Perspektive

Der Völkermord in Gaza und der Tod von Aaron Bushnell: Was sind die politischen Lehren?

Diesen Vortrag hielt David North, Leiter der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, am 12. März 2024 an der University of Michigan in Ann Arbor.

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Am 25. Februar 2024 beging der 25-jährige Aaron Bushnell vor der israelischen Botschaft in Washington Selbstmord. Kurz vor 13 Uhr gab er auf dem Weg dorthin per Live-Stream eine Erklärung ab:

Ich bin Mitglied der United States Air Force im aktiven Dienst. Und ich werde mich nicht länger an einem Völkermord beteiligen. Ich bin im Begriff, einen extremen Akt des Protests zu vollziehen. Aber im Vergleich zu dem, was den Menschen in Palästina von ihren Kolonialherren angetan wird, ist es gar nicht extrem. Es ist das, was nach Entschluss unserer herrschenden Klasse künftig als normal gelten wird.

Vor der Botschaft angekommen, übergoss sich Aaron mit einer brennbaren Flüssigkeit und zündete sie an. Während ihn die Flammen einhüllten, rief er: „Free Palestine!“ Ein Secret-Service-Beamter, der zum Ort des Geschehens gerufen worden war, richtete eine Waffe auf den jungen Mann und befahl ihm, sich auf den Boden zu legen. Weitere herbeigerufene Beamte setzten Feuerlöscher ein, um die Flammen zu ersticken. Aaron wurde in ein nahe gelegenes Krankenhaus gebracht, wo er sieben Stunden später, um 20:06 Uhr, seinen Brandverletzungen erlag.

Aaron Bushnell

Wie nicht anders zu erwarten, hat die Regierung Biden keine offizielle Stellungnahme zu diesem Selbstmord abgegeben. Präsident Biden, der ansonsten jede Rede mit den Worten „Möge Gott unsere Soldaten schützen“ beschließt, brachte kein Wort über die Lippen, geschweige denn eine Äußerung des Bedauerns über den Tod von Aaron Bushnell, einem Mitglied der US-Luftwaffe.

Die Verbündeten des israelischen Staates und die prozionistischen Medien haben das Ereignis größtenteils heruntergespielt und Aaron als einen Kranken hingestellt, dessen Selbstmord keine politische oder soziale Bedeutung hat.

Ganz anders hat die überwältigende Mehrheit der Weltbevölkerung reagiert. Bei Millionen lösten die Bilder die Gefühle aus, die man erwarten darf: Schock, Trauer und Mitgefühl. Der Tod eines jungen Mannes, überdies auf so schreckliche Weise, erschüttert jeden normal empfindenden Menschen.

Bei aller Trauer über den Tod von Aaron Bushnell und allem Respekt vor seinem Idealismus und seiner Aufrichtigkeit wäre es aber falsch, seinen Selbstmord zu rechtfertigen und zu loben oder einen solchen selbstzerstörerischen Akt des „extremen Protests“ als wirksame Form des politischen Widerstands gegen den Völkermord in Gaza oder ganz allgemein gegen die Verbrechen des Imperialismus zu begrüßen.

Diejenigen, die Aarons Selbstmord gutheißen und damit direkt oder indirekt die Nachahmung nahelegen – darunter Cornel West –, verhalten sich nicht nur verantwortungslos. Sie tragen auch zur Demoralisierung und politischen Desorientierung der Opposition gegen den Völkermord in Gaza und gegen imperialistischen Krieg insgesamt bei. Sie setzen den ohnmächtigen Protest eines einzelnen Märtyrers dem Aufbau einer politisch bewussten Massenbewegung von Millionen entgegen, die notwendig ist, um sich der imperialistischen Barbarei und dem ihr zugrunde liegenden kapitalistischen System entgegenzustellen und beidem ein Ende zu setzen.

Diese Kritik werde ich gleich genauer erläutern. Doch zunächst möchte ich Aarons Tod in einen breiteren gesellschaftlichen Kontext stellen.

Die Umstände des Todes von Aaron waren natürlich außergewöhnlich. Aber Selbstmord an sich ist in den Vereinigten Staaten keine ungewöhnliche Todesursache. Diese wichtige Tatsache sollte man nicht übersehen.

Im Jahr 2021 war Selbstmord die elfhäufigste Todesursache in den Vereinigten Staaten. Insgesamt starben 48.183 Amerikaner durch Selbstmord. Es gab 1,7 Millionen Selbstmordversuche. Die altersbereinigte Selbstmordrate lag bei 14 von 100.000 Personen. Im Durchschnitt gab es 132 Selbstmorde pro Tag. Sicherlich kennen viele von euch Kommilitonen oder Freunde, die eine schwere persönliche Krise durchgemacht sich vielleicht sogar das Leben genommen haben. Mehr als 69 Prozent der Selbstmordtoten im Jahr 2021 waren Männer mit weißer, 8,3 Prozent Männer mit anderer Hautfarbe. Unter Männern war die Zahl der Selbstmorde etwa viermal so hoch wie unter Frauen. Die höchsten Selbstmordraten sind bei Erwachsenen im Alter von 25 bis 34 und von 75 bis 84 Jahren zu verzeichnen.

2021 starben 48.000 US-Bürger durch Selbstmord. Es gab 1,7 Millionen Selbstmordversuche, die durchschnittliche Selbstmordrate liegt bei 14,04 pro 100.000 Personen. Im Durchschnitt kommt es zu 132 Selbstmorden pro Tag, davon entfallen 69,9% auf Männer mit weißer und 8,3% auf Männer mit anderer Hautfarbe.

Soldaten und Veteranen machen einen großen Teil der Selbstmordopfer in den Vereinigten Staaten aus. Der deutliche Anstieg der Selbstmorde unter Soldaten steht eindeutig im Zusammenhang damit, dass unser Land unaufhörlich Krieg führt.

Eine 2014 veröffentlichte Studie ergab, dass „die Selbstmordrate in den Jahren 2004/2005, 2006/2007 und 2008/2009 von 12,1 auf 18,1 bzw. 24,5 pro 100.000 Personenjahre im aktiven Dienst gestiegen ist“.[1] In der „Army Study to Assess Risk and Resilience in Service Members“ (Armeestudie zur Bewertung von Risiko und Resilienz bei Angehörigen der Streitkräfte) wurde außerdem festgestellt, dass „das Selbstmordrisiko damit korreliert, dass man weiß und männlich ist, einen niedrigeren Dienstgrad hat, kürzlich degradiert wurde und aktuell oder früher im Einsatz war“ – eine Beschreibung, die weitgehend auf Aaron Bushnell zutrifft.

Eine weitere Studie, die 2013 im Journal of Affective Disorders veröffentlicht wurde, berichtet von einem „dramatischen Anstieg der Selbstmorde“ innerhalb der Air Force. Dort erreichte die Rate ihren höchsten Stand seit 27 Jahren.[2] Dieser Trend hat sich fortgesetzt. Im Jahr 2020 gab es 109 Selbstmorde von Angehörigen der Air Force. Enthalten in dieser Zahl sind aktive Soldaten, Reservisten und der Air Force angehörende Mitglieder der Nationalgarde. Im Jahr 2021 gab es 72 Selbstmorde, und 2022 waren es 91. In den ersten beiden Quartalen des Jahres 2023 meldete die Air Force 46 Selbstmorde. Es ist die häufigste Todesursache bei Angehörigen der Air Force.

Bei der Bewertung der Ursachen stellte die 2013 im Journal of Affective Disorders veröffentlichte Studie fest, dass „nur ein Viertel der aktiven Angehörigen der Air Force, die durch Selbstmord sterben, jemals in einem Kampfgebiet eingesetzt waren, und weniger als 7 % direkt Kampfhandlungen miterlebt haben“. Allerdings, so der Bericht weiter, bestehe bei Angehörigen der Air Force ein Zusammenhang zwischen „Gefühlen des Bedauerns, der Reue oder einem schlechten Gewissen“ und Selbstmordgedanken. Zwar traten solche Gefühle vor allem bei denjenigen auf, die direkte Kampferfahrung hatten, aber es blieb ungeklärt, inwieweit sie auch bei größeren Teilen von Militärangehörigen vorhanden waren.

Dieser Faktor sollte bei der Bewertung des Selbstmords von Aaron Bushnell berücksichtigt werden. Das bedeutet nicht, den starken politischen Impuls und die politischen Ziele seiner Tat zu leugnen, sondern trägt zum Verständnis des breiteren sozialen Kontexts der Erfahrungen bei, die zu seinem Tod führten.

Das Nachrichtenportal The Intercept hat festgestellt, dass Aaron Bushnell auf Reddit unter dem Benutzernamen „acebush1“ gepostet hat, und berichtet:

Kurz bevor der Reddit-Nutzer acebush1 dem Militär beitrat, hatte er zu Beginn der Pandemie über seine finanziellen Schwierigkeiten berichtet. Am 19. März 2020 erkundigte sich acebush1, wie man Uber-Eats-Fahrer werden könne. Im darauf folgenden Monat bat er in einem Posting um finanzielle Hilfe: „HELP – Bekomme keine Förderung oder Arbeitslosenunterstützung, mir geht das Geld aus.“[3]

Im Mai 2020 schrieb sich Aaron für das Programm „Basic and Technical Training“ der Air Force ein. Schließlich wurde er auf dem Luftwaffenstützpunkt Lackland in San Antonio stationiert. Bei der 531st Intelligence Support Squadron, die den Geheimdienst unterstützt, wurde er zu einem Spezialisten für Cyber-Abwehroperationen ausgebildet.

Im August 2020 repostete er laut Intercept ein Video eines Militärflugzeugs und fügte eine Überschrift hinzu, in der die Fähigkeiten der Air Force bewundert wurden. Seine Postings ließen jedoch erkennen, dass sich seine Einstellung gegenüber der Air Force und seine politischen Vorstellungen deutlich nach links verschoben hatten. Er äußerte Sympathie für einen Gefangenenstreik in Alabama und postete ein Meme-Bild von Max Stirner, dem anarchistischen Philosophen aus dem 19. Jahrhundert. The Intercept berichtet: „2023 veröffentlichte acebush1 einen Beitrag mit dem Titel ‚Free Palestine‘ und verlinkte ein Video, auf dem Aktivisten die Drohnenfirma UAV Tactical Systems besetzten, die zum Teil von dem israelischen Rüstungsunternehmen Elbit Systems betrieben wird.“[4]

Im Juni 2023 schrieb acebush1:

Ich halte bis zum Ende meines Vertrags durch, denn ich habe erst nach mehr als der Hälfte der Zeit gemerkt, was das für ein Riesenfehler war, und jetzt habe ich nur noch ein Jahr vor mir. Aber die Reue werde ich für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen.[5]

Wir wissen bereits, dass diese Art von Reue ein großer Faktor für die Selbstmorde oder Selbstmordversuche unter Angehörigen der Air Force ist. Als Antwort auf die Frage eines Nutzers im Subreddit r/Airforce, ob Veteranen, wenn sie ihr Leben noch einmal von vorn beginnen könnten, sich noch einmal zum Dienst an der Waffe verpflichten würden, antwortete acebush1 laut dem Bericht des Intercept:

Auf keinen Fall. Ich habe mich mitschuldig gemacht an der gewaltsamen Beherrschung der Welt, und dieses Blut werde ich nie von meinen Händen bekommen.[6]

Obwohl Aaron nach derzeitigem Kenntnisstand nicht direkt an Kampfhandlungen beteiligt war, fühlte er sich moralisch für die von den Vereinigten Staaten begangenen Verbrechen verantwortlich und teilte die Schuldgefühle, die in der im Journal of Affective Disorders zitierten Studie als wesentlicher Faktor für Selbstmorde unter Angehörigen der Air Force genannt werden.

Insoweit dieses Schuldgefühl zu Aarons Selbstmord beigetragen hat, zeugt es von seiner moralischen Integrität. Darüber hinaus zeigt es, dass der Tod von Aaron Bushnell auf einer ganz grundlegenden Ebene mit der bestehenden Gesellschaftsordnung verknüpft ist, d. h. mit der umfassenden Struktur wirtschaftlicher, politischer und ideologischer Unterdrückung und Kriminalität, die ihre Wurzeln im Kapitalismus hat. Alle Erklärungen für Aarons Tod, die nur auf seinen psychologischen Zustand abstellen, als ob sich der Einzelne isoliert von der Gesellschaft entwickeln würde, sind falsch. Die vorrangige und wesentliche Ursache für seinen Tod waren die äußeren Faktoren, die sich aus den sozialen und politischen Umständen ergaben. Das ist die wichtigste Tatsache in Bezug auf den Selbstmord von Aaron.

Warum kam Aaron zu dem Schluss, dass Selbstmord die unausweichliche und einzige Antwort auf die Verbrechen des israelischen Staates und seiner Sponsoren in der Biden-Regierung war? Warum hat er sich entschieden, einer eindeutig politischen Lage auf so individuelle Weise zu begegnen?

Wenn man dieser Frage nachgeht, treten die Tragödie von Aarons Tod und die sehr schwierigen Probleme der heutigen Gesellschaft deutlich hervor. Selbst die komplexesten gesellschaftlichen Probleme, die sich aus dem Geflecht der globalen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen ergeben, durch Klasseninteressen vermittelt werden und alle Menschen auf dem Planeten betreffen, werden im Allgemeinen als individuelle Probleme erlebt und aufgefasst.

Der Grund für diese Neigung liegt nicht in persönlichen Fehleinschätzungen. Das Wesen des Kapitalismus – das sogenannte „private Unternehmertum“ – verstärkt die Vorstellung, dass die Gesellschaft lediglich eine Ansammlung isolierter Individuen sei.

Es war Karl Marx, der bei der Ausarbeitung der materialistischen Geschichtsauffassung diese Vorstellung erstmals in Frage stellte und widerlegte. Er schrieb im Jahr 1845: „Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“[7]

Der individualistische Charakter des täglichen Lebens und das damit verbundene Gefühl der persönlichen Isolation und Entfremdung nimmt in Zeiten der politischen Reaktion wie der heutigen, in der die Bindungen der gesellschaftlichen Solidarität und Klassensolidarität erodieren, einen besonders bösartigen Charakter an. In einer Reihe von Artikeln aus dem Jahr 1912 definierte Jewgeni Preobraschenski – ein marxistischer Revolutionär, Bolschewik, wichtiger Vertreter der von Leo Trotzki geführten Linken Opposition und schließlich Opfer von Stalins Säuberungsaktionen – den Selbstmord als eine Form des „sozialen Mordes“, der von der Gesellschaft begangen wird und besonders häufig vorkommt, wenn der Klassenkampf unterdrückt wird.

Jewgeni Preobraschenski

Preobraschenski schrieb:

Auch der hohe Prozentsatz an Selbstmorden in einer Epoche der Konterrevolution und der sozialen Unordnung lässt sich mit der hier erörterten Sichtweise leicht erklären. In einer aufblühenden Epoche schließen sich die Menschen enger zusammen, um gemeinsame Ziele zu erreichen, die Isolation des Einzelnen wird auf ein Minimum reduziert, und die mächtigen Kräfte des Kollektivs unterstützen den Einzelnen in seinem Leben und Streben. Ein völlig entgegengesetztes Bild ergibt sich in einer Epoche des Niedergangs, wenn alte Bindungen zerfallen und neue erst noch entstehen müssen, wenn die zentrifugalen Kräfte der Gesellschaft gegenüber den zentripetalen überwiegen. Das ohnmächtige Individuum, das der Gesellschaft gegenübersteht, verliert sein Gleichgewicht und geht bei der ersten Begegnung mit widrigen Umständen zugrunde, die es zu einer anderen Zeit nicht wesentlich berührt hätten.[8]

Preobraschenskis Analyse trägt dazu bei, das Zusammenwirken der persönlichen, sozialen und politischen Faktoren, die zu Aarons Selbstmord führten, besser zu verstehen. Nach Informationen der Washington Post wuchs Aaron in einer religiösen Gemeinschaft in Orleans (Massachusetts) auf, die sich „Community of Jesus“ nennt. Ehemalige Mitglieder werfen ihr Missbrauch vor, der bis Mitte der 1970er Jahre zurückreicht. Aaron hatte sich 2019 von dieser Gruppe losgesagt. Unter dem Druck finanzieller Probleme, die durch die Pandemie verschärft wurden, ging er schließlich zum Militär.

Doch schon bald fühlte er sich von der Kultur der Gleichgültigkeit und Brutalität abgestoßen. Er neigte nun eher linker Politik zu und suchte zunächst, wie so oft, Kontakt zu verschiedenen bürgerlichen Strömungen.

Zum Zeitpunkt des israelischen Angriffs auf Gaza hatte Aaron gerade erst begonnen, die politischen Implikationen seines Bruchs mit der Religion und dem reaktionären amerikanischen Nationalismus zu verarbeiten. Um die treffenden Worte von Preobraschenski zu entlehnen, Aarons „alte Bindungen“ waren zerfallen, aber die neuen waren erst im Entstehen begriffen.

Und so versuchte Aaron, durch einen Akt individueller Selbstaufopferung dem Schrecken von Gaza ein Ende zu setzen. Er wusste nicht, wie er sein edles Ziel anders erreichen konnte. Sein persönliches Martyrium war ein Appell. Er sah keine andere Möglichkeit, seinen persönlichen Kummer und seine Empörung in wirkungsvolles Handeln umzusetzen. Aarons Entschluss, seinen persönlichen Protest durch die Beendigung des eigenen Lebens zum Ausdruck zu bringen, folgte aus der Unvollständigkeit seines Bruchs mit einer religiös geprägten Weltanschauung und aus dem Fehlen eines Verständnisses für die objektiven Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft, die nicht nur der kapitalistisch-imperialistischen Barbarei zugrunde liegen, sondern auch Klassenkonflikte erzeugen und das Potenzial für die sozialistische Weltrevolution bergen.

Auch für diese Beschränktheit von Aarons Entwicklung gilt, dass sie nicht rein persönlicher Natur war, sondern Ausdruck der vorherrschenden sozialen, politischen und weltanschaulichen Verhältnisse. Aaron wurde am Vorabend des 21. Jahrhunderts geboren, fast zehn Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion – einer politischen und sozialen Katastrophe, hervorgegangen aus dem Verrat an den Kämpfen der Arbeiterklasse durch den Stalinismus, die Sozialdemokratie und die klassenkollaborierenden Gewerkschaften in den Vereinigten Staaten und international. In den Vereinigten Staaten gab es praktisch keine bedeutsamen oder längeren Manifestationen eines organisierten Kampfs der Arbeiterklasse mehr. Aaron hatte in den ersten 20 Jahren seines Lebens keinen einzigen nennenswerten Streik erlebt.

Darüber hinaus ging die Unterdrückung des Klassenkampfs durch die mit der Demokratischen Partei verbündeten Gewerkschaftsbürokratien mit einer nahezu einhelligen Ablehnung des Marxismus durch die universitäre Intelligenz einher. Die historische Verbindung des Sozialismus mit der Arbeiterklasse wurde ebenso verworfen wie die Perspektive der sozialistischen Revolution. „Linke“ Politik wurde in einer Weise umgedeutet, die nicht auf die entscheidende Frage der Gesellschaftsklasse, sondern auf verschiedene Formen der persönlichen Identität konzentriert war. Dies hat bis heute zur Folge, dass der Einfluss der reaktionären und demoralisierenden Einstellung des Individualismus gestärkt wird.

Es ist wichtig, Aarons Idealismus zu würdigen. Sein persönliches Opfer darf nicht vergessen werden. Doch um sein Andenken zu ehren, müssen aus seinem Tod die richtigen politischen Lehren gezogen werden. Deshalb ist es unsere Pflicht, alle Versuche, Aarons Selbstmord zu verherrlichen, aufs Schärfste zu kritisieren. Manche versteigen sich gar zu der Behauptung, dass der individuelle Märtyrertod eine wirksame Strategie und Taktik im Kampf gegen den vom israelischen Staat verübten Völkermord sei.

Ein besonders verstörender Versuch, Aarons Selbstmord zu rechtfertigen, ist der Aufsatz des Journalisten Chris Hedges mit dem Titel „Aaron Bushnell’s Divine Violence“ (Die göttliche Gewalt des Aaron Bushnell). Er wurde von Scheerpost, Consortium News und anderen Online-Publikationen veröffentlicht. Dieser Essay ist eine Mischung aus religiösem Mystizismus, bürgerlichem Utopismus, politischer Desorientierung, Geschichtsfälschung und Verherrlichung des Irrationalismus.

Hedges definiert den Selbstmord in religiösen Begriffen, indem er eingangs kundtut, dass Bushnell mit seinem Tod „die Gewalt gegen das radikal Böse setzte“. Anstatt die gesellschaftlichen Klassen, wirtschaftlichen Interessen und geopolitischen Strategien zu benennen, die hinter dem Krieg stehen, löst Hedges ein reales sozioökonomisches Phänomen in eine spirituelle Abstraktion auf: das „radikale Böse“, gemeinhin auch als „Teufel“ bekannt. Auf dieser Grundlage verlagert Hedges die Verantwortung für den Krieg von den Regierungen, den Politikern und der gesellschaftlichen Klasse, in deren Interesse sie handeln, auf die Menschheit im Allgemeinen. Aaron Bushnell, so Hedges, „ist für unsere Sünden gestorben“. Daraus lässt sich nur schließen, dass die gesamte Menschheit für die Verbrechen des amerikanischen Imperialismus, der Nato und ihrer israelischen Verbündeten verantwortlich ist.

Nachdem er den Konflikt mystifiziert hat, malt sich Hedges aus, wie es wäre, das amerikanische Militär in eine Kraft des Guten zu verwandeln.

Hedges stellt folgende Fragen:

Sollte die US-Flotte in einer gerechten Welt nicht die israelische Blockade von Gaza durchbrechen, um Lebensmittel, Unterkünfte und Medikamente zu bringen? Sollten US-Kampfflugzeuge nicht eine Flugverbotszone über Gaza verhängen, um die Bombardierung zu beenden? Sollte Israel nicht ein Ultimatum zum Rückzug seiner Streitkräfte aus dem Gazastreifen gestellt werden? Sollten die Waffenlieferungen, die milliardenschwere Militärhilfe und die geheimdienstliche Unterstützung für Israel nicht eingestellt werden? Sollten nicht sowohl diejenigen, die Völkermord begehen, als auch diejenigen, die Völkermord unterstützen, zur Rechenschaft gezogen werden?

Diese einfachen Fragen sind es, mit denen uns Bushnells Tod konfrontiert.

Als Antwort auf Hedges sei uns die Frage erlaubt: „In welcher Kirche, Synagoge oder Moschee sollen wir für die Verwirklichung dieser ‚gerechten Welt‘ beten?“ Die Fragen, die er stellt, sind nicht „einfach“. Sie sind einfach absurd. Warum sollte ein intelligenter, mit nur etwas Sinn für die politische Realität begabter Mensch solche Fragen stellen? Hedges’ Fragen gehen von einer Welt aus, wie sie sich die Liberalen vorstellen: Alles wäre in bester Ordnung, wenn nur das „Böse“ durch das „Gute“ ersetzt würde. Das ist im Kern die Philosophie jeder Protestpolitik.

Aber die Fragen ergeben keinen Sinn. Warum sollte es in der „gerechten Welt“, die Hedges sich ausmalt, überhaupt Bedarf an Kriegsflugzeugen, Flugverbotszonen und Ultimaten geben? Hedges’ „einfache Fragen“ ergeben nur dann einen Sinn, wenn man sich den US-Imperialismus als eine wandelbare und potenziell gute Kraft vorstellt. Israel hingegen wird als die Manifestation des reinen und unabänderlich Bösen aufgefasst. Die christlichen und bigotten Untertöne dieser Hypothese sind unverkennbar.

Um seinen moralischen Appell für einen wohlwollenden US-Imperialismus zu untermauern, behauptet Hedges, dass „die Koalitionsstreitkräfte nach dem ersten Golfkrieg 1991 im Nordirak intervenierten, um die Kurden zu schützen“. Hedges hat offenbar vergessen, dass der Golfkrieg von 1991 den Beginn der gewaltsamen Eruption des amerikanischen Imperialismus markierte, die mit der Auflösung der Sowjetunion einherging. Hunderttausende von Irakern wurden im Laufe dieses Krieges getötet. Die Ausrufung einer Flugverbotszone hatte nichts mit dem Schutz der Kurden zu tun. Die Maßnahmen, die Präsident Bush senior während der Invasion des Irak anordnete, wurden ausschließlich von seiner Einschätzung der taktischen Interessen der US-Armee diktiert.

Die übelsten Abschnitte in Hedges’ Essay sind diejenigen, in denen er Bushnells „Selbstverbrennung“ als „starke politische Botschaft“ vehement unterstützt.

Hedges schreibt: „Es rüttelt den Betrachter aus der Schläfrigkeit auf. Es zwingt den Betrachter, seine Annahmen zu hinterfragen. Es fordert den Betrachter dringend zum Handeln auf. Es ist ein politisches Schauspiel oder vielleicht ein religiöses Ritual in seiner stärksten Form.“

Hedges’ uneingeschränkte Befürwortung von Bushnells Selbstmord, mit der er sich nicht nur nachträglich zum Komplizen des Todes des jungen Mannes macht, sondern auch zum Anstifter künftiger Protestselbstmorde, beruht auf einer völligen Verdrehung der politischen Realität. Ausgehend von Hedges’ Darstellung könnte man annehmen, dass Aaron vor dem Hintergrund Selbstmord beging, dass das Abschlachten der Bewohner von Gaza bei den Massen auf Gleichgültigkeit stieß und es keine Anzeichen für Widerstand gegen die Massentötung von Palästinensern gab. Was blieb Aaron also anderes übrig, als sein Leben zu opfern und sich in einem verzweifelten Versuch, ein gewisses Maß an Interesse für die Menschen in Gaza zu wecken, selbst furchtbare Gewalt anzutun?

Doch im Gegensatz zu der von Hedges erdachten und erfundenen Darstellung wurde der israelische Angriff mit Massenprotesten in der ganzen Welt beantwortet. Es gab unzählige Demonstrationen, an denen sich in einigen Fällen Hunderttausende beteiligten. Nicht zu vergessen, dass in vielen Fällen eine große Anzahl von Juden an den Protesten teilgenommen und diese sogar organisiert hat.

Tausende Teilnehmer bei einem von der Jüdischen Stimme für den Frieden organisierten Protest in New York City

Wenn die Wirksamkeit der Proteste beschränkt blieb, so lag dies nicht an der Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit, sondern am Fehlen einer politischen Perspektive und Strategie, auf die sich der Kampf gegen den Völkermord in Gaza und, allgemeiner, gegen die Vorbereitungen der imperialistischen Mächte auf einen dritten Weltkrieg und den Einsatz von Atomwaffen stützen kann.

Die Proteste blieben im Rahmen der bestehenden bürgerlichen Politik. Sie zielten nicht auf eine unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Herrschaft ab, sondern darauf, Druck auf die bürgerlichen Regierungen auszuüben, damit sie ihre Politik ändern.

Genau dies ist die politische Orientierung, die von Hedges vertreten wird. Er verweist auf frühere Fälle von Selbstverbrennungen – in Tunesien, Südvietnam und Tibet – als Beispiele für die Wirksamkeit ritueller Selbstmorde. „Diese individuellen Selbstaufopferungen“, schreibt er, „werden oft zu Kristallisationspunkten für den Massenwiderstand.“

Es stimmt natürlich, dass es Fälle gab, in denen ein solch dramatisches Ereignis Proteste ausgelöst oder verstärkt hat. Doch in keinem Fall haben rituelle Selbstmorde zu einer wirksamen Strategie für die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft beigetragen. Tatsächlich betrafen zwei der drei von Hedges angeführten Fälle, in Südvietnam und Tibet, Selbstverbrennungen reaktionärer politischer Kräfte, die vom amerikanischen Imperialismus für seine Zwecke instrumentalisiert wurden.

So setzte beispielsweise 1963 die Selbstopferung des buddhistischen Mönchs Thích Quảng Đức eine Kette von Ereignissen in Gang, die von der Kennedy-Regierung genutzt wurden, um das Diệm-Regime zu stürzen – das als unfähig angesehen wurde, einen effektiven Kampf gegen Nordvietnam und die Nationale Befreiungsfront zu führen – und eine Militärjunta an die Macht zu bringen.

Die Selbstverbrennung von Thích Quảng Đức am 11. Juni 1963

Was die Selbstverbrennungen in Tibet betrifft, so werden sie von den Interessen Washingtons geleitet, das die separatistische Bewegung als Waffe gegen China fördert. Diese Bewegung hat nichts auch nur im Entferntesten Fortschrittliches an sich. Im Falle Tunesiens, wo der Selbstmord eines jungen Arbeiters Massenproteste auslöste, sind zehn Jahre später dieselben politischen Kräfte, die in der ersten Protestwelle gestürzt wurden, wieder an der Macht.

Doch Hedges kann seine Begeisterung nicht im Zaum halten. Selbstverbrennungen, schreibt er, „sind Opfergeburten. Sie kündigen etwas Neues an. Sie sind die völlige Ablehnung aller Konventionen und herrschenden Machtsysteme in ihrer dramatischsten Form.“

Das ist nicht wahr. Sie sind nichts dergleichen. Je nach den Umständen können solche Protestaktionen darauf abzielen, eine personelle Veränderung des bestehenden Regimes herbeizuführen. Oder, und das ist der häufigere Fall, es soll Druck auf die Machthaber ausgeübt werden, damit sie ihre Politik ändern.

Die rituellen Selbstmorde sind nicht bewusst auf den Umsturz der bestehenden Eigentumsverhältnisse, die Zerschlagung des kapitalistischen Staates und seiner Institutionen und die Übertragung der Macht an die Arbeiterklasse gerichtet.

Im Gegenteil, sie sind im Grunde genommen mit der Perspektive des Sozialismus und der sozialistischen Revolution unvereinbar. Grundlage für das Programm der sozialistischen Revolution ist eine wissenschaftliche Analyse der sozioökonomischen Struktur der Gesellschaft. Die grundlegende Triebkraft der sozialen Revolution ist nicht unausgegorene und verzweifelte Wut, sondern das Verständnis der objektiven Widersprüche des kapitalistischen Weltsystems und die soziale Massenaktion, die sich vom Verständnis dieser Widersprüche leiten lässt.

Hedges jedoch lehnt ein rationales Verständnis der politischen Realität als wirkungslos ab. Er beruft sich auf den Theologen Reinhold Niebuhr, der von einem „erhabenen Wahnsinn in der Seele“ spricht und behauptet, dass „nichts als ein solcher Wahnsinn den Kampf mit der böswilligen Macht und geistigen Niedertracht in hohen Positionen aufnehmen wird“. Dies ist eine reine Verherrlichung des politischen Irrationalismus, der in Wirklichkeit eine Orientierung nach rechts und nicht nach links zum Ausdruck bringt. Rechte Politik ist eng mit irrationalen Gefühlen verknüpft. Wirklich fortschrittliches, linkes, sozialistisches Denken orientiert sich an wissenschaftlicher Erkenntnis.

Hedges schließt seinen Aufsatz mit der folgenden Erklärung:

Göttliche Gewalt ist für eine korrupte und diskreditierte herrschende Klasse erschreckend. Sie entlarvt ihre Verkommenheit. Sie zeigt, dass nicht jeder von Angst gelähmt ist. Sie ist ein Weckruf zum Kampf gegen das radikal Böse. Das war die Absicht von Bushnell. Mit seinem Opfer spricht er das Bessere in uns an.

Der Aufsatz von Hedges zeigt den Pessimismus, den intellektuellen Bankrott und den zutiefst reaktionären Charakter der pseudolinken Mittelschicht, d. h. der ideologischen Vorstellungen, die im Allgemeinen an den Universitäten vorherrschen.

1940 traf Leo Trotzki im Zuge eines parteiinternen Kampfs gegen eine antimarxistische Tendenz, die in der amerikanischen Sektion der Vierten Internationale entstanden war, die Feststellung, dass die größte soziale Revolution der Geschichte – die Eroberung der Macht durch die russische Arbeiterklasse im Oktober 1917, ein weltbewegendes Ereignis – von der Partei angeführt wurde, deren Arbeit nicht mit dem Werfen von Bomben, sondern mit der Verteidigung und Ausarbeitung der dialektisch-materialistischen Theorie begonnen hatte.

Trotzki verwies auf den langen Kampf, den die russischen Marxisten seit den 1880er Jahren gegen die terroristischen Methoden der russischen Volkstümler geführt hatten. Damals polemisierten die Marxisten gegen Terroranschläge auf Staatsbeamte. Diese Praxis unterschied sich in vielerlei Hinsicht vom Selbstmord, der zu dieser Zeit von keiner ernsthaften politischen Strömung befürwortet wurde. Doch wesentliche Aspekte der Argumente gegen Terroranschläge sind für die Ablehnung des von Hedges propagierten Selbstmords als „politisches Schauspiel“ durchaus relevant.

Das Hauptproblem besteht darin, dass mit der Politik des Terrorismus die Massenaktion der Arbeiterklasse durch die heroische Tat eines Einzelnen ersetzt wird. Auch wenn sich Terroranschläge gegen ein Staatsoberhaupt richteten, konnten sie keine radikale Veränderung der Gesellschaft bewirken. Ein Tyrann würde durch einen anderen Tyrannen ersetzt werden. Anstatt das politische Bewusstsein der Massen zu heben, wurden sie durch die Terroranschläge zu passiven Beobachtern des Konflikts zwischen Attentätern und Polizeibehörden degradiert.

Abschließend möchte ich an einen tragischen Vorfall erinnern, der sich am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, im November 1938, ereignete.

Der 17-jährige Herschel Grynszpan, ein in Polen geborener jüdischer Einwanderer, der in Paris lebte, ermordete einen Nazi-Diplomaten der deutschen Botschaft namens Ernst vom Rath. Der Anschlag war nicht sorgfältig vorbereitet. Die anschließenden Ermittlungen ergaben, dass Grynszpan aus Wut über die Verfolgung der Juden durch die Nazis und das Leiden seiner eigenen Familie zur deutschen Botschaft gegangen war, um sich zu rächen. Er hatte keine bestimmte Person als Ziel ausgewählt. Er hatte keine politische Erfahrung. Grynszpan erschoss den ersten Beamten, der ihm über den Weg lief, und vom Rath hatte das Pech, dass es ihn traf.

Das Attentat hatte weitreichende und üble Folgen. Das Hitlerregime nutzte den Anschlag aus, um die gewaltsamen Angriffe auf die deutschen Juden zu verschärfen. Nur wenige Stunden nach vom Raths Tod am 9. November 1938 zettelten die Nazis das antijüdische Pogrom an, das sie als „Kristallnacht“ bezeichneten.

Grynszpan, der an Ort und Stelle verhaftet worden war, wurde mit wüsten Beschimpfungen überhäuft – nicht nur von den Faschisten, sondern auch von der „linken“ Volksfrontregierung in Frankreich, die von der stalinistischen Kommunistischen Partei unterstützt wurde. Sie warf dem Jugendlichen vor, die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland zu untergraben und die linke Regierung zu schwächen.

Die Einzigen, die ihre Stimmen zur Verteidigung von Grynszpan erhoben, waren Leo Trotzki und seine Anhänger in Frankreich. Trotzki verteidigte Grynszpan in einem großartigen Essay gegen seine Verfolger. Zugleich lehnte er die von dem jungen Mann gewählte terroristische Methode klar ab. Er nahm Stellung zu einem politischen Attentat auf einen faschistischen Beamten, nicht zu einem Selbstmord. Dennoch ist Trotzkis Kritik an Grynszpans Tat, die dieser mit dem Leben bezahlte, auch heute noch von großer Bedeutung. Trotzki verstand den Hass des Jugendlichen auf den Vertreter des Faschismus und die Verzweiflung, die er empfand.

Er wurde jedoch seiner Verantwortung als revolutionärer Führer gerecht und riet der Jugend dringend davon ab, Grynszpans Tat nachzuahmen. Er schrieb, und dieser Aufsatz war zu seiner Zeit einzigartig:

Vom moralischen Standpunkt – und nicht hinsichtlich seiner Aktionsmethoden – kann Grynszpan jedem jungen Revolutionär als Vorbild dienen. Unsere moralische Solidarität mit Grynszpan gibt uns ein besonderes Recht, allen noch kommenden Grynszpans und all denen, die sich im Kampf gegen den Despotismus und die Bestialität zu opfern fähig sind, zuzurufen: Findet einen anderen Weg! Nicht der isolierte Rächer, sondern nur eine große revolutionäre Massenbewegung, die von dem System der Klassenausbeutung, von nationaler Unterdrückung und Rassenverfolgung nichts bestehen lassen wird, kann die Unterdrückten befreien. Die beispiellosen Verbrechen des Faschismus erzeugen einen völlig gerechtfertigten Rachedurst. Doch die Menge dieser Verbrechen ist so ungeheuerlich, dass dieser Durst nicht durch den Mord isolierter faschistischer Bürokraten gestillt werden kann. Dazu müssen Millionen, zehn und hunderte Millionen Unterdrückter in der ganzen Welt mobilisiert und zum Ansturm gegen die Grundlagen der alten Gesellschaft geführt werden. Nur der Sturz aller Formen der Versklavung, die völlige Vernichtung des Faschismus, nur die Ausübung der schonungslosen Justiz des Volkes gegen die zeitgenössischen Banditen und Gangster können der Empörung des Volkes eine wirkliche Genugtuung verschaffen. Genau das ist die Aufgabe, die sich die Vierte Internationale gestellt hat. Sie wird die Arbeiterbewegung von der Plage des Stalinismus säubern. Sie wird in ihren Reihen die heroische Generation der Jugend vereinigen. Sie wird einen Weg bahnen zu einer edleren und menschlichen Zukunft.[9]

Leo Trotzki

Diese Worte finden in unserer Zeit ein Echo und fassen – bei allen Unterschieden – die politischen Lehren zusammen, die aus dem tragischen Tod von Aaron Bushnell gezogen werden sollten.

Ich wende mich an diejenigen unter euch, die wirklich kämpfen wollen, die empört und entsetzt sind über das, was wir jeden Tag sehen, die wissen, dass in diesem Moment Kinder und sogar Säuglinge in Gaza sterben, kein Trinkwasser bekommen, nichts zu essen haben und unter völlig unmenschlichen Bedingungen leben, und die mit Empörung und Entrüstung erleben, wie der Präsident der Vereinigten Staaten all dies rechtfertigt und sogar sagt: „Wir dürfen nicht weitere 30.000 Tote im Gazastreifen zulassen – vielleicht 5.000, vielleicht 10.000, 15.000, aber nicht 30.000.“ Das findet selbst Biden zu viel.

Diejenigen unter euch, die von all dem angewidert sind – welche politischen Schlussfolgerungen werdet ihr daraus ziehen? Was ist notwendig, um all dem ein Ende zu setzen? Keine individuellen Racheakte, keine persönlichen Akte der Selbstaufopferung, sondern eine Hinwendung zu der einzigen gesellschaftlichen Kraft, die aufgrund ihrer objektiven Rolle im kapitalistischen Produktionsprozess, ihrer Stellung zu den Produktivkräften, ihrer potenziellen wirtschaftlichen Macht und ihres globalen Charakters die Fähigkeit hat, den Kapitalismus in die Knie zu zwingen und damit die Grundlagen des Militarismus zu zerstören.

Das ist die Aufgabe, die sich unsere Partei gestellt hat und an der wir arbeiten: durch die Veröffentlichung der World Socialist Web Site, durch die Aktivitäten der International Youth and Students for Social Equality und die Kandidatur von Joseph Kishore für das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten und von Jerry White für das Amt des Vizepräsidenten, für die Socialist Equality Party. Wir nutzen diese Kampagne, um Arbeiter, Jugendliche und Studierende für die Kämpfe, die ausbrechen werden und ausbrechen müssen, auszubilden und politisch vorzubereiten, um sie in die Lage zu versetzen, an den Kämpfen der Arbeiterklasse teilzunehmen und sie anzuführen und dieser mächtigen kommenden Bewegung eine wirklich revolutionäre Perspektive zu vermitteln.

Setzt also eure Wut und Empörung in wirkungsvolles politisches Handeln um, in die Entschlossenheit, die marxistische Theorie zu meistern, euch die Lehren aus der Geschichte anzueignen und euch mit den großen revolutionären Kämpfen des letzten Jahrhunderts vertraut zu machen.

Und ich sage das mit einer gewissen Dringlichkeit, denn es bleibt nicht mehr viel Zeit. Wie ihr den Nachrichten entnehmen könnt, wird eifrig über eine Intervention der Nato in der Ukraine diskutiert. Biden und seine Kollegen und Mitverschwörer in der Nato spielen Russisch Roulette mit der Gefahr eines Atomkriegs. Sie haben bereits unter Beweis gestellt, dass ihnen ein Massensterben gleichgültig ist: durch ihre Haltung gegenüber Covid, durch die Art und Weise, wie sie für die globalen strategischen Interessen Amerikas das Leben von Hunderttausenden Ukrainern geopfert haben und durch ihre Bereitschaft, den Einsatz von Atomwaffen als akzeptable Form militärischer Auseinandersetzungen zu betrachten.

Wir sind mit großen politischen Fragen und Herausforderungen konfrontiert. Sie können gelöst werden. Aber um sie zu lösen, müssen wir eine revolutionäre Partei aufbauen. Diese Partei muss die großen Massen der Arbeiterklasse für sich gewinnen. Das ist die grundlegende, fundamentale Lehre, die wir aus dem Tod von Aaron Bushnell und aus dem Verständnis der Krise unserer Zeit ziehen müssen.


[1]

Michael McCarthy, „Suicide rates double among US soldiers between 2004 and 2009, research shows“, auf: BMJ, 6. März 2014, doi: https://doi.org/10.1136/bmj.g1987.

[2]

Craig J. Bryan, Bobbie Ray-Sannerud, Chad E. Morrow, Neysa Etienne, „Guilt is more strongly associated with suicidal ideation among military personnel with direct combat exposure“, in: Journal of Affective Disorders, Jg. 148, Nr. 1, 2013, Seiten 37–41, doi: https://doi.org/10.1016/j.jad.2012.11.044.

[3]

Nikita Mazurov, „Aaron Bushnell, Who Self-Immolated for Palestine, Had Grown Deeply Disillusioned With the Military“, auf: The Intercept, https://theintercept.com/2024/02/28/aaron-bushnell-reddit-fire-protest-israel-palestine/.

[4]

Ebd.

[5]

Ebd.

[6]

Ebd.

[7]

Karl Marx, „Thesen über Feuerbach“, Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 3, Berlin 1969, S. 6 .

[8]

E. A. Preobrazhensky, The Preobrazhensky Papers, Archival Documents and Materials, Bd. 1, 1886–1920, Richard B. Day und Mikhail M. Gorinov (Hrsg.), Leiden 2014, S. 243–244.

[9]

Leon Trotsky, „For Grynszpan“, in: Socialist Appeal, Jg. 3, Nr. 7, 14. Februar 1939, S. 4. Auf Deutsch verfügbar unter Leo Trotzki: Für Grynszpan (1939) (marxists.org)

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