteten und weitere militärische Schritte unternahmen". Die Taliban, fuhr er fort, "unterliegen einer Täuschung", wenn sie meinten, den Bürgerkrieg gewinnen zu können - eine kaum verhüllte Drohung.

Militär und Geheimdienst der USA hatten gemeinsam mit Pakistan eine große Rolle dabei gespielt, die aus den zahlreichen Exil-Afghanen rekrutierten Mujaheddin-Kämpfer zu bewaffnen, zu finanzieren und auszubilden, die im Jahr 1992 schließlich die einst von der Sowjetunion gestützte Regierung unter Präsident Najibullah stürzten. Doch die alten Allianzen aus den Zeiten des Kalten Krieges - ein von den USA unterstütztes Pakistan und ein mit der Sowjetunion verbündetes Indien - zerbrechen zusehends, da die Großmächte neue strategische Interessen verfolgen.

Die USA hatten sich der Unterstützung Pakistans für die Taliban ursprünglich nicht in den Weg gestellt, überwarfen sich aber in jüngerer Zeit mit dem Regime in Kabul. Insbesondere warfen sie ihm vor, Osama bin Laden Zuflucht zu gewähren, den sie für die Bombenangriffe auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania im vergangenen Jahr verantwortlich machen. Die Clinton-Regierung befahl daraufhin im vergangenen August Raketenangriffe auf angebliche Ausbildungslager bin Ladens in Afghanistan und forderte die Taliban auf, den Millionär aus Saudi-Arabien an die Behörden der USA auszuliefern.

Am 6. Juli verhängte die Clinton-Regierung Wirtschafts-Sanktionen gegen Afghanistan, womit amerikanischen Firmen Handel und Investitionen untersagt wurden. Im August wurden dann die Einlagen der USA an der staatlichen Luftfahrtgesellschaft Ariana Afghan Airlines eingefroren. Die Zeitungen Pakistans und Saudi Arabiens spekulieren darüber, ob Sondereinsatztruppen der USA in Peschawar in Nordpakistan die Ergreifung bin Ladens vorbereiten - was die Regierung in Islamabad bestreitet. Die Partei Jamiat-e Ulema Islami (JUI) in Pakistan, die eng mit den Taliban zusammenhängt, hat bereits einen "Krieg gegen Amerikaner" angedroht, sollten die USA innerhalb Afghanistans militärisch aktiv werden.

Hinter der Forderung der USA nach der Auslieferung bin Ladens stehen allerdings umfassendere Anliegen. Ebenso wie Russland, China und die europäischen Mächte befürchtet die Clinton-Regierung, dass ein Sieg der fundamentalistischen Taliban in Afghanistan die gesamte Region destabilisieren würde, insbesondere die Republiken Zentralasiens, die im Zentrum der Begierden amerikanischer, europäischer und japanischer Konzerne stehen, da sie über umfangreiche Reserven an Gas, Öl und Mineralien verfügen.

Das Far Eastern Economic Review erschien am 5. August mit einem Leitartikel unter dem Titel "Das Herz der Finsternis", der aus der zunehmend feindseligen Einstellung der Großmächte gegenüber Kabul kein Hehl machte: "Während die Taliban eine neue Offensive gegen die oppositionellen Kräfte unternehmen, ist nicht zu übersehen, dass von diesem islamischen Regime eine Bedrohung der regionalen Stabilität ausgeht. Die Terroristen, die in praktisch jedem zentralasiatischen Land die Regierungen bekämpfen, finden bei den Taliban Unterschlupf. Ein ebenso gefährliches Nebenprodukt sind die kriminellen Wirtschaftsstrukturen, die, von den Taliban unterhalten, die gesamte Region mit Waffen und Drogen beliefern."

Diesem Artikel zufolge ist Afghanistan zum Zufluchtsort für "bewaffnete Aufständische" geworden, denen "Terroranschläge in China, Iran, Usbekistan, Tadschikistan und Pakistan" zur Last gelegt werden. Rund 400 arabische islamische Kämpfer aus einem Dutzend Staaten des Nahen Ostens und Afrikas sollen der von Osama bin Laden finanzierten Brigade 055 angehören, die in der gegenwärtigen Offensive auf Seiten der Taliban kämpft. "Die verschiedenen Gruppen haben jeweils eigene Ziele, die sich vor allem gegen die Regierungen in ihren Heimatländern richten, einige teilen aber auch bin Ladens Streben nach einer weltweiten islamischen Revolution. Das so entstandene Netz gefährlicher Freundschaften droht das gesamte mineralienreiche und wirtschaftlich unterentwickelte Hinterland Zentralasiens mit Instabilität zu überziehen."

Der Artikel ist derart mit Gerüchten und Zitaten aus nicht näher spezifizierten Quellen gespickt, dass es schwer fällt, zwischen Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden. Fest steht jedenfalls, dass die islamischen Gruppen eine Bedrohung der instabilen Regierungen darstellen, die in den frühen neunziger Jahren nach dem Zerfall der ehemaligen Sowjetunion in Zentralasien an die Macht gekommen sind. Zweifellos unterhalten einige von ihnen auch Verbindungen zu islamischen Fundamentalisten innerhalb Afghanistans. Es wäre auch keine Überraschung, wenn das Taliban-Regime oppositionelle Gruppen in Usbekistan und Tadschikistan unterstützen würde, da die dortigen Regierungen ihrerseits Masuds Truppen in Afghanistan militärische Hilfe leisten.

Wenn jedoch die internationalen Medien hinter jedem regionalen Konflikt von Dagestan bis Kaschmir, von den islamischen Rebellen in Zentralasien bis Westchina die Hand der Taliban oder insbesondere bin Ladens erkennen wollen, dann deutet dies darauf hin, dass hier eine Rechtfertigung für ein direkteres Eingreifen der USA und anderer Großmächte in Afghanistan und den zentralasiatischen Republiken gebastelt werden soll. Immerhin hat die Clinton-Regierung bereits Cruise Missiles auf von den Taliban kontrollierte Gebiete in Afghanistan abgefeuert.

Im Rahmen der NATO beteiligen sich die USA an militärischen Hilfsprogrammen für einige Nachbarstaaten Kabuls in Zentralasien, obwohl diese offiziell immer noch der von Russland dominierten Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) angehören. Im Mai berichtete Radio Free Europe über den Besuch einer US-Delegation unter Stephen Sestanovich, dem Sonderbeauftragten des Außenministeriums für die GUS, in der usbekischen Hauptstadt Taschkent. Dort wurden Sicherheitsabkommen unterzeichnet - eines über die "Bekämpfung des Terrorismus", und ein zweites über Zusammenarbeit zwischen dem Pentagon und dem usbekischen Verteidigungsministerium. Im Rahmen des NATO-Programms "Partnerschaft für den Frieden" nehmen US-Soldaten seit zwei Jahren an Übungen in Zentralasien teil, und usbekische Truppen, Teil eines Zentralasiatischen Bataillons zur Friedenssicherung, sollen zu weiteren Ausbildungsmaßnahmen in die USA fliegen.

Angesichts riesiger potentieller Profite aus der Ausbeutung der Öl- und Gasreserven Zentralasiens sorgen sich die maßgeblichen Konzerne offenkundig um die politische Stabilität dieser Region. Sie ist wirtschaftlich rückständig und wird von ethnischen und religiösen Streitigkeiten geplagt, die von herrschenden Cliquen aus ehemaligen stalinistischen Bürokraten, aufstrebenden Unternehmern und Kriminellen im eigenen Interesse ausgenutzt werden. Tadschikistan wurde bereits von einem fünfjährigen Bürgerkrieg heimgesucht, der erst 1997 zu Ende ging. In der usbekischen Hauptstadt Taschkent kam es in diesem Jahr zu einer Serie von Sprengstoffanschlägen, die Verhaftungs- und Repressionswellen nach sich zogen.

In dieser schwankenden und instabilen Lage versuchen die wichtigsten Mächte ihre eigenen strategischen Interessen zu wahren. Die Feindschaft gegen das Taliban-Regime könnte zur Achse werden, um die sich dabei neue Allianzen formieren. Ein erstes Abrücken der US-Regierung von Pakistan, das die Möglichkeit einer engeren Zusammenarbeit zwischen den USA und Indien in weiteren Fragen von beiderseitigem Interesse - darunter auch die Taliban-Regierung - nahe legt, deutete sich bereits bei den militärischen Zusammenstößen um die Region Kargil in Kaschmir an.

In dieser Hinsicht ist aufschlussreich, dass die Times of India im Juli meldete, die indischen Geheimdienste hätten ein "starkes Interesse" an der Ergreifung bin Ladens. Nach dem Hinweis, dass der "zum Terroristen gewandelte saudische Milliardär" zu den zehn meistgesuchten Personen der USA zähle, bemerkte die Zeitung: "Hochrangige Quellen äußerten, dass die [indischen] Geheimdienste mit ihren westlichen Partnern in Verbindung stehen, da bin Ladens Ausbildungslager auch für sie von großem Interesse sind... Hohe Beamte der Geheim- und Sicherheitsdienste erklärten, dass die Ergreifung bin Ladens ein schwerer Schlag gegen den Aufstand in Kaschmir wäre."

Afghanistan und die nordwestlichen Grenzgebiete des heutigen Pakistan waren während des vergangenen Jahrhunderts lange Zeit Schauplatz diplomatischer Manöver und Intrigen gewesen. Außerdem kam es dort zu militärischen Invasionen und "Strafexpeditionen" Großbritanniens gegen aufmüpfige Stämme. Rudyard Kipling gab der heftigen Rivalität zwischen Großbritannien und Russland um die strategische Kontrolle über die Region ihren Namen: das Great Game. Hundert Jahre später, zum Ende des Kalten Krieges, werden wir Zeuge seiner Wiederbelebung in moderner Form. Die Spieler und ihr relatives Gewicht haben sich geändert, aber der Zynismus und die Brutalität, mit der sie ihre Interessen verfolgen, ganz egal, was es für das Leben der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit bedeutet, sind dieselben geblieben.

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