Aufbau und Vermarktung Barack Obamas: Schein und Sein in der US-Politik

Ein Artikel in der New York Times vom 30. Juli und ein ausführliches Interview in der Zeitschrift Rolling Stone Anfang Juli geben einen Einblick in das Denken und die Persönlichkeit von Senator Barack Obama, dem voraussichtlichen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten.

Der Times-Artikel befasst sich mit Obamas Zeit als Teilzeitdozent an der juristischen Fakultät der Universität von Chicago. Diese Tätigkeit übte er von 1992 bis 2004 aus, als er die Wahlen für den US-Senat gewann. Während des größten Teils dieser Zeit war er gleichzeitig Senator im Staat Illinois und arbeitete als Rechtsanwalt für eine Firma, die sich auf Zivilrecht und Stadtteilentwicklung spezialisiert hatte.

Der Artikel in der Times ist nicht bewusst unfreundlich, aber er zeichnet das Bild eines entschlossen ehrgeizigen, kühlen und vorsichtigen Menschen, der in erster Linie für seinen eigenen Aufstieg kämpft. Obama "stand abseits", betont der Artikel, "und das in vielfältigster Weise". Den Abstand, den er zu seinen Kollegen hielt, könnte man zum Teil auf seinen ethnischen Hintergrund und seine im Allgemeinen liberale politische Einstellung zurückführen, im Umfeld einer juristischen Fakultät, die als ziemlich konservativ gilt.

Es gab jedoch mit seinen Kollegen in der Fakultät niemals Konflikte über politische Themen. Die meiste Zeit mussten sie "raten, was seine genauen Ansichten sind". Der Artikel stellt fest: "Mr. Obamas Jahre an der juristischen Fakultät sind ein ganz anderes Kapitel ... damals scheint er auf seinen eigenen politischen Aufstieg genauso eifrig konzentriert gewesen zu sein wie auf seine Arbeit."

Wie die Times feststellt, hatte Obama kaum Zeit, sich mit irgendjemandem an der juristischen Fakultät einzulassen, da er "während seiner 12 Jahre an der Fakultät fünf politische Wahlkämpfe zu bestehen hatte". Außerdem war er, nach allem, was man hört, ziemlich mit sich selbst beschäftigt. Der Artikel erklärt: "Mr. Obama seinerseits konnte den Star spielen. Selbst seine Anhänger führten es auf seine Ichbezogenheit zurück, wenn in Mr. Obamas hypothetischen Fällen bisweilen er selbst eine Rolle spielte. Er begann einen verzwickten juristischen Fall folgendermaßen einzuleiten:,Nehmen wir zum Beispiel Barack Obama, einen gut aussehenden Burschen’."

Seine Ansichten waren zwar mehr links angesiedelt als die der meisten seiner Kollegen, seine Unzufriedenheit mit dem traditionellen Liberalismus machte sich jedoch bemerkbar: "Mr. Obamas Kurse zeichneten die Geschichte des Scheiterns der liberalen Politik und der Bemühungen auf, gesellschaftliche Veränderungen vor Gericht zu erreichen: die Zusatzartikel zur Verfassung aus der Reconstruction-Ära (1), die durch hundert Jahre Widerstand ausgehöhlt wurden; die Tatsache, dass der Triumph von Brown (2) abgelöst wurde durch Auseinandersetzungen um die Busfahrten von Schulkindern zur Rassenintegration; die Wahlrechtsgesetze, die die Schwarzen in so wenige Bezirke wie möglich pferchten. Er war misstrauisch gegenüber noblen Theorien, sagen die Studenten, stattdessen nennen sie Mr. Obama einen Kontextualisten, der bereit sei, juristische Feinheiten zu übergehen, um Resultate zu erzielen."

Die Times stellt fest, dass Obama "entweder aus Rücksicht auf seine Position als Professor oder aufgrund sich anbahnender politischer Vorsicht", keine Stellung zu strittigen Fragen bezog. "Seine Ansichten konnten auch nicht aus wissenschaftlichen Arbeiten aus seiner Feder in Erfahrung gebracht werden; Mr. Obama hat nie welche veröffentlicht", schreibt die Zeitung. Er war zu beschäftigt, meint ein früherer Kollege, aber er war auch "nicht gewillt, seinen Namen unter etwas zu setzen, dass ihm später politisch Kopfschmerzen verursachen konnte ...,Er hat es verstanden, sich bedeckt halten.’"

Diese Gerissenheit, die jetzt auf der nationalen politischen Bühne umgesetzt wird, ist mehr als nur persönliche Zurückhaltung. Während die Clintons noch Verbindungen zur Protestbewegung der späten 1960er und frühen 1970er Jahre hatten, wenn sie auch zu deren oberflächlichsten und opportunistischsten Elementen zählten, wurde Obama überwiegend durch die scharfe Rechtswendung der Politik der amerikanischen herrschenden Klasse geprägt, die in den späten 1970er Jahren unter Jimmy Carter begann und sich unter der Reagan-Regierung voll entwickelte.

Er war ein beeinflussbarer 19jähriger College-Student in Los Angeles als Reagan zum ersten Mal gewählt wurde. In seinem Buch Hoffnung wagen gibt Obama folgendes beachtenswertes Lob ab: "All das könnte erklären, warum ich, so beunruhigt wie ich von der Wahl Ronald Reagans 1980 auch war, ... dennoch seinen Appell verstanden habe ... Reagan hat Amerikas Sehnsucht nach Ordnung angesprochen, unser Bedürfnis zu glauben, dass wir nicht einfach blinden, unpersönlichen Kräften ausgeliefert sind, sondern dass wir unser individuelles und kollektives Schicksal gestalten können, wenn wir die traditionellen Tugenden von harter Arbeit, Patriotismus, persönlicher Verantwortung, Optimismus und Glauben wieder entdecken."

Zu fragen, ob dieser Lobgesang auf Reagan reine politische Berechnung ist, geht an dem eigentlichen Problem vorbei. Obama besteht zu einem großen Teil aus politischer Berechnung. Der Versuch zu ergründen, wo seine Abwägung der Vorteile dieser oder jener Position endet und wo seine "Grundüberzeugungen" beginnen, wäre ein vergebliches Unterfangen.

Obama ist das Produkt der Identitätspolitik, die in den 1970er Jahren Bedeutung erlangte. Dieser opportunistische Trend, unterstützt von Teilen der herrschenden Elite, erhob die Rasse und das Geschlecht über Klassenpositionen und diente dazu, jeden organisierten Kampf der arbeitenden und armen Menschen gegen ihre gesellschaftliche Unterdrückung zu untergraben. Sie war das Instrument für eine relativ kleine Schicht von Schwarzen, Latinos und Frauen, auf Kosten der Masse Karriere zu machen.

Aus ersichtlichen Gründen waren Obama als Kind einer weißen Frau, die ursprünglich aus Kansas stammte, und eines schwarzen Kenianers, der seine Frau und seinen Sohn verließ, als dieser zwei Jahre alt war, bestimmte Türen verschlossen. Andere Türen jedoch öffneten sich.

Ein beträchtlicher Teil der ehemaligen radikalen Mittelklasse entwickelte sich in den späten 1970er Jahren und den frühen 1980ern in Richtung Ichbezogenheit und Hedonimsus, während er gleichzeitig die Sprache und das Gehabe seiner "freigeistigen" Jugend beibehielt. Die Kategorie des "Hippie-Kapitalisten" entstand, zu denen als einer der Prominentesten der Herausgeber des Rolling-Stone-Magazins und Obama-Interviewer Jann Wenner gehörte.

Zu welchem Zeitpunkt Obama inmitten dieser mannigfaltigen Veränderungen erkannte, dass er eine vermarktbare Identität besaß, kann man nicht sagen. Es ist bemerkenswert, dass er sich seit ca. 1980 oder 1981 nicht mehr "Barry" nennt - sein Kinder- und Teenager-Spitzname - und zu seinem ursprünglichen Namen Barack zurückkehrt. Hatte er schon eine Vision seiner möglichen politischen Zukunft vor Augen?

Laut einem sehr ausführlichen Artikel im Chicago Reader von 1995 mit dem Titel "Warum Obama kandidiert?" wies seine Politik "während seiner Studentenzeit [1979-81] am Occidental College in der Nähe von Los Angeles einen Stich Nihilismus auf. Dort gab er sich cool und abgeklärt und verwechselte Parties feiern und high zu sein mit Rebellion." Ehrgeiz entwickelte sich in ihm offenbar in den 1980er Jahren während seiner Zeit an der juristischen Fakultät in Columbia und später in Harvard.

1990 machte er kein Geheimnis mehr daraus, welche Chancen seine ethnischen und seine akademischen Qualifikationen ihm boten. Im Sommer dieses Jahres schwärmte ein Artikel eines Reporters aus Chicago: "Das Letzte, worüber sich Barack Obama nächstes Jahr, wenn er seinen Abschluss gemacht hat, Sorgen machen muss, sind Stellenangebote. Obama beendete in diesem Frühjahr sein zweites Jahr an der juristischen Fakultät in Harvard und wurde dazu ausersehen, die Harvard Law Review zu leiten, eine renommierte Position, die traditionell einem Spitzenstudenten vorbehalten ist."

"Es ist eine tolle Sache, ein junger schwarzer Hochschulabsolvent zu sein - wenn man von Harvard kommt und zum oberen Viertel seines Jahrgangs gehört", erklärte Obama.

Während seines gesamten erwachsenen Lebens hat Obama zielstrebig seine persönliche Karriere verfolgt, was immer das zu einem bestimmten Zeitpunkt bedeutete. Das gezielte Ausnutzen seiner Identität stand dabei im Zentrum und wurde jeweils an die sich verändernde politische Lage angepasst.

Wir stellten im letzten Jahr fest: "Obama benutzt seine ethnische Zugehörigkeit als eine Art unausgesprochene Metapher für seine politische Methode. Hier ist ein Mann, diese Botschaft soll vermittelt werden, der weiß und schwarz ist, liberal und konservativ, Ausländer und Amerikaner, ein Mann, der über Partei-Ideologien und dem kleinlichen Gezänk der Parteipolitik steht."

Sein extremer Ehrgeiz und seine politische "Zwitterhaftigkeit", die Fähigkeit "über" einem Problem zu stehen, es flüssig und flexibel anzugehen, und dabei nichts zu sagen, kommt sehr stark in Wenners Rolling-Stone-Interview zum Ausdruck.

Als er gefragt wird, wann es ihm aufgefallen sei, dass schwarz zu sein und "Barack Obama" zu heißen, kein Hindernis für seine politischen Zielsetzungen ist, antwortet der Senator aus Illinois selbstbewusst: "Ich habe nie geglaubt, dass mein spezieller Hintergrund eine Hürde für meine politische Kandidatur sein würde."

Was hat er über die Amerikaner erfahren, was er vorher vielleicht noch nicht wusste? "Ich bin mir nicht sicher, ob das etwas Neues ist, aber es hat meine Überzeugung bestärkt, dass wir nicht so gespalten sind, wie unsere Politik es scheinen lässt ... [Amerikaner sind] nicht besonders ideologisch. Jeder ist so ein Art Mischung aus etwas, was man liberale Ideen und was man konservative Ideen nennen könnte. Aber es gibt einige gemeinsame Werte, an die jeder glaubt: Jeder glaubt, dass man für das, was man bekommt, hart arbeiten sollte, jeder glaubt, dass Dinge wie gleiche Chancen real sein sollten und nicht nur eine Parole."

Eine Finte nach rechts und ein Hieb nach links...

Wenner merkt an, dass "Veränderung" ein Schlagwort von Obamas Kampagne ist. "Können Sie beschreiben, was Veränderung ist? Wie sieht das aus?", fragt er.

Das bietet Obama die Möglichkeit, sich seinem Spezialfach zu widmen - leere Allgemeinplätze, verschwommene Verpflichtungen, die ihn zu nichts verpflichten, hohle "Wohlfühl"-Phrasen.

"Ich möchte, dass die Menschen sich wieder mit ihrer Regierung verbunden fühlen", erklärt er, "ich möchte, dass die Regierung auf die Stimmen der Menschen hört und nicht nur auf die von Insidern und Sonderinteressen. Das ist wirkliche Veränderung. Ich möchte, dass wir langfristig denken und nicht nur kurzfristig, ob es jetzt um Klimaveränderung, Energiepolitik oder die Ausbildung unserer Kinder geht, was für Investitionen wir in die Infrastruktur machen, wie wir mit dem Bundeshaushalt und den Staatsschulden umgehen", etc., etc.

Was und wer ist Obama? Was muss er oder irgendjemand sonst an juristischer und politischer Karriere oder an "Leistungen für die Allgemeinheit" vorweisen? In Wirklichkeit sehr wenig. Wenn man die vermarktbare Identität wegnimmt, bleibt nichts übrig.

Er akzeptierte diese Identität (weder schwarz noch weiß, weder liberal noch konservativ, weder vollständig amerikanisch noch ausländisch) und kultivierte sie; letzten Endes trat sie an die Stelle dessen, was immer er vorher gewesen war.

US-Präsidentschaftskandidaten werden in einem komplexen und zeitaufwendigen Prozess ausgewählt, auf Herz und Nieren geprüft und geformt. Die herrschende Elite ist mit Fragen auf Leben und Tod konfrontiert und erlaubt nicht einfach irgendjemandem ins Weiße Haus einzuziehen. Er oder sie müssen bereit sein, die skrupellosesten Entscheidungen zu treffen.

Obama hat diesen Prozess bis jetzt vor allem deshalb überlebt, weil einflussreiche Kräfte in diesem Land erkannt haben, dass die Präsidentschaft von Bush eine Katastrophe war und ist. Ein anderes Gesicht, eine andere Aufmachung werden gebraucht. Bill Clinton war gerade richtig, um den "Schmerz" der Menschen während einer scharfen Rezession "zu fühlen", nachdem sich das Phänomen Reagan verbraucht hatte. Die Situation heute ist viel gravierender.

Bush und Cheney werden mit Krieg, Wirtschaftskrise und umfassender Kriminalität gleichgesetzt. Verwirrt und auf der Suche nach Antworten kocht die Bevölkerung vor Wut. Eine Massenradikalisierung droht. Dass der relativ unerfahrene, gemischtrassige Obama ausgewählt wurde und man ihm möglicherweise seinen Moment an der Sonne gibt, ist selbst ein Zeichen der Tiefe der Krise.

Politisch soll Obama so lange wie möglich den Ausbruch von Massenopposition gegen die existierende wirtschaftliche und politische Ordnung verhindern. Er wird der Öffentlichkeit als fürsorglicher, umsichtiger schwarzer Mann verkauft, mit Anspielungen auf Lincoln im Hintergrund. Er hat das konstruierte Auftreten, die äußere Form von Opposition. Aber nur die äußere Form. Er ist klug und gewandt. Er ist nicht Bush.

Aber wenn man seine sorgfältig gestaltete Identität abzieht, dann ist er nicht so anders.

Anmerkungen:

1. Zusatzartikel zur Verfassung aus der Reconstruction-Ära : Wesentliche Demokratische Rechte,die in der Periode nach dem amerikanischen Bürgerkrieg Verfassungsrang erhielten.

2.Triumph von Brown : Grundsatzurteil gegen die Rassentrennung in Schulen von 1954. in Kansas

Siehe auch:
Was steckt hinter Europas Love Affair mit Obama?
(24. Juli 2008)
Obama skizziert Kriegspolitik
( 17. Juli 2008)
Barack Obama rührt die patriotische Trommel
( 8. Juli 2008)
Obama, Clinton und Identitätspolitik
( 12. Juni 2008)
Die zwei Gesichter des Barack Obama
( 16. Februar 2008)
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