Die Argumente eines Obrigkeitsstaats

Zur Verleumdung des WSWS durch den Brandenburger Verfassungsschutz

Wenige Stunden nachdem in der Nacht zum 16. September die Fensterscheiben der Ausländerbehörde in Frankfurt (Oder) eingeschlagen worden waren, veröffentlichte der Verfassungsschutz des Landes Brandenburg auf seiner Online-Seite einen Artikel, der die World Socialist Web Site (WSWS) in das Umfeld des gewalttätigen "linksextremistischen Spektrums" stellt. Der Artikel strotzt vor Verdrehungen, Halbwahrheiten, Andeutungen und falschen Behauptungen.

Als erstes fällt das Datum des Artikels auf. Laut Ermittlungen der Polizei ereignete sich der Überfall auf die Ausländerbehörde am Dienstag den 16. September frühmorgens um 3.50 Uhr. Die polizeilichen Ermittlungen dauerten den ganzen Tag über an. Am Mittag fand eine "Vor-Ort-Besprechung" statt, auf der "der für Ausländerangelegenheiten zuständige Abteilungsleiter im Frankfurter Ordnungsamt, Rainer Tarlach", die Presse informierte, wie die Märkische Allgemeine Zeitung am nächsten Morgen berichtete.

Die ersten Presseberichte erschienen am Mittwoch früh. Der Artikel des Verfassungsschutzes trägt aber das Datum vom Dienstag, dem 16. September, dem Tag an dem der Anschlag stattfand. Die Frage stellt sich: Hatte der Verfassungsschutz Vorabinformationen? Wann und von wem wurde er über die Ereignisse jener Nacht informiert?

Der zweite Widerspruch besteht in der Bewertung des WSWS-Artikels, der angeblich am Tatort gefunden wurde. Sofort - unmittelbar nach Bekanntwerden der Ereignisse, noch bevor irgendwelche ernsthaften Ermittlungen begonnen hatten - behauptete der Verfassungsschutz, der Artikel sei von den Tätern hinterlegt worden, und bewertete ihn wie ein Bekennerschreiben. Weshalb? Auf welche Informationen stützt sich diese Einschätzung?

Nach Angaben der Polizei gab es auf dem Artikel keine handschriftliche Notiz oder andersartige Zuordnung. Er sei "im Eingangsbereich" der Behörde gefunden worden. Das Gebäude befindet sich direkt am Straßenrand. Es gibt keinen Vorhof. Die Täter waren nicht im Gebäude. Mit anderen Worten: Der Artikel lag auf dem Bürgersteig vor dem Eingang zur Behörde. Er kann dort bereits vorher gelegen haben oder später hingelegt worden sein.

Von einer eindeutigen Zuordnung des Artikels zum Anschlag kann also keine Rede sein. Es ist bisher völlig unklar, wer den Artikel hinterlegt hat, und einiges deutet darauf hin, dass es nicht die Täter waren. Zumindest hätten sie dann in Kauf genommen, dass er in einer windigen Septembernacht schnell hätte weggeweht werden können und nicht gefunden worden wäre. Hätten die Täter den Artikel wirklich ihrer Aktion eindeutig zuordnen wollen, wäre es leicht gewesen, ihn durch die eingeschlagenen Scheiben in das Innere der Behördenräume zu werfen. Immerhin hatten sie mehrere Marmeladengläser mit stinkender Chemikalie auf diesem Weg in die Büros befördert.

Während also die Verbindung zwischen dem WSWS-Artikel und dem Überfall ungeklärt und äußerst dubios ist, behauptet der Verfassungsschutz - nur Stunden nach dem Anschlag - das wichtigste Merkmal der Tat sei eben dieser Artikel gewesen. Der anderthalbseitige VS-Bericht befasst sich fast ausschließlich mit dem WSWS-Artikel. Nach den ersten fünf Zeilen, in denen mit dürren Worten die Sachbeschädigungen zusammengefasst werden, folgen neun Absätze mit heftigen Anschuldigungen gegen den WSWS-Artikel.

Im zweiten Absatz stellt der Verfassungsschutz folgende Tatsachenbehauptung auf: "Am Tatort hinerließen sie (die Täter, die Red.) den Abdruck einer Verlautbarung, die bereits vor zwei Jahren im Internet veröffentlicht worden war." Erstens ist bisher - wie gesagt - völlig unklar, wer den Text hinterließ. Zweitens ist die Wortwahl "Verlautbarung" irreführend, sie soll eine enge Beziehung zwischen Text und Tätern andeuten. Eine Verlautbarung ist eine personen- oder sachbezogene Stellungnahme. Es handelt sich bei dem Text aber gerade nicht um eine Verlautbarung der Täter, sondern um einen Artikel der WSWS-Redaktion.

Auch der ermittelnde Staatsanwalt sieht das so. So berichtete die Berliner Zeitung am Tag nach den Ereignissen: "Außerdem wurde im Eingangsbereich der Behörde ein Schreiben gefunden. ‚Das kann aber nicht als Bekennerschreiben gewertet werden', sagte Staatsanwalt Ulrich Scherding. Denn es handelt sich um einen zweieinhalb Jahre alten ‚allgemeinen Aufsatz' gegen Abschiebepolitik." In einem späteren Telefongespräch betonte Staatsanwalt Scherding ausdrücklich, es habe keinerlei Bekennerschreiben gegeben, und der am Tatort gefundene Artikel stütze seine Kritik an der Asylpolitik auf allgemein zugängliche Quellen.

Der Verfassungsschutz dagegen konstruiert einen engen Zusammenhang zwischen dem Artikel und dem Anschlag und behauptet, gerade der Artikel mache einen "linksextremen Hintergrund der Tat" deutlich. Er schreibt, das Anschlagsziel, die Parole an der Hauswand und "nicht zuletzt die Auswahl des am Tatort hinterlassenen Schreibens verraten eindeutige Bezüge der Täter zum linksextremistischen Spektrum". Im nächsten Absatz wird diese Behauptung wiederholt: "Insbesondere der Text, der bereits im Februar 2001 auf der ‚World Socialist Web Site' publiziert worden war, verdeutlicht den linksextremistischen Hintergrund der Tat."

Dieser Vorwurf des "Linksextremismus" ist sowohl in Bezug auf den Artikel als auch auf das WSWS insgesamt falsch und verleumderisch. Strafrechtlich erfüllt er den Tatbestand einer falschen Anschuldigung.

Der WSWS-Artikel ist sowohl in seiner Darstellung der Tatsachen wie auch in deren Wertung völlig korrekt. Er deckt die empörenden Zustände an den deutschen und europäischen Grenzen auf und nennt konkrete Zahlen über die Opfer. Er stützt sich dabei auf nachprüfbare und allgemein zugängliche Quellen, wie Nachrichtenmagazine und Tagszeitungen.

Weiter ruft weder dieser noch ein anderer Artikel des WSWS zu Gewalttaten auf. Im Gegenteil, der Artikel prangert gerade die staatliche und rassistische Gewalt gegen Ausländer an und verteidigt grundlegende demokratische Rechte und Freiheiten.

Und schließlich wird die WSWS vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale und deren deutsche Sektion, der Partei für Soziale Gleichheit (PSG), herausgegeben. Die PSG ist eine vom Bundeswahlleiter anerkannte demokratische Partei, die an Bundes- und Landtagswahlen teilnimmt. Sie lehnt individuelle Gewaltakte, seien es Sachbeschädigungen und erst recht Gewaltakte gegen Personen, grundsätzlich ab.

Der Verfassungsschutz weiß das und stellt auch fest, dass der Autorin des Artikels strafrechtlich "nichts vorzuwerfen" sei. Um den Artikel dennoch zu kriminalisieren, greift die Behörde zu folgender abstrusen Argumentation. Sie behauptet, der Fundort des Artikels zeige seine Nähe zu Gewalttaten und umgekehrt sei die Gewalttat als "linksextrem" zu werten, weil dieser Artikel dort gefunden wurde. Mit einer solchen Tautologie, die in ihrer Voraussetzung den Beweis bereits beinhaltet, lässt sich alles und nichts begründen. Sie dient der staatlichen Willkür und Einschüchterung.

Der Verfassungsschutz behauptet, der Artikel reihe sich durch seinen Fundort in eine Serie von Veröffentlichungen ein, "die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorrufen. Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert."

Grundrecht auf Meinungsfreiheit

Diese Argumentation steht in polizeistaatlicher Tradition und stellt einen grundlegenden Angriff auf die Presse- und Meinungsfreiheit dar. Wenn ein Artikel weder in seinen Tatsachenaussagen anfechtbar ist, noch zur Gewalt oder anderen Straftaten aufruft, dann ist sein Inhalt durch das Grundrecht auf Meinungsfreiheit geschützt.

Im Grundgesetz Artikel 5 heißt es ausdrücklich: "Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt."

Indem das Landesamt für Verfassungsschutz einen strafrechtlich nicht zu beanstandenden Artikel in die Nähe einer Straftat rückt und behauptet, er fördere oder bringe direkt Gewaltbereitschaft hervor, fordert es implizit Zensurmaßnahmen und verstößt gegen das Verfassungsrecht der Meinungsfreiheit.

Folgt man der Argumentation des Verfassungsschutzartikels, dann könnte mit der selben Begründung jede Art kritischen Journalismus eingeschüchtert und in die Nähe von Terrorismus gerückt werden. Es reicht aus, dass irgend ein Wirrkopf oder Provokateur einige Scheiben einwirft, um politische Gegner der Regierung zu kriminalisieren. Mit derselben Begründung könnte man sämtliche Kritiker der "Agenda 2010" dafür verantwortlich machen, wenn ein verzweifelter Arbeitsloser oder Sozialhilfeempfänger Amok läuft. Oder - wie wir bereits in einem früheren Artikel schrieben - man könnte den Gegnern des Euro in Schweden vorwerfen, sie hätten "die Straße" zum Mord an Anna Lindt "gepflastert", die als prominente Euro-Befürworterin auf dem Höhepunkt der Referendumskampagne umgebracht wurde. Diese Argumentation ist nicht nur absurd, sie verstößt auch gegen elementare demokratische Grundsätze.

In einem Telefongespräch Mitte Oktober verteidigte der stellvertretende Leiter des Potsdamer Landesamts für Verfassungsschutz, Jörg Milbradt, der auch für die Web-Redaktion des VS verantwortlich zeichnet, den Artikel mit dem Hinweis, nicht er als Autor und der Verfassungsschutz hätten den Artikel in die Nähe einer Straftat gerückt, sondern die Täter in Frankfurt/Oder.

Auch diese Aussage ist falsch. Es ist, wie gesagt, nach wie vor völlig unklar, wer den WSWS-Artikel hinterlegt oder mitgebracht hat. Doch selbst wenn es kein Provokateur war, sondern jemand, der in seinen verwirrten Auffassungen das Einschlagen von Fensterscheiben für Politik hält, rechtfertigt das nicht die Argumentation des Verfassungsschutzes.

Milbradts Behauptung, die Hinterlegung des Artikels am Tatort rücke diesen auch inhaltlich in die Nähe einer Straftat, ist unsinnig. Auch andere Schriftstücke in der Behörde haben durch ihre Nähe zu den geborstenen Scheiben nicht ihren Charakter verändert. Kriminalisiert wurde der Artikel der WSWS erst durch die Behauptung von Jörg Milbradt und des Brandenburger Verfassungsschutzes, er stehe im ursächlichen Zusammenhang zu der Tat.

Nicht der oder die Steine- und Stinkbombenwerfer in Frankfurt/Oder, sondern Milbradt und der Verfassungsschutz haben behauptet, der WSWS-Artikel reihe "sich ein in eine Serie ähnlicher Veröffentlichungen, die in ihrer Summe Gewaltbereitschaft fördern oder direkt hervorrufen". Sie haben die verleumderische Behauptung aufgestellt: "Mit solchen Texten ist die Straße zur Straftat gepflastert".

Dabei ist eine staatliche Behörde bei der Erhebung von strafrechtlich relevanten Vorwürfen in besonders hohem Maß zur Sorgfalt verpflichtet. Das trifft insbesondere auf die Verfassungsschutzämter zu, deren Feststellungen in politischen Auseinadersetzungen immer wieder als "Autorität" oder "Beweis" angeführt werden. Diese Sorgfaltspflicht wurde von Milbradt und dem Potsdamer VS-Amt gröblich verletzt.

Auf den Vorwurf, dass der Verfassungsschutz und damit eine staatliche Behörde einen strafrechtlich nicht zu beanstandenden Artikel kriminalisiere, antwortete Milbradt: "So harmlos ist der Artikel auch wieder nicht!" Immerhin beinhalte er eine "Fundamentalkritik am demokratischen Staat".

Auch das ist nachweislich unwahr. Der WSWS-Artikel übt keine "Fundamentalkritik am demokratischen Staat". Er über Kritik an der Regierung - was nicht dasselbe ist - und wirft ihr vor, im Umgang mit Ausländern und Flüchtlingen elementare demokratische Rechte und Grundsätze zu missachten. Es ist ein typisches Merkmal von obrigkeitsstaatlichem Denken, dass es politische Kritik an der Regierung automatisch als Angriff auf den Staat und die gesellschaftliche Ordnung interpretiert und nicht zwischen beidem unterscheidet.

Darüber hinaus wäre auch eine radikale Kritik an der Gesellschaftsordnung durch die Meinungsfreiheit gedeckt und nicht als "extremistisch" zu werten, wie sogar das Bundesamt für Verfassungsschutz in einer Broschüre feststellt, die im Internet zugänglich ist. Dort heißt es im Abschnitt "Extremistisch oder radikal": "Zu Unrecht wird er (der Begriff Extremismus, die Red.) häufig mit Radikalismus gleichgesetzt. So sind z.B. Kapitalismuskritiker, die grundsätzliche Zweifel an der Struktur unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung äußern und sie von Grund auf ändern wollen, noch keine Extremisten. Radikale politische Auffassungen haben in unserer pluralistischen Gesellschaftsordnung ihren legitimen Platz. Auch wer seine radikalen Zielvorstellungen realisieren will, muss nicht befürchten, dass er vom Verfassungsschutz beobachtet wird - jedenfalls nicht, solange er die Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung anerkennt. ... Die Gesinnung politisch Andersdenkender, die sich darin äußern kann, dass z.B. jemand mit Begeisterung kommunistische Literatur liest oder die Bundesregierung kritisiert, berührt den Aufgabenbereich der Verfassungsschutzbehörden nicht."

Obrigkeitsdenken

Die Konzepte und Argumente des Brandenburger Verfassungsschutzes erinnern fatal an die Logik des Obrigkeitsstaates, der in der unheilvollen Geschichte Deutschlands nicht nur von der preußischen Pickelhaube verkörpert worden ist. Der Faschismus des Dritten Reiches und der Stalinismus der DDR haben diese Logik bis zur Diktatur eines allgegenwärtigen Polizeistaates getrieben.

Entstanden in den dunklen Tagen der Metternichschen Reaktion, gefestigt durch das Scheitern der demokratischen Revolution von 1848 und die Bismarck-Ära, waren dem deutschen Obrigkeitsstaat demokratische Grundsätze immer äußerst suspekt. Seine politische Polizei, wie all seine Polizeibehörden zeichneten sich vor allem dadurch aus, dass sie ihre Organisation und ihr Vorgehen nicht aus den demokratischen Freiheitsrechten der Bürger heraus definierten.

Sie sahen ihre Aufgabe nicht darin, diese Bürgerrechte gegen Übergriffe des Staates zu verteidigen, sondern umgekehrt. Zu allen Zeiten war Willfährigkeit gegenüber der Obrigkeit - oder das, was regionale oder lokale Behördenleiter oder deren Stellvertreter für den Willen der Obrigkeit hielten - ihre oberste Maxime. Das Vorgehen gegen jede Kritik an der Obrigkeit ist ihr deshalb eine Selbstverständlichkeit, ein Ordnungsprinzip der Natur, das über jeden Zweifel erhaben ist. Das war so unterm Kaiser wie unter den Nazis und unter anderen Vorzeichen auch in der DDR.

Ganz im Geiste dieser obrigkeitsstaatlichen Logik empört sich Herr Milbradt über die "Fundamentalkritik am demokratischen Staat", die der WSWS-Artikel äußere. Er wisse was Unterdrückung von Meinungsfreiheit sei, betonte er im Telefongespräch, immerhin habe er jahrzehntelang unter der SED-Herrschaft gelebt. Das mag zutreffen, aber offensichtlich hat er daraus nicht den Schluss gezogen, dass das Recht auf Meinungsfreiheit auch die Kritik an der Regierung mit einschließt.

Bleibt abschließend noch folgende Feststellung: Das Scheibeneinschlagen und Stinkbombenwerfen in Frankfurt/Oder diente dem Verfassungsschutz als Vorwand, eine sozialistische Publikation in die kriminelle Ecke zu stellen. Ohne seine Reaktion hätte diese völlig dumme und nutzlose Aktion, die weder die Bedingungen für Ausländer verbessert, noch die deutsche Bevölkerung zur Unterstützung der Flüchtlinge mobilisiert oder sonst eine progressive Funktion hat, kaum einen politischen Sinn ergeben.

Stellt man die alte juristische Frage: "Cui bono?" (Wem nützt es?), so gibt es bisher nur einen Nutznießer - das Potsdamer Landesamt für Verfassungsschutz, das die Ereignisse sofort für seine Zwecke nutzte. Angesichts der Tatsache, dass der Verfassungsschutz nachweislich Agenten in die rechte und linke politische Szene eingeschleust oder dies versucht hat, muss die Frage beantwortet werden: Hatte der Verfassungsschutz seine Hände mit im Spiel?

Siehe auch:
Brandenburger Verfassungsschutz verleumdet World Socialist Web Site
(18. Oktober 2003)
Was geschah wirklich in Frankfurt/Oder?
( 30. Oktober 2003)
Der angeblich am Tatort gefundene WSWS-Artikel "Abschiebepolitik und Grenzregime"
( 24. Februar 2001)
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