Mexikos Wahlgericht (TEPJF) wies am Montag in öffentlicher Sitzung die meisten Beschwerden gegen das Ergebnis der Präsidentschaftswahl vom Juli zurück. Die Beschwerden, die die Stimmen in ca. 40.000 Wahlurnen betrafen, waren von Andrés Manuel López Obrador, dem Kandidaten der Partei der demokratischen Revolution (PRD), eingereicht worden.
Das Gericht annullierte 237.736 Stimmen, gab aber nicht bekannt, wo diese Stimmen abgegeben worden waren. 81.080 der annullierten Stimmen waren für Felipe Calderon von der Nationalen Aktionspartei (PAN) abgegeben worden, 76.897 für die von der PRD geführte Parteienkoalition und 63.000 für Roberto Madrazo von der Koalition, an deren Spitze die Partei der Institutionalisierten Revolution steht.
Das Wahlgericht legte zwar Wert auf die Feststellung, dass seine Ergebnisse vorläufigen Charakter hätten und sich noch ändern könnten, aber zweifellos ebnet die Entscheidung des Gerichts den Weg, Calderon zum Sieger der Juli-Wahl zu erklären. Die TEPJF muss bis zum 6. September den Sieger bestimmen. Bei der Wahl im Juli hatte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit gewonnen. Die offiziellen Zahlen ergaben für Calderon und Lopez Obrador jeweils etwa 35 Prozent. Die erste Auszählung sprach Calderon einen knappen Vorsprung von 244.000 Stimmen oder 0,58 Prozent der abgegebenen Stimmen vor Obrador zu.
Die Entscheidung des Wahlgerichts verkleinert Calderons Vorsprung, beseitigt ihn aber nicht. Lopéz Obrador hält sich für den wirklichen Sieger der Wahl und mobilisierte Millionen seiner Anhänger, um eine Neuauszählung aller Stimmen durchzusetzen. Seit der Wahl im Juli hat Lopéz zahlreiche riesige Demonstrationen angeführt und auf Kundgebungen mit Hunderttausenden von Teilnehmern gesprochen, um seiner Forderung nach einer Neuauszählung Nachdruck zu verleihen. Der Kandidat der PRD hat für den 16. September, dem Unabhängigkeitstag Mexikos, zu einer Massenversammlung aufgerufen, die ihn entweder zum Präsidenten oder zum "Regierungschef im Widerstand" gegen eine eventuelle Calderon-Regierung ausrufen soll.
Lopéz bezeichnet die für den 16. September geplante Kundgebung als "Nationale demokratische Versammlung" (CND). Seine Anhänger organisieren Versammlungen im ganzen Land, um Hunderttausende Delegierte für diese Protestversammlung zu wählen. Lopéz will sich auf der CND nicht nur zum Präsidenten ausrufen lassen, sondern er fordert die Versammlung außerdem auf, neue Institutionen zu schaffen, die "dem Mandat des Volkes entsprechen".
In Erwartung der Entscheidung der TEPJF am kommenden Montag sagte er: "Wir respektieren ihre Institutionen nicht, sie gehen nicht vom Volke aus; wir werden entsprechend Artikel 39 der Verfassung neue Institutionen schaffen." Artikel 39 besagt, dass die politische Macht vom Volke ausgeht.
Lopéz Obrador vermied sorgsam, den Charakter der neuen Institutionen zu erläutern, die er fordert. In seiner Auseinandersetzung mit der PAN und mit Calderón ist er ziemlich allgemein geblieben. Zwar betonte er, die Regierung müsse sich "in erster Linie um die Armen kümmern", und versprach einen "New Deal", aber welche politischen Maßnahmen damit verbunden sein sollen, erklärte er nicht.
Lopéz’s Taktik der Mobilisierung der Bevölkerung ist in Mexiko und Lateinamerika nicht ungewöhnlich. Lopéz und die PRD sind den Interessen der Wirtschaft verpflichtet und werden von ihr finanziert, unter anderem vom reichsten Mann Mexikos, Carlos Slim.
Die Angst von Teilen der herrschenden Elite, dass hinter dieser Wahlkrise eine viel tiefer gehende soziale Krise lauert, die zu einem Ausbruch des Klassenkampfs führen könnte, ist das eigentliche Motiv für die Kampagne von Lopéz und der PRD. Die Lebensbedingungen der Mittelschichten und der Arbeiterklasse sind nach Jahren stark sinkenden Lebensstandards, Unterdrückung durch die Regierung und steigender Arbeitslosigkeit unerträglich geworden.
Die Krise wird durch zunehmend unhaltbare wirtschaftliche und soziale Bedingungen angeheizt, unter denen die Mehrheit der Mexikaner, besonders die Ärmsten, leiden. 1978 reichte noch der Mindestlohn von zwei Personen aus, um die grundlegendsten Lebenshaltungskosten zu bestreiten. Heute sind dafür vier Mindestlöhne nötig. Vierzig Prozent der Bevölkerung sind zur Armut verurteilt.
Bei der gegenwärtigen Wachstumsrate von fünf Prozent schafft Mexiko 600.000 neue Arbeitsplätze im Jahr. Eine Million wäre aber vonnöten. So sind jedes Jahr Hunderttausende zur Auswanderung gezwungen.
Hier einige wichtige Ereignisse dieses Jahres:
* Explosion und Einsturz des Bergwerks Pasta de Conchos im Bundesstaat Coahuila am 19. Februar, bei der 65 Bergarbeiter starben. Die Katastrophe löste Ende Februar eine Welle von Arbeitsniederlegungen in Kupfer- und Zinkbergwerken aus. Zehntausende Bergarbeiter legten die Arbeit nieder aus Solidarität mit den Kumpeln der Pasta de Conchos-Mine, die Opfer der Gleichgültigkeit der Regierung, der Bergwerksverwaltung und ihrer eigenen Gewerkschaft sind.
* Ein zweitägiger nationaler Streik im März aus Protest gegen die Entscheidung der PAN-Regierung von Präsident Vincente Fox, den Führer der Bergarbeitergewerkschaft seines Postens zu entheben. Der Streik legte Hunderte Bergwerke und Betriebe lahm.
* Die Erschießung zweier junger Arbeiter am 20. April bei einem bewaffneten Angriff auf einen Streik bei dem privatisierten Stahlwerk Sicartsa in der Hafenstadt Lazaro Cardenas im Bundesstaat Michoacan. Dreißig weitere Arbeiter wurden verwundet.
* Der brutale Angriff mexikanischer Polizei und Sicherheitskräfte auf kleine Ladenbesitzer in San Salvador de Atenco im Bundesstaat Mexiko. Dutzende wurden attackiert, unter ihnen ein Mann mit gelähmten Beinen, der geschlagen wurde, weil er nicht aufstand. Siebzehn Frauen gaben an, auf dem Polizeirevier sexuellen Übergriffen von Polizisten ausgesetzt gewesen zu sein. Fast vier Monate später befinden sich viele immer noch in Haft.
* Die fortdauernde Besetzungsaktion der Lehrer von Zentral-Oaxaca als Reaktion auf einen gewalttätigen Angriff auf streikende Lehrer am 15. Juni. Die Lehrer und ihre Sympathisanten fordern den Rücktritt des Gouverneurs der Provinz, Ulises Ruiz von der PRI. Vergangene Woche drangen bewaffnete Mitglieder einer Bürgerwehr und Polizisten in Zivil in den öffentlichen Fernsehsender ein, der von den Streikenden übernommen worden war, und zerstörten für den Sendebetrieb wichtiges Equipment. Für den Angriff wird allgemein Ulises Ruiz persönlich verantwortlich gemacht. Unbeeindruckt besetzten die Lehrer andere Radiostationen, um ihre Forderungen bekannt zu machen.
Lopéz Obrador und die PRD sind besorgt, diese Kämpfe könnten außer Kontrolle geraten. Seine zentrale Rolle besteht darin, sich als Vertreter "des Volkes" zu präsentieren, um eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse zu verhindern.
In einem Interview mit der Financial Times am 22. August verurteilte Lopéz Obrador die Regierung, weil sie von den Reichen und von speziellen Interessengruppen kontrolliert werde, machte dann aber klar, dass er nicht die herrschenden Institutionen zu ersetzen gedenkt, sondern das Vertrauen der Bevölkerung in die Verfassung und die Regierung wieder herstellen will.
In einem anderen Interview mit der gleichen Zeitung betonte Lopéz Obradors Finanzberater Rogelio Ramirez de la O die Bedeutung von Haushaltsdisziplin und machte klar, dass sich hinter der populistischen Rhetorik des Kandidaten ein wirtschaftsfreundliches Programm verbirgt. "Es ist entscheidend", erklärte Ramirez, "Wahlkampfreden von den Signalen [zu unterscheiden], die an die Finanzmärkte gehen, sobald man im Amt ist".