Am heutigen Donnerstag beginnt die zweite Urabstimmung im Telekom-Streik. Zur Abstimmung steht ein Verhandlungsergebnis, das einen Dammbruch in der deutschen Tariflandschaft bedeutet: Lohnkürzung von 6,5 Prozent und vier Stunden unbezahlte Mehrarbeit für 50.000 Mitarbeiter und bis zu 25 Prozent weniger Gehalt für Neueinsteiger.
Setzen sich der Konzern-Vorstand und die Gewerkschaft Verdi mit dieser Vereinbarung durch, gibt es kein Halten mehr. Andere Unternehmen werden sich ermutigt fühlen, ihrerseits Konzessionen zu verlangen. Und bei Telekom wird, sind die Arbeitsplätze erst mal ausgegliedert, ein Ultimatum auf das nächste folgen.
Nach fast sechs Wochen Streik hatte die Verdi-Verhandlungskommission Mitte vergangener Woche einer Vereinbarung zugestimmt, die in allen wesentlichen Punkten die Forderungen des Konzerns beinhaltet. Nur wenige Stunden später wurde das Verhandlungsergebnis auch von der Großen Tarifkommission "mit überwältigender Mehrheit" angenommen, obwohl die Vereinbarung 70 Seiten umfasst und kein Mitglied der Tarifkommission ausreichend Zeit hatte, den Text zu studieren.
Seitdem hat Verdi eine beispiellose Kampagne begonnen, um den Abschluss schön zu reden und gegen den Widerstand der Streikenden durchzusetzen. Dabei wird gelogen, dass sich die Balken biegen. So heißt es im Verdi-Tarifinfo 21 unter der Überschrift "Große Tarifkommission empfiehlt Verhandlungsergebnis zur Annahme": "Die Einkommen bleiben stabil."
Das ist unwahr. Fakt ist: Die Einkommen werden schrittweise um 6,5 Prozent gesenkt. Der Lohnausgleich für die ersten 18 Monate wird durch eine Null-Runde bei den Tarifverhandlungen im kommenden Jahr finanziert. Diese Null-Runde betrifft nicht nur die von der Ausgliederung Betroffenen, sondern alle Beschäftigten der T-Com und der Konzernzentrale.
In zwei weiteren Stufen wird die Lohnsenkung um 6,5 Prozent Ende 2010 für alle T-Com-Beschäftigten wirksam. Die Behauptung, dieser Lohnabbau werde durch einen hohen Tarifabschluss in zwei Jahren ausgeglichen, ist ebenso unwahr. Die heutige Zustimmung zur Lohnsenkung untergräbt gleichzeitig künftige Lohnforderungen. Warum sollte der Telekom-Vorstand in zwei Jahren einer Lohnerhöhung zustimmen, wenn Verdi heute, unter Bedingungen guter Konjunktur und hoher Profite, nach einem wochenlangen Streik Lohnsenkung akzeptiert?
Dazu kommen unbezahlte Mehrarbeit von vier Stunden jede Woche. Die Arbeitszeit steigt auf 38 Wochenstunden. Einen Lohnausgleich gibt es dafür nicht. Allein diese unbezahlte Mehrarbeit bedeutet eine Lohnsenkung von mehr als 10 Prozent, die sofort in Kraft tritt. Vereinbart wurde auch, den Samstag als "neuen Kundentag" einzustufen. Dieser Tag gilt künftig als Regelarbeitszeit, mit anderen Worten: alle Zuschläge entfallen.
Weiter behauptet Verdi im Tarifinfo 21, in den neuen "Entgelttabellen" seien "Entgeltwerte" durchgesetzt worden, die "Dumpingtarife und Armutslöhne für Neueinstellungen verhindern und jedwedem Branchenvergleich standhalten". Damit sei eine "branchenweite Abwärtsspirale bei den Löhnen verhindert" worden.
Derart offensichtliche Unwahrheiten sind wirklich dreist. Fakt ist: Verdi hat einer Senkung der Einstellungsgehälter um bis zu 30 Prozent zugestimmt. Nach Telekom-Angaben schwanken die neuen Einstellungsgehälter zwischen 1.750 und 1.900 Euro brutto im Monat. Damit hat Verdi die "branchenweite Abwärtsspirale" deutlich weiter gedreht.
Tumultartige Szenen
Auf Regionalkonferenzen und Streikversammlungen, auf denen Verdi-Funktionäre in den vergangenen Tagen versuchten, das Verhandlungsergebnis zu rechtfertigen und für eine positive Urabstimmung zu werben, schlug ihnen eine scharfe Ablehnung von Seiten der Streikenden entgegen.
In Berlin, wo das Streiklokal im Innenhof der Verdi-Zentrale eingerichtet wurde, versuchte Landesfachbereichsleiter Mike Döding am vergangenen Donnerstag gegen empörte Zwischenrufe anzukämpfen. Streikende hatten vor ihm ein Transparent entrollt, auf dem der Namenszug der Gewerkschaft Ver.di in "Ver.räter" umgewandelt war. "Was wollt ihr von mir hören? Ich finde das Ergebnis ja auch Scheiße", rief Döding ins Mikrophon. "Warum habt ihr dann zugestimmt?", riefen mehrere Streikende zurück.
Das Neue Deutschland berichtet von einer Verdi-Veranstaltung mit 2.000 Telekom-Beschäftigten aus dem Rhein-Main-Gebiet in Frankfurt. Die Verdi-Fachbereichsleiterin Brigitte Reinelt bemühte sich, die Empörung vieler Streikenden als das Ergebnis eines "Komunikations-GAUs" darzustellen. Die Information durch die Medien sei sehr schlecht gewesen. Das Verhandlungsergebnis sei besser als sein Ruf. Verdi habe "das Schlimmste" verhindert usw.
"Doch bei den meisten Versammelten sind die Zweifel damit nicht ausgeräumt", berichtet das ND und zitiert einen Teilnehmer mit den Worten: "Vier Stunden länger arbeiten, heißt zwölf Prozent weniger Stundenlohn." Ein anderer sagt: "Wir hätten noch einige Wochen weiter kämpfen können."
Im selben Artikel wird von einer Verdi-Versammlung in Thüringen berichtet: "Ein Gewerkschafter wertete das Ergebnis als Mogelpackung und knurrte, er könne nur hoffen, dass die nötige 25-Prozent-Zustimmung bei der Urabstimmung nicht erreicht werde."
Die osthessen-news.de schreibt: "Die Mitgliederversammlung in Fulda votierte einstimmig für die Fortsetzung des Streiks, man ist nicht bereit sich erpressen zu lassen." Auch dem Verdi-Bundesvorstand sei diese Position mitgeteilt worden. Unabhängig vom Ausgang der Urabstimmung planten die Fuldaer Verdi-Mitglieder "weitere Initiativen zur Sicherung ihrer Arbeitsplätze".
Drei wichtige Argumente
Es ist außerordentlich wichtig, den Verdi-Ausverkauf abzulehnen und bei der Urabstimmung mit Nein zu stimmen.
Es geht nicht nur um die unmittelbare Zukunft jedes betroffenen Telekom-Beschäftigten. Die drastische Lohnsenkung bei gleichzeitig unbezahlter Mehrarbeit und deutlich verschlechterten Arbeitsbedingungen soll eine neue Runde sozialer Angriffe einleiten. In vielen Industriebetrieben und Serviceunternehmen liegen bereits ähnliche Maßnahmen zur Senkung der Löhne und zur Verlängerung der Arbeitszeit fertig ausgearbeitet in den Schubladen. Mit der Telekom-Vereinbarung soll eine Schleuse geöffnet werden, um eine Welle sozialer Abgruppierungen einzuleiten, wie sie bisher in Deutschland noch nicht stattgefunden hat.
Das Ziel ist es, amerikanische Verhältnisse zu schaffen. Dort setzen die Gewerkschaften bereits seit geraumer Zeit Lohnsenkungen und einen massiven Abbau von Arbeitsplätzen durch. In der Luftfahrt und der Autoindustrie ist dies gang und gäbe. So hat die Automobilarbeitergewerkschaft UAW erst vor kurzem mit dem Autozulieferer Delphi einen Abschluss vereinbart, der Lohnkürzungen bis zu 50 Prozent, Massenentlassungen und massive Einschnitte bei der Renten- und Gesundheitsvorsorge beinhaltet.
In vielen Fällen ist dies die Vorbereitung auf den Verkauf der Unternehmen an internationale Kapitalgesellschaften, die sie dann auf Kosten der Beschäftigten ausschlachten. So stimmte die UAW in diesem Frühjahr dem Verkauf von Chrysler an die Kapitalgesellschaft Cerberus Capital Management zu. Als Gegenleistung erhielt die Gewerkschaftsführung die Kontrolle über milliardenschwere Pensionsfonds und sicherte sich damit eine lukrative Quelle für die Bereicherung ihrer Spitzenfunktionäre.
Nach der Vereinbarung zwischen Verdi und Telekom sollte niemand mehr glauben, so etwas sei in Deutschland undenkbar. Die soziale Abwärtsspirale kann nur im Kampf gegen die Politik der Gewerkschaften gestoppt werden.
Weiter hat sich der Telekom-Streik direkt gegen die Große Koalition aus SPD und CDU gerichtet. Denn die Bundesregierung ist der mit Abstand größte Aktionär, und alle wichtigen strategischen Entscheidungen in Bezug auf die Telekom werden in enger Absprache mit Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) und Arbeitsminister Franz Müntefering (SPD) getroffen. Regierungssprecher Thomas Steg erklärte daher, das Bundeskabinett habe die Einigung "zur Kenntnis genommen und ausdrücklich begrüßt."
Die Ablehnung des Abgruppierungs-Vertrags muss zum Ausgangspunkt gemacht werden, um eine breite politische Bewegung gegen die Große Koalition aufzubauen.
Und schließlich muss die Nein-Stimme Teil einer politischen Offensive gegen die opportunistische Politik der Gewerkschaft sein. Der Angriff der Konzernleitung und der hinter ihr stehenden Regierung erfordert eine grundlegend neue politische Strategie. Die Produktion muss der Kontrolle der Finanzaristokratie entrissen und in den Dienst der Gesellschaft als Ganzer gestellt werden.
Das Veto gegen den Verdi-Abschluss muss zum Ausgangspunkt gemacht werden, mit den alten nationalen Organisationen, den Gewerkschaften und der SPD, zu brechen und Arbeiter in allen Branchen und an allen Standorten europa- und weltweit zusammenzuschließen, um für eine sozialistische Reorganisation der Gesellschaft zu kämpfen.