Sehr geehrter Herausgeber,
was die Bombardierung Serbiens durch die NATO angeht, so befinde ich mich ausnahmsweise in völligem Gegensatz zur Stellungnahme Ihrer Redaktion. Ungeachtet dessen, daß Sie in zahlreichen Artikeln zu verschiedenartigen Themen einer Art Verschwörungstheorie huldigen, stimme ich im allgemeinen zu mindestens 75 Prozent mit Ihren Fragen, Analysen und Standpunkten überein. Doch in diesem Falle kommt es mir vor, als hätten Sie das Kind mit dem Bade ausgeschüttet.
Es stimmt natürlich, daß die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich imperialistische Nationen sind. Und es stimmt auch, daß sie in beinahe jeder außenpolitischen Frage, die Sie anführen - von den Kurden zu den Timoresen, vom Irak bis Israel, Grenada und Panama - strotzen vor Heuchelei und Scheinheiligkeit. Aber das ändert nichts an der Tatsache, daß sie mit Sicherheit das Richtige tun, wenn sie jetzt (endlich!) Milosevics Serbien angreifen, um den Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die sein Regime und die serbische Nation im Kosovo verüben, einen Riegel vorzuschieben. Gerade weil sie Imperialisten und Heuchler sind, haben die NATO-Mächte jahrelang, bis zum 24. März nichts unversucht gelassen, um jedem Konflikt mit Milosevic auszuweichen, von dem sie dummerweise annahmen, er könne für ihre Interessen in der Region benutzt werden.
Während ich dies schreibe (30. März), liegt vor der gesamten Welt offen zutage, daß das serbische Regime die "ethnische Säuberung" der Kosovo-Albaner seit langem geplant hatte. Sie findet gegenwärtig beschleunigt statt, nachdem sie während der letzten zwölf Monate langsam und stückweise betrieben worden war. Obwohl angesichts der fehlenden raschen Bodenoffensive gegen die Serben wenig Aussicht auf unmittelbare Hilfe für die Albaner besteht, gibt es auf lange Sicht keine andere Möglichkeit als militärische Gewalt, um sie zu retten und der Aggression der Serben gegen ihre Nachbarn dauerhaft Einhalt zu gebieten. Und wenn die serbische Regierung angesichts der Bombardements rein militärischer Ziele nicht nachgibt, dann sollten und werden die Angriffe zweifellos auf wirtschaftliche Ziele und auch auf die zivile Infrastruktur ausgeweitet werden - auf Kraftwerke, Fabriken, Ministerien etc.
Milosevic begann seinen Aufstieg zur Macht, indem er den starken mystischen, fanatischen Nationalismus aufgriff und legitimierte, der während Titos jahrzehntelanger Herrschaft in Jugoslawien unterdrückt worden war. 1989 hielt er in diesem Ton eine Rede an die Kosovo-Serben. Ihr folgten rasch eine Reihe weitreichender Schritte, die innerhalb von vier Jahren zur Zerstörung des jugoslawischen Bundesstaates führten.
Zu diesen Schritten gehörte unter anderem, daß der Region Kosovo der offizielle Autonomiestatus entzogen wurde, den sie unter Tito erhalten hatte. Staatliche Mittel für albanische Schulen und kulturelle Einrichtungen wurden stark zurückgenommen, Albaner in Massen aus staatlichen und nicht-staatlichen Stellen entlassen, und schließlich wurden die Versuche der Albaner, ihre kulturelle Autonomie und Identität zu erhalten, mit Gewalt niedergeschlagen. All dies geschah, so muß man annehmen, um Milosevics Popularität in der Serbischen Republik zu steigern, wo er nach kurzer Zeit seinen Freund und Mentor, Ivan Stambolic, als Parteivorsitzenden und Präsidenten der Republik ablöste.
Gleichzeitig beanspruchte Milosevic im Rat der jugoslawischen Föderation jene Sitze für sich, die zuvor den autonomen Regionen Kosovo und Wojwodina zugestanden hatten. Dadurch gewann Serbien eine unverhältnismäßige Macht, was wiederum die anderen Republiken der Föderation (insbesondere Slowenien und Kroatien) beunruhigte und zum wichtigsten Auslöser für das Auseinanderbrechen des Bundesstaates wurde.
In den folgenden Kriegen in Bosnien und Kroatien unterstützte die serbische Republik aktiv die serbischen Truppen vor Ort. Obwohl diese Unterstützung damals nicht öffentlich bekannt gegeben wurde und vielen außerhalb der Region nicht bekannt war (auch mir nicht), ist sie seither als Tatsache jener Kriege dokumentiert worden. Karadzic, der Führer der bosnischen Serben und berüchtigte Kriegsverbrecher, war Milosevics Günstling in Bosnien, wie auch der verrufene Arkan und weitere Milizführer, die einen großen Teil Verantwortung für die Schlächterei tragen.
Kommen wir zum Kosovo, wo die albanische Gemeinschaft im vergangenen Jahrzehnt politisch darum kämpfte, mittels des passiven Widerstands ihre kulturelle Identität zu erhalten. Diese Kampagne war ungeachtet heftiger und unablässiger serbischer Unterdrückung nach wie vor im Gange, als 1997 im Kosovo die UCK entstand, die für den bewaffneten Kampf als einzigen Weg zur Freiheit für die 90 Prozent der Einwohner des Kosovo eintrat, die Albaner sind.
Die Reaktion der serbischen Polizei und des serbischen Militärs war brutal und rücksichtslos. Im März 1998 hatte sie sich bereits zu einer offenen "ethnischen Säuberung" ausgewachsen. Dörfer wurden beschossen und niedergebrannt, die Zivilbevölkerung massakriert oder zur Flucht gezwungen. Diese Kampagne hielt ohne Unterbrechung bis zum Oktober an, dann ließ sie etwas nach, nachdem Milosevic einer erzwungenen Reduzierung der Truppen und der Stationierung von 1400 unbewaffneten OSZE-Beobachtern im Kosovo zugestimmt hatte.
Über den Winter hinweg blieb die Lage relativ - wirklich nur relativ - ruhig, aber als im Februar die Verhandlungen in Rambouillet begannen, hatte sich Milosevic bereits systematisch dreist über die Beschränkung der Truppenstärke hinweggesetzt und zog immer mehr Soldaten im Kosovo oder in seiner Nähe zusammen. Diese Truppen nahmen die gewaltsame Verfolgung der Albaner wieder auf, stets unter dem Deckmantel des Kampfs gegen die UCK-"Terroristen", und immer wurden wie üblich bewußt und gezielt die Männer im wehrfähigen Alter hingerichtet, Frauen, Kinder und alte Leute willkürlich niedergemetzelt und Häuser und Dörfer systematisch zerstört.
Nachdem man Serbien mit Luftschlägen gedroht hatte, falls die Gewalttaten weitergingen und die Albaner dem vorgeschlagenen Pakt zustimmten, fand sich die NATO in die Ecke gedrängt, als Milosevic die Gewalt steigerte, nachdem das Rambouillet-Abkommens, auf dem nur Milosevics Unterschrift fehlte, gescheitert war. Nach einigen weiteren Tagen des diplomatischen Tauziehens rafften sich die NATO-Länder endlich auf und begannen in der Nacht des 24. März (Ortszeit) mit der Bombardierung.
Wir mögen uns noch so sehr über die Heuchelei, Heimtücke und andere Mängel der Vereinigten Staaten oder der übrigen führenden imperialistischen Mächte empören, die Sorge um das unterdrückte albanische Volk des Kosovo wiegt schwerer. Man kann lange argumentieren, daß das Volk Serbiens nicht wisse, was Milosevic tue. Doch man kann die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß er es in ihrem Namen tut, und daß es von ihren Männern, Söhnen und Brüdern getan wird. Und man kann sich noch so sehr auf eine zweifelhafte "Souveränität" berufen, es ändert nichts an der Verpflichtung der Zivilisation, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu unterbinden.
Und zu guter letzt, was ist die Alternative? Noch Wochen und Monate zu "verhandeln", während der Völkermord weitergeht? Einfach alles hinschmeißen und sagen, es ist sowieso egal? Da die Serben entschlossen scheinen, den größten Terror gegen eine europäische Bevölkerungsgruppe seit den Deutschen unter Hitler auszuüben, egal was passiert, wird dies zweifellos mit einem gedemütigten serbischen Staat enden, dem kleinsten seit dem Ende der osmanischen Herrschaft über den Balkan. Leider reagieren die Serben unter Milosevic, ebenso wie die Deutschen unter Hitler, nur auf Gewalt. Wie die Deutschen haben die Serben in Serbien jahrelang in völliger Sicherheit gelebt, abgeschottet von der Gewalt der Kriege, die, angezettelt von ihren Führern, um sie herum unkontrolliert aufloderten. Es ist Zeit, daß der Krieg ins eigene Land geholt wird, wie wir während unserer Proteste gegen den Vietnamkrieg zu sagen pflegten.
P. Harris