Die Spitzenkandidatin der Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG) für die Berliner Abgeordnetenhauswahlen, Lucy Redler, wird in den Medien immer wieder als "bekennende Trotzkistin" bezeichnet. Dabei handelt es sich um eine grobe Verdrehung der Wirklichkeit. Redler ist Mitglied der Sozialistischen Alternative - SAV, einer Organisation, die die Perspektiven der von Leo Trotzki gegründeten Vierten Internationale in allen wesentlichen Fragen zurückweist.
Redler war in die Schlagzeilen geraten, nachdem der Berliner Landesverband der WASG beschlossen hatte, zur Abgeordnetenhauswahl vom 17. September mit eigenen Kandidaten gegen die Linkspartei.PDS anzutreten. Letztere bildet in der Hauptstadt gemeinsam mit der SPD die Landesregierung, den Senat. Das getrennte Auftreten in Berlin gefährdet den geplanten bundesweiten Zusammenschluss von WASG und Linkspartei.PDS. Der Bundesparteitag der WASG, der am vergangenen Wochenende in Ludwigshafen tagte, hat sich mehrheitlich gegen die eigenständige Kandidatur des Berliner Landesverbands ausgesprochen und diesem mit Disziplinarmaßnahmen gedroht (siehe: "WASG verteidigt die unsoziale Politik der Berliner Landesregierung").
Die Berliner WASG begründet ihre eigenständige Kandidatur damit, dass die Linkspartei.PDS im Berliner Senat eine Politik des Sozialabbaus, der Privatisierungen und der Lohnkürzungen betreibe und die Konsolidierung des Haushalts als oberstes politisches Ziel betrachte. Sie, die WASG, spreche sich im Gegensatz dazu gegen jede Form von Sozialkürzungen und Stellenstreichungen aus.
Gleichzeitig halten aber auch die Berliner WASG und ihre Spitzenkandidatin Lucy Redler ausdrücklich an der geplanten Fusion mit der Linkspartei.PDS fest. Sie betonen bei jeder Gelegenheit, dass sie den Zusammenschluss der beiden Parteien generell unterstützen. Sascha Stanicic, Bundessprecher der SAV und ebenfalls Mitglied der Berliner WASG, veröffentlichte im Februar einen Artikel "Lafontaine und die Linke", in dem er die vereinte Partei zur einzig denkbaren Alternative für die absehbare Zukunft erklärt.
Es sei damit zu rechnen, schreibt Stanicic, "dass auf der Basis der neuen Rhetorik von Oskar Lafontaine die neue Partei, die sehr wahrscheinlich 2007 gebildet wird, der einzige Ansatzpunkt zu einer neuen Partei für Beschäftigte, Erwerbslose und Jugendliche bleibt und für einen gewissen Zeitraum eine gewisse Anziehungskraft auf sich radikalisierende ArbeiterInnen und Erwerbslose wird ausüben können". Er fügte hinzu: "Unter der Voraussetzung, dass sie nicht in einem Bundesland nach dem anderen in die Regierung eintritt und Sozialabbau exekutiert."
Vor allem der letzte Satz bringt die opportunistischen Beweggründe der Berliner WASG und der SAV treffend zum Ausdruck. Ihre Opposition gegen den Berliner Senat entspringt rein taktischen Überlegungen. Sie fürchtet, dass die neue Partei ihre "Anziehungskraft auf sich radikalisierende ArbeiterInnen und Erwerbslose" verliert, wenn die Linkspartei.PDS weiterhin die rechte Politik des verhassten Berliner Senats mitträgt. Sie fürchtet, dass der wirkliche Charakter der neuen Partei zu schnell ersichtlich wird.
Die gegenwärtige Rolle der Linkspartei.PDS im Berliner Senat entspringt nicht dem Zufall. Als stalinistische Staatspartei der DDR hatte ihre Vorgängerin SED die Arbeiterklasse stets mit Verachtung behandelt und jede demokratische Willensäußerung unterdrückt. In der Wendezeit spielte die PDS dann eine Schlüsselrolle bei der Einführung des Kapitalismus und dem Anschluss an die Bundesrepublik. Sie betrachtete es - in den Worten ihres damaligen Ministerpräsidenten und heutigen Ehernvorsitzenden Hans Modrow - als ihre Aufgabe, "die Regierbarkeit des Landes zu bewahren, ein Chaos zu verhindern" und den "unumgänglich notwendigen Weg zur Einheit" entschlossen zu beschreiten. Seither bekennt sie sich uneingeschränkt zu Marktwirtschaft und Privateigentum. Ihre linke Rhetorik dient dazu, den weit verbreiteten Unmut aufzufangen, während sie überall dort, wo sie Regierungsverantwortung trägt, einen stramm rechten Kurs verfolgt.
Dennoch verbreitet die SAV die Illusion, ein Zusammenschluss von PDS und WASG unter Führung des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine könne eine neue sozialistische Perspektive eröffnen. Ihr Vorgehen in Berlin dient dazu, diese Illusion aufrecht zu erhalten. Anstatt der der Arbeiterklasse den wahren Charakter der Linkspartei zu erklären, ist sie bemüht, deren Blöße durch ein linkes Feigenblatt zu bedecken.
Stanicic geht dabei mit unverhohlenem Zynismus vor. Er gibt offen zu, dass Lafontaine "nur alten Wein im neuen Schlauch" vertrete. "Seine Ideen sind klassisch reformistisch und weisen, trotz antikapitalistischer Rhetorik, nicht über die Grenzen des Kapitalismus hinaus, sondern zurück zur so genannten sozialen Marktwirtschaft", schreibt er. Lafontaine stelle "die Eckpunkte der kapitalistischen Gesellschaft nicht in Frage: Privateigentum an Produktionsmitteln, Konkurrenz, Marktwirtschaft, Profitmaximierung, Ausbeutung der Lohnabhängigen durch private Aneignung eines Teils der von ihnen geschaffenen Werte - und auf der Basis von all dem die Spaltung der Gesellschaft in Klassen und die Existenz eines die Interessen der herrschenden Klasse vertretenden Staates."
Dennoch unterstützt Stancic die Gründung einer Partei unter Lafontaines Führung. Er glaubt, bei dem langjährigen Sozialdemokraten einen "verbalen Linksschwenk" ausgemacht zu haben, und preist dessen angeblich linke Rhetorik in den höchsten Tönen. Streikende und protestierende Belegschaften hätten Lafontaine mit "stehenden Ovationen und Oskar, Oskar’-Sprechchören" empfangen, schreibt er. "Diese Resonanz alleine drückt das Potenzial für eine Partei der Lohnabhängigen und Erwerbslosen aus."
Man kann das nur als Politik der arglistigen Täuschung bezeichnen. Wenn protestierende Arbeiter einem linken Demagogen wie Lafontaine zujubeln, der - wie Stanicic selber zugibt - die Grundlagen der kapitalistischen Gesellschaft verteidigt, kann dies nur bittere Enttäuschungen und Niederlagen zur Folge haben. Eine neue Arbeiterpartei kann nur entstehen, wenn die Arbeiterklasse mit derartigen Illusionen bricht und sich einer neuen Perspektive zuwendet.
Dies zu ermöglichen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen ist die Aufgabe der heutigen Marxisten, der Trotzkisten. Die SAV dagegen lehnt dies entschieden ab. Sie bemüht sich, Illusionen in eine Partei zu schüren, deren tatsächliche Rolle im Berliner Senat unmissverständlich sichtbar wird.
SAV und Trotzkismus
1938 hatte Trotzki im Gründungsprogramm der Vierten Internationale geschrieben: "Das Haupthindernis für die Umwandlung der vorrevolutionären Lage in eine revolutionäre ist der opportunistische Charakter der proletarischen Führung, ihre kleinbürgerliche Feigheit gegenüber der Großbourgeoisie und die verräterische Verbindung, die sie mit ihr sogar in deren Todeskampf noch aufrechterhält."
Aus dem Verrat der Sozialdemokratie, die 1914 den Ersten Weltkrieg unterstützt hatte, und den verheerenden Niederlagen der Arbeiterklasse in den 1920er und 1930er Jahren, welche die Politik der aufstrebenden Sowjetbürokratie zu verantworten hatte, zog Trotzki die Schlussfolgerung, dass diese Bürokratien das größte Hindernis für die Entwicklung der Weltrevolution darstellten. Er war überzeugt, dass "die Krise der proletarischen Führung, die zur Krise der menschlichen Kultur geworden ist, nur von der Vierten Internationale gelöst werden kann".
Diese grundlegende Perspektive wurde in den 1950er Jahren von verschiedenen Tendenzen innerhalb der Vierten Internationale zurückgewiesen. Unter dem Eindruck der vorübergehenden Stabilisierung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg erklärten sie, die Arbeiterklasse stelle nicht länger die Kraft der gesellschaftlichen Veränderung dar. Die Machtübernahme der Stalinisten in Osteuropa und China habe gezeigt, dass auch ohne eine bewusste revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse "Arbeiterstaaten" geschaffen werden könnten. Die stalinistischen und reformistischen Bürokratien würden diese Rolle erfüllen. Den Marxisten bliebe nur noch die Aufgabe, diese Bürokratien von links unter Druck zu setzen.
Der wichtigste Vertreter dieser Tendenzen war Michel Pablo, der nach der Spaltung der Vierten Internationale über diese Fragen im Jahre 1953 das Internationalen Sekretariat der Vierten Internationale (IS) leitete. Dem gegenüber stand das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IK), das die trotzkistische Perspektive gegen den Opportunismus der Pablisten energisch verteidigt hat und bis heute verteidigt.
Eine weitere revisionistische Gruppe, die sich gegen das IK stellte, bildete sich in Großbritannien um Ted Grant herum. Grant und seine Gesinnungsgenossen verließen 1953 die britische Sektion der Vierten Internationale und schlossen sich 1957 dem pablistischen IS an. Bereits 1964 brachen sie jedoch wieder mit dem IS und gründeten die Zeitung The Militant. In den darauf folgenden drei Jahrzehnten arbeitete die Militant-Tendenz innerhalb der Labour Party und behauptete, diese reformistische Partei könne durch Druck dazu gebracht werden, eine sozialistische Umwandlung der Gesellschaft durchzuführen.
Aufgrund der wachsenden Hetze der Labour-Führung sah sich die Militant-Organisation schließlich 1993 gezwungen, die Labour Party zu verlassen. Doch sie hat niemals die politischen Lehren aus dem Scheitern ihrer Perspektive und den jahrzehntelangen Erfahrungen der Arbeiterklasse mit der Labour Party gezogen. Stattdessen bemüht sie sich, in Form der Socialist Party eine neue reformistische Partei aufzubauen, die sich aus enttäuschten Anhängern der Labour Party, der Kommunistischen Partei, aus Gewerkschaftsbürokraten und aus diversen radikalen Gruppen zusammensetzt.
Die SAV wurde 1973 in Deutschland nach dem Vorbild der britischen Militant-Tendenz von drei Mitgliedern der SPD-Jugendorganisation Jusos gegründet. Sie ist Teil des von Militant gegründeten Committee for a Workers’ International (Komitee für eine Arbeiterinternationale). Sie arbeitete ebenfalls lange Zeit innerhalb der Sozialdemokratie und versuchte erfolglos, diese von links unter Druck zu setzen. Erst nach den Erfahrungen von Militant mit der Labour Party gab die SAV Mitte der 1990er Jahre die Arbeit in der SPD auf. Die grundsätzliche Orientierung auf die reformistischen Bürokratien wurde aber beibehalten.
Heute lehnt die SAV den Aufbau einer marxistischen Partei für die Arbeiterklasse mit dem Argument ab, dass dieses Unterfangen unmöglich sei, solange die Mehrheit der Arbeiter noch Illusionen in die Reformierbarkeit des Kapitalismus habe. Sie räumt zwar ein, dass die sozialdemokratischen und stalinistischen Bürokratien auf Grund ihrer Rechtsentwicklung rapide an Einfluss verlieren, weigert sich aber vehement, das dadurch entstandene Vakuum auf der Linken mit einer sozialistischen Perspektive zu füllen.
Nach Ansicht der SAV müssen die Arbeiter zuerst ein zentristisches Stadium zwischen Reform und Revolution durchlaufen, bevor man sie mit einer revolutionären Perspektive in Berührung bringen darf. Jeder Versuch, dieses Stadium zu überspringen führe unweigerlich zu Niederlagen und Isolation. Die Aufgabe von Marxisten sei es daher, ein breites Bündnis möglichst vieler linker Tendenzen zu schaffen, in dem man dann auf lange Sicht für sozialistische Politik werben könne.
Auf dieser politischen Grundlage basiert auch die Arbeit der SAV innerhalb der WASG, die von ehemaligen SPD-Mitgliedern und Gewerkschaftsfunktionären ins Leben gerufen wurde, um die Arbeiter von einem Bruch mit sozialreformistischen Konzeptionen abzuhalten. Es handelte sich von Anfang an um ein gezieltes Manöver, das die Entstehung einer unkontrollierten Massenbewegung links von der SPD verhindern sollte. Doch anstatt die Arbeiterklasse vor dieser politische Falle zu warnen, arbeitet die SAV in der WASG mit und hängt ihr einen linken Deckmantel um.
Die SAV übernimmt so eine Schlüsselrolle dabei, die Arbeiterklasse weiterhin an die alten Arbeiterbürokratien zu binden und von einer unabhängigen politischen Perspektive abzuhalten. Je stärker die SPD an Einfluss in der arbeitenden Bevölkerung verliert, desto mehr ist die herrschende Elite auf solche Kräfte angewiesen, um die bürgerliche Ordnung zu verteidigen. Das ist der Grund, für das große Interesse, das die bürgerlichen Medien der angeblichen "Trotzkistin" Lucy Redler entgegenbringen, die auf dem Ludwigsburger WASG-Parteitag noch vor Lafontaine zum meistgesuchten Interview-Partnerin wurde.
Es handelt sich dabei um ein internationales Phänomen. Die sozialdemokratischen und stalinistischen Parteien, die in der Nachkriegszeit die wichtigste Stütze der bürgerlichen Ordnung in der Arbeiterbewegung darstellten, haben sich in ganz Europa durch scharfe Angriffe auf die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung diskreditiert. Die herrschende Elite ist daher zunehmend auf die Unterstützung anderer linker Kräfte angewiesen.
In Frankreich wurde mit Lionel Jospin schon 1997 ein Mann zum Premierminister ernannt, der einen Großteil seines Lebens als Mitglied der Organisation Communiste Internationaliste (OCI) verbracht hatte. Nachdem die Regierung Jospin massive Angriffe auf die Arbeiterklasse durchführte und deshalb 2002 abgewählt wurde, versucht nun eine andere pseudotrotzkistische Gruppierung, die Ligue Communiste Révolutionaire (LCR), einer Neuauflage desselben Linksbündnisses neuen Kredit zu verschaffen.
In Italien ist der Vorsitzende von Rifondazione Comunista, Fausto Bertinotti, soeben zum Parlamentspräsidenten gewählt worden. Bertinotti übernimmt damit die Schlüsselrolle dabei, stabile Mehrheiten für die Regierung von Romano Prodi zu sichern, die ihrerseits das Vertrauen großer Teile der italienischen und europäischen Bourgeoisie besitzt und sich auf ein striktes Haushaltskonsolidierungsprogramm festgelegt hat. Bertinotti und Rifondazione Comunista galten in ganz Europa viele Jahre lang als Vorbild jener Art linker Sammelpartei, wie sie die Militant in England und die SAV in Deutschland anstreben.
Im Lichte dieser internationalen Erfahrungen kann es keinen Zweifel geben, wohin der Kurs von WASG und SAV führt. Er kann nur neuen Enttäuschungen und Niederlagen den Weg ebnen.