Im August dieses Jahres kam es zu einer außergewöhnlichen Häufung von Familientragödien in Deutschland. Die traurige Bilanz sind 19 Tote, darunter 13 Kinder.
Auslöser der Taten waren meist finanzielle Probleme der Betroffenen, Armut und depressive Erkrankungen. Doch hinter den Tragödien stehen nicht nur individuelle Schicksale, ihre Häufung hat auch gesellschaftliche Ursachen. Immer mehr Familien geraten in eine prekäre Lage, sind vom gesellschaftlichen Absturz bedroht und betrachten ihre Lage als aussichtlos. Entsprechend erhöht sich der soziale und psychische Druck.
Die jüngste Tragödie ereignete sich am 21. August in Berlin. Im westlichen Stadtteil Gatow vergiftet und erstickt ein 69-jähriger Familienvater seine junge Frau und seine zwei kleinen Söhne. In seinem Abschiedsschreiben gibt er an, er handle „in voller Verantwortung, bei vollkommen klarem Verstand“ und aus “großer Liebe und Verzweiflung“.
Wie inzwischen bekannt wurde, litt die Familie unter hohen Schulden. „Mehrmals sagte meine Frau, dass wenn die Kinder nicht wären, sie schon längst aus dem Fenster gesprungen wäre ...“, so der Vater in seinem Brief.
Die elf Monate alte Tochter des Paares legt der Mann in die Babyklappe des Waldkrankenhauses Spandau: „Sie soll eine Chance haben, unter liebevollen Ersatzeltern vielleicht doch eine unbelastete Zukunft haben zu können“, schreibt er. Seine Verzweiflungstat begründet der Familienvater mit den Worten: „Unsere Gesellschaft hat für Versager nur ‚den Platz unter der Brücke’.“
Das Berliner Familiendrama reiht sich ein in eine Kette von sechs weiteren Fällen in Nordrheinwestfalen und Bayern.
Am 20 August wird eine 26 Jahre alte Mutter zusammen mit ihrem vierjährigen Sohn und ihrer achtjährigen Tochter in Neuss (NRW) erschossen. Der Schütze ist vermutlich der Ehemann und Vater, der im schlecht bezahlten Backgewerbe gearbeitet haben soll.
Am 18. August erstickt eine Mutter in Emmering in der Nähe von München ihre beiden Söhne und erhängt sich anschließend selbst. Der Ehemann entdeckt die Leichen. Laut Berichten der Abendzeitung München stand das Paar finanziell in der Krise. Die Frau soll in dem kleinen Dorf als Kindergärtnerin gearbeitet haben.
Ebenfalls in Bayern erwürgt am 12. August ein 44-jähriger Handwerker seine beiden Buben und erhängt sich anschließend an einem frei stehenden Bagger. Laut Ermittlern ist das Motiv in „den schwierigen Familienverhältnissen“ zu suchen.
In Essen ersticht am 11. August eine Mutter (41) ihre eigene Tochter (7). Anschließend fügt sich die Frau schwere Schnittverletzungen am Hals zu und verblutet noch im Bett ihres Kindes. Die allein stehende Mutter litt unter schweren Depressionen und befand sich in ärztlicher Behandlung. Laut Zeitungsberichten konnte die gelernte Goldschmiedin und Grafikerin aus ungenannten Gründen ihrem Beruf nicht nachgehen. Nachbarn berichten, die Mutter habe sich „rührend um ihre kleine Tochter gekümmert“.
In Oberhausen ersticht am 9. August ein 27-Jähriger den 8-jährigen Sohn seiner Partnerin. Der Mann soll in einem Wettbüro gearbeitet und unter Depressionen gelitten haben.
In Dortmund finden Einsatzkräfte am 3. August in einer ausgebrannten Wohnung die Leichen zweier Kinder im Alter vier und zwölf Jahren. Ein zehnjähriger Junge verstirbt nach kurzer Zeit im Krankenhaus. Wie sich später heraus stellt, starben alle drei Kinder durch eine Gewalttat. Die Ermittler gehen von einer Familientragödie aus. Verdächtig ist die Lebensgefährtin des Vaters. Sie wurde inhaftiert, bestreitet aber die Tat. Die Mutter der Kinder war schon vor drei Jahren durch einen Sturz aus dem Fenster ums Leben gekommen, als sie ein anderes ihrer Kinder retten wollte.
Auffällig an den Fällen im August ist, dass alle Opfer aus armen Verhältnissen stammen oder unter hohen Schulden litten. Hinzu kommen bei einigen prekäre Arbeitsverhältnisse, Arbeitslosigkeit und das Gefühl, von der Gesellschaft als „Versager“ behandelt zu werden, wie es der tote Familienvater aus Berlin in seinem Abschiedsbrief schreibt.
Viele Kommentare in den Medien versuchen, vom wirtschaftlichen Hintergrund dieser Tragödien abzulenken. So behauptet das Magazin Stern, die Häufung der tödlichen Familiendramen sei zwar „nicht zu übersehen“, doch Kriminologen und Psychiater sähen darin „nur einen statistischen Zufall“.
Doch bei allen Bemühungen, den Zusammenhang zwischen der Häufung von Familientragödien und der weltweiten wirtschaftlichen Krise zu verschleiern, sprechen die Fakten eine andere Sprache. Die Täter leben nicht im luftleeren Raum und auch nicht nur in ihrer Familie, sondern in einer Umwelt, die sie in Existenznot bringt und dann mit ihren Problemen allein lässt.
Selbst Familien, denen es noch relativ gut geht, können von heute auf morgen durch den Verlust des Arbeitsplatzes in Not geraten. Spätestens nach einem Jahr erhalten sie nur noch das Existenzminimum, wenn sie nicht in der Lage sind, einen neuen Arbeitsplatz zu finden. Selbständige, die von Insolvenz bedroht sind, wie der völlig überschuldete Familienvater in Berlin, können noch schneller in Not geraten.
Fast jeder Vierte in Deutschland arbeitet inzwischen für Niedriglohn. Insgesamt gibt es in Deutschland derzeit 800.000 Vollzeit-Beschäftigte, die weniger als 1.000 Euro brutto im Monat verdienen. Die Mieten, die Mietnebenkosten und die Preise für Strom und Wasser steigen, und die Zahl der Zwangsräumungen nimmt ständig zu. Allein im letzten Jahr wurde bundesweit 600.000 Haushalten das Wasser abgestellt.
All diese Belastungen konzentrieren sich in der Familie, die kaum mehr Rat und Unterstützung findet, da Beratungsstellen für Schuldner und Familien in Notlagen in vielen Kommunen dem Sparzwang zum Opfer gefallen sind oder monatelange Wartezeiten haben.
Dass der soziale Niedergang Menschen zu Verzweiflungstaten treibt, zeigt auch der europaweite Zunahme von Selbstmorden. So ist in Griechenland die Selbstmordrate seit dem ersten EU-Sparpaket 2010 um 40 Prozent gestiegen.
Auch in England hat sich die Selbstmordrate seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2008 stark erhöht, wie eine Studie zeigt, die das British Medical Journal (BMC) vom August 2012 veröffentlichte. Hauptauslöser sind laut den Wissenschaftlern die Arbeitslosigkeit und finanzielle Notlage der Menschen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine weitere Studie im BMC, die den mentalen Gesundheitszustand von arbeitslosen Wanderarbeitern in China seit Ausbruch der Krise untersucht.
Siehe auch: „Die sozialen Ursachen der Bluttat von Karlsruhe“