Lenins Platz in der Geschichte

Anlässlich des 100. Todestags von Lenin am 21. Januar veröffentlichen wir erneut diesen Essay des Vorsitzenden der internationalen WSWS-Redaktion, David North. Er erschien ursprünglich zum 150. Geburtstag Lenins am 22. April 2020.

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Vor 150 Jahren, am 22. April 1870, wurde in der russischen Stadt Simbirsk Wladimir Iljitsch Uljanow geboren. Als Gründer der Bolschewistischen Partei und Führer der Oktoberrevolution von 1917 ging er unter dem Namen Lenin in die Geschichte ein. Ganz ohne Zweifel war er eine herausragende Persönlichkeit in der Politik und Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Leo Trotzki schrieb einmal, dass das ganze Wesen Lenins in der Oktoberrevolution zusammengefasst ist. Was Trotzki mit dieser Beobachtung meinte, führte er in seiner Geschichte der Ereignisse von 1917 aus: „Neben Fabriken, Kasernen, Dörfern, Front, Sowjets besaß die Revolution noch ein Laboratorium: Lenins Kopf.“[1]

Dieser Kopf hatte sich jahrzehntelang mit dem Problem der Revolution beschäftigt. In der Eroberung der politischen Macht durch die russische Arbeiterklasse im Oktober 1917 trafen zwei weltgeschichtliche Prozesse zusammen: erstens die Entwicklung der Widersprüche des russischen und des Weltkapitalismus und zweitens Lenins langwieriger, auf eine philosophisch-materialistische, d. h. marxistische Analyse der objektiven sozioökonomischen Bedingungen gestützter Kampf für den Aufbau der revolutionären sozialistischen Partei, die für die Arbeiterklasse notwendig ist, um ihre Unabhängigkeit von allen politischen Agenturen der Bourgeoisie zu erlangen.

Lenin bei einer Rede 1919

Wenn man das Genie und die einzigartige historische Rolle Lenins zu beschreiben sucht, muss man sagen, dass es außer Marx und Engels keine andere Gestalt in der Geschichte der sozialistischen Bewegung gibt, in deren politischer Arbeit das Verhältnis zwischen der bewussten Anwendung des philosophischen Materialismus – bereichert durch die neuesten Erkenntnisse der Naturwissenschaft (insbesondere der Physik) – und der Erarbeitung der politischen Analyse und revolutionären Strategie einen solch expliziten, systematischen und in sich geschlossenen Ausdruck fand.

Das beeindruckendste Kennzeichen von Lenins theoretisch-politischem Werk ist, dass er über Jahrzehnte hinweg alle Anstrengungen darauf richtete, das Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse anzuheben und sie damit in die Lage zu versetzen, ihre Praxis mit der objektiven sozioökonomischen Notwendigkeit in Einklang zu bringen. Bürgerliche Moralisten, zahllose Akademiker und andere Feinde des Leninismus haben oft die „Rücksichtslosigkeit“ des großen Revolutionärs angeprangert. Aber das ist das falsche Wort. Das politische Wesen von Lenins „Rücksichtlosigkeit“ war, um erneut Trotzki zu zitieren, „vor allem Realismus, höchst entwickeltes Registrieren der qualitativen und quantitativen Aspekte der Wirklichkeit unter dem Aspekt des revolutionären Handelns“.[2]

Erwähnenswert ist, dass in Lenins frühesten Schriften mit dem Titel „Was sind die ‚Volksfreunde‘ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten“ (1894 entstanden und in Band 1 seiner Gesammelten Werke veröffentlicht) eine leidenschaftliche Verteidigung des philosophischen Materialismus zu finden ist, in der er sich gegen die „subjektive Soziologie“ des Theoretikers der Volkstümler, Nikolai Michailowski wandte. Lenin schrieb, dass die materialistische Schlussfolgerung – dass „der Gang der Ideen vom Gang der Dinge abhängt“ – „als einzige mit der wissenschaftlichen Psychologie vereinbar“ ist. Lenin fuhr fort:

Bisher fiel es den Soziologen schwer, in dem komplizierten Netz der sozialen Erscheinungen wichtige Erscheinungen von unwichtigen zu unterscheiden (hier liegt die Wurzel des Subjektivismus in der Soziologie), und sie konnten kein objektives Kriterium für eine solche Unterscheidung ausfindig machen. Der Materialismus gab ein völlig objektives Kriterium an die Hand, indem er die „Produktionsverhältnisse“ als die Struktur der Gesellschaft heraushob und es möglich machte, auf diese Verhältnisse jenes allgemein-wissenschaftliche Kriterium der Wiederholbarkeit anzuwenden, dessen Anwendbarkeit auf die Soziologie die Subjektivsten bestritten.[3]

Lenins Verteidigung des Materialismus lagen entscheidende Fragen der politischen Perspektive und Strategie zugrunde: Auf welche gesellschaftliche Kraft sollte die sozialistische Bewegung ihre Arbeit ausrichten? Auf die Bauernschaft oder auf die Arbeiterklasse?

Lenins Beharren auf einer rigorosen Analyse objektiver sozioökonomischer Prozesse hatte nichts mit politischer Passivität zu tun, bei der der Sozialist nur abwarten muss, bis die Geschichte ihren Lauf nimmt. Lenin stellte den Materialismus dem Objektivismus gegenüber. In einem weiteren Angriff auf die Volkstümler, geschrieben 1894–1895, erklärte er:

Der Objektivist spricht von der Notwendigkeit des gegebenen historischen Prozesses; der Materialist trifft genaue Feststellungen über die gegebene sozialökonomische Formation und die von ihr erzeugten antagonistischen Verhältnisse. Wenn der Objektivist die Notwendigkeit einer gegebenen Reihe von Tatsachen nachweist, so läuft er stets Gefahr, auf den Standpunkt eines Apologeten dieser Tatsachen zu geraten; der Materialist enthüllt die Klassengegensätze und legt damit seinen Standpunkt fest. Der Objektivist spricht von „unüberwindlichen geschichtlichen Tendenzen“; der Materialist spricht von der Klasse, die die gegebene Wirtschaftsordnung „dirigiert“ und dabei in diesen oder jenen Formen Gegenwirkungen der anderen Klassen hervorruft. Auf diese Weise ist der Materialist einerseits folgerichtiger als der Objektivist und führt seinen Objektivismus gründlicher, vollständiger durch. Er begnügt sich nicht mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit des Prozesses, sondern klärt, welche sozialökonomische Formation diesem Prozess seinen Inhalt gibt, welche Klasse diese Notwendigkeit festlegt. ... Anderseits schließt der Materialismus sozusagen Parteilichkeit in sich ein, da er dazu verpflichtet ist, bei jeder Bewertung eines Ereignisses direkt und offen den Standpunkt einer bestimmten Gesellschaftsgruppe einzunehmen.[4]

Dieser Abschnitt war eine Antwort auf Pjotr Struwe, den „legalen Marxisten“ und künftigen Führer der bürgerlichen Liberalen in Russland. Aber er nahm zugleich den Kampf vorweg, den Lenin ein Jahrzehnt später gegen die politische Strömung der Menschewiki führen sollte. Diese Tendenz verlangte, dass sich die Arbeiterklasse in der kommenden bürgerlich-demokratischen Revolution der politischen Führung der Kapitalistenklasse unterordnen sollte.

Lenin wurde 1895 von der zaristischen Polizei verhaftet und musste die nächsten fünf Jahre im Gefängnis und im sibirischen Exil verbringen. Es waren wertvolle Jahre intensiver theoretischer Arbeit. Er studierte die Philosophie Hegels und setzte sich mit der Dialektik auseinander, die er schließlich meisterte.

Im Jahr 1900 endete Lenins Zeit im Exil. Schon bald gelangte er nach Westeuropa, wo er nach einer etwas schwierigen ersten Begegnung eine enge Zusammenarbeit mit dem „Vater des russischen Marxismus“, G. W. Plechanow, begann.

Um die Jahrhundertwende war die sozialdemokratische Bewegung in Europa mit einem revisionistischen Angriff auf den Marxismus konfrontiert, der von Eduard Bernstein ausging. Das politische Ziel des Revisionismus bestand darin, das Programm der sozialistischen Revolution durch bürgerlichen Sozialreformismus zu ersetzen. Auf theoretischer Ebene vertrat er die idealistische Philosophie des akademischen Neo-Kantianismus im Gegensatz zum dialektischen Materialismus.

Angesichts der anschließenden Entwicklung der europäischen sozialdemokratischen Bewegung, von 1898 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, ist es von besonderer Bedeutung, dass die wichtigsten Beiträge zum theoretischen und politischen Kampf gegen den Revisionismus nicht von den deutschen Sozialdemokraten, sondern von der polnischen Marxistin Rosa Luxemburg und zwei bedeutenden Vertretern der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) geleistet wurden: Plechanow und Lenin.

Luxemburgs Schrift „Sozialreform oder Revolution“ war eine vernichtende Entlarvung der politischen Konsequenzen von Bernsteins Revisionismus. Plechanows Kritik am neokantianischen Revisionismus Bernsteins und seiner Anhänger gehört bis heute zu den brillantesten Darstellungen der historischen Entwicklung und der theoretischen Methodologie des dialektischen Materialismus.

Als der theoretisch schärfste und politisch weitsichtigste Beitrag zum Kampf gegen Revisionismus und Opportunismus erwies sich jedoch Lenins Schrift „Was tun?“ Mit größerer Tiefe und Konsequenz als jeder andere Marxist seiner Zeit, einschließlich Kautsky, enthüllte und erklärte Lenin die objektive Bedeutung und die politischen Implikationen einer Geringschätzung der marxistischen Theorie.

Darüber hinaus führte Lenin den Nachweis über den untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Kampf gegen den Einfluss des Opportunismus in all seinen Formen – theoretisch, politisch und organisatorisch – und dem Aufbau der revolutionären Partei, mit der die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse hergestellt wird.

Lenin prangerte alle Tendenzen als opportunistisch an, die die Bedeutung des expliziten Kampfs für sozialistisches Bewusstsein herunterspielten und stattdessen die spontane Entwicklung (ohne Zutun der Marxisten) des Bewusstseins und der Praxis der Arbeiterklasse verherrlichten. Er schrieb:

Kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein, so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine „dritte“ Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie. Man redet von Spontaneität. Aber die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung führt eben zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie.[5]

Lenin arbeitete den Gegensatz zwischen sozialistischem und gewerkschaftlichem Bewusstsein, das er als die bürgerliche Ideologie der Arbeiterklasse definierte, scharf heraus:

Darum besteht unsere Aufgabe, die Aufgabe der Sozialdemokratie, im Kampf gegen die Spontaneität, sie besteht darin, die Arbeiterbewegung von dem spontanen Streben des Trade-Unionismus, sich unter die Fittiche der Bourgeoisie zu begeben, abzubringen und sie unter die Fittiche der revolutionären Sozialdemokratie zu bringen.[6]

„Was tun?“ erschien 1902. Aber erst 1903, auf dem Zweiten Parteitag der SDAPR, bestätigte sich, wie weitsichtig Lenin die politischen Implikationen des Kampfs gegen den Opportunismus analysiert hatte. Die Spaltung, zu der es auf diesem Parteitag kam – aus einer augenscheinlich „geringfügigen“ Meinungsverschiedenheit über die Bedingungen für die Parteimitgliedschaft gingen die bolschewistische und die menschewistische Fraktion hervor – wurde von vielen Delegierten zunächst als unnötige oder sogar böswillige Zerstörung der Einheit der Partei aufgefasst, die durch Lenins übertriebenen Fraktionalismus verursacht wurde.

Lenin beantwortete diese Vorwürfe mit einer detaillierten Analyse des Ablaufs des Zweiten Parteitags, der sich über 37 Sitzungen innerhalb von drei Wochen erstreckt hatte. In dieser Analyse, die unter dem Titel „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ erschien, wies er nach, dass die menschewistische Fraktion in der russischen sozialistischen Bewegung ein Ausdruck opportunistischer – zu Kompromissen und zur Versöhnung mit den liberalen und reformistischen Parteien der Bourgeoisie neigender – Tendenzen war, die sich in sozialdemokratischen Parteien in ganz Europa herausgebildet hatten.

Die späteren Ereignisse in Russland, insbesondere während und nach der Revolution von 1905, bestätigten Lenins Analyse des Klassencharakters und der demokratisch-liberalen Ausrichtung der revisionistischen und opportunistischen Tendenzen. Die politische Differenzierung zwischen der bolschewistischen und der menschewistischen Tendenz in den Jahren nach dem Zweiten Parteitag auch nur in groben Zügen nachzuzeichnen, würde natürlich den Rahmen dieses Nachrufs sprengen.

Dennoch muss betont werden, dass sich Lenins Verständnis des „innerparteilichen Kampfs“ gegen den Opportunismus in all seinen Formen grundlegend von den Vorstellungen unterschied, die allgemein in der Zweiten Internationale vorherrschten. Lenin analysierte Konflikte über Fragen des Programms, der Taktik, der Organisation und des Programms als Ausdruck objektiver gesellschaftlicher Gegensätze innerhalb von Parteien und Fraktionen. Solche Auseinandersetzungen waren keine Ablenkung von der Beteiligung der sozialistischen Bewegung am Klassenkampf, sondern ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil eben dieses Kampfs.

In seinem Bemühen, die sozioökonomischen Prozesse aufzudecken, die der Entwicklung des Kampfs zwischen Tendenzen zugrunde lagen, erkannte Lenin im Opportunismus die Manifestation bürgerlicher und kleinbürgerlicher Interessen und deren Druck auf die revolutionäre Vorhut. Die angemessene Reaktion auf diesen Druck, in welcher Form auch immer er sich bemerkbar machte, bestand nicht in der Suche nach einvernehmlichen Lösungen und Kompromissen. Der Opportunismus war in Lenins Augen kein legitimer Bestandteil der Arbeiterbewegung. Es handelte sich vielmehr um eine schwächende, demoralisierende und reaktionäre Kraft, die darauf hinarbeitete, die Arbeiterklasse vom Programm der sozialen Revolution abzubringen und zur Kapitulation vor der Bourgeoisie zu bewegen.

Durch diese kompromisslose Feindschaft gegenüber dem Opportunismus unterschied sich der Bolschewismus in der Zeit vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs von allen anderen politischen Parteien und Tendenzen innerhalb der Zweiten Internationale.

Die weltgeschichtliche Bedeutung des Kampfs, den Lenin gegen den Opportunismus geführt hatte, sollte sich 1914 bestätigen. Nahezu über Nacht brachen die führenden Parteien der Zweiten Internationale ihr Versprechen, die Solidarität der internationalen Arbeiterklasse hochzuhalten, und kapitulierten vor den herrschenden Klassen ihrer Länder. Lenins Opposition gegen den Verrat der Zweiten Internationale und seine Forderung nach dem Aufbau einer Dritten Internationale brachte ihn und die Bolschewistische Partei an die Spitze der sozialistischen Weltbewegung.

Lenins Reaktion auf den Zusammenbruch der Zweiten Internationale zeichnete sich durch zwei Merkmale aus: Erstens deckte er den Zusammenhang zwischen dem Verrat vom August 1914 und der vorausgegangenen Ausbreitung von Revisionismus und Opportunismus in den sozialdemokratischen Parteien auf. Zweitens bewies Lenin, dass das Anwachsen des Opportunismus nicht mit persönlichem Verrat zu erklären ist (obwohl es diesen durchaus gab), sondern mit starken sozioökonomischen Tendenzen, die aus der Entstehung des Imperialismus in den letzten Jahren des 19. und den ersten anderthalb Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts herrührten. In einer Reihe brillanter theoretischer Werke – vor allem „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ – lieferte Lenin eine umfassende Analyse des Imperialismus. Er untersuchte seinen ökonomischen Charakter, seinen Platz in der Geschichte des Kapitalismus, seine Rolle in Bezug auf das Anwachsen des Opportunismus und die allgemeine Korruption der Arbeiterorganisationen in der Zweiten Internationale und schließlich seine Beziehung zur Entwicklung der sozialistischen Weltrevolution.

In einer knappen Zusammenfassung seiner Arbeit über die Ursachen und die Bedeutung des Kriegs schrieb Lenin unter dem Titel „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“:

Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: der Imperialismus ist: 1. monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus. Der Monopolismus tritt in fünf Hauptformen zutage: 1. Kartelle, Syndikate und Truste; die Konzentration der Produktion hat eine solche Stufe erreicht, dass sie diese monopolistischen Kapitalistenverbände hervorgebracht hat; 2. die Monopolstellung der Großbanken: drei bis fünf Riesenbanken beherrschen das ganze Wirtschaftsleben Amerikas, Frankreichs, Deutschlands; 3. die Besitzergreifung der Rohstoffquellen durch die Truste und die Finanzoligarchie (Finanzkapital ist das mit dem Bankkapital verschmolzene monopolistische Industriekapital); 4. die (ökonomische) Aufteilung der Welt durch internationale Kartelle hat begonnen. Solcher internationalen Kartelle, die den gesamten Weltmarkt beherrschen und ihn „gütlich“ unter sich teilen – solange er durch den Krieg nicht neu verteilt wird – gibt es schon über hundert! Der Kapitalexport, als besonders charakteristische Erscheinung zum Unterschied vom Warenexport im nicht-monopolistischen Kapitalismus, steht in engem Zusammenhang mit der wirtschaftlichen und der politisch-territorialen Aufteilung der Welt; 5. die territoriale Aufteilung der Welt (Kolonien) ist abgeschlossen.[7]

Lenin wies auf wesentliche politische Merkmale der imperialistischen Epoche hin.

Der Unterschied zwischen der republikanisch-demokratischen und der monarchistisch-reaktionären imperialistischen Bourgeoisie verwischt sich gerade deshalb, weil die eine wie die andere bei lebendigem Leibe verfault … Zweitens zeigt sich der Fäulnisprozess des Kapitalismus in der Entstehung einer gewaltigen Schicht von Rentiers, Kapitalisten, die vom „Kuponschneiden“ leben. … Drittens ist Kapitalexport Parasitismus ins Quadrat erhoben. Viertens „will das Finanzkapital nicht Freiheit, sondern Herrschaft“. Politische Reaktion auf der ganzen Linie ist eine Eigenschaft des Imperialismus. Korruption, Bestechung im Riesenausmaß, Panamaskandale jeder Art. Fünftens verwandelt die Ausbeutung der unterdrückten Nationen, die untrennbar mit Annexionen verbunden ist, und insbesondere die Ausbeutung der Kolonien durch ein Häuflein von „Groß“mächten die „zivilisierte“ Welt immer mehr in einen Schmarotzer am Körper der nichtzivilisierten Völker, die viele hundert Millionen Menschen zählen. Der römische Proletarier lebte auf Kosten der Gesellschaft. Die heutige Gesellschaft lebt auf Kosten des modernen Proletariers. Dieses treffende Wort Sismondis pflegte Marx besonders hervorzuheben. Der Imperialismus verändert die Sache etwas. Die privilegierte Oberschicht des Proletariats der imperialistischen Mächte lebt zum Teil auf Kosten der vielen Hundert Millionen Menschen der nichtzivilisierten Völker.[8]

Trotz aller Veränderungen der Weltwirtschaft im vergangenen Jahrhundert ist Lenins Analyse sowohl der ökonomischen als auch der politischen Merkmale des Imperialismus von enormer Aktualität. In einer Passage, die in der heutigen Zeit mit außerordentlicher Kraft nachklingt, fordert er die Sozialisten auf, „tiefer, zu den untersten, zu den wirklichen Massen zu gehen: darin liegt die ganze Bedeutung des Kampfes gegen den Opportunismus und der ganze Inhalt dieses Kampfes.“[9]

„Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“ entstand im Oktober 1916. Lenin lebte damals in Zürich. Von diesem Hauptquartier aus gab er der revolutionären internationalistischen Opposition gegen den Krieg eine politische Führung. Im Januar 1917 hielt Lenin einen Vortrag zum Gedenken an den zwölften Jahrestag der Revolution von 1905. Darin sagte er:

Wir dürfen uns nicht durch die jetzige Kirchhofruhe in Europa täuschen lassen. Europa ist schwanger mit der Revolution. Die furchtbaren Gräuel des imperialistischen Krieges, die Schrecknisse der Teuerung erzeugen überall revolutionäre Stimmung, und die herrschenden Klassen, die Bourgeoisie, und ihre Vertrauensleute, die Regierungen, sie geraten immer mehr und mehr in eine Sackgasse, aus der sie überhaupt ohne größte Erschütterungen keinen Ausweg finden können.[10]

Nur sechs Wochen später wurde die von Lenin erhoffte Revolution in den Straßen Petrograds Wirklichkeit. Das zaristische Regime wurde durch einen Massenaufstand der Arbeiterklasse gestürzt. Dieser Aufstand brachte die bürgerliche Provisorische Regierung an die Macht, die von den Menschewiki und den Sozialrevolutionären unterstützt wurde. Als Lenin in Zürich festsaß, erklärte die Führung der Bolschewistischen Partei in Petrograd, vor allem Lew Kamenew und Josef Stalin, ihre Bereitschaft, die Provisorische Regierung und die fortgesetzte Beteiligung Russlands am Weltkrieg kritisch zu unterstützen.

Lenin schickte „Briefe aus der Ferne“ nach Petrograd, in denen er seine Opposition gegen die Provisorische Regierung deutlich machte. Aber erst als es ihm im April gelang, in einem „plombierten Zug“ nach Russland zurückzukehren, konnte er den politischen Kampf aufnehmen, der das Programm und die strategische Ausrichtung der Bolschewistischen Partei grundlegend veränderte und sie auf den Kurs brachte, der zur Eroberung der Macht im Oktober 1917 führte.

Der Kampf, den Lenin unmittelbar nach seiner Rückkehr nach Russland begann, war der politisch folgenreichste seines Lebens. In seinen „Aprilthesen“ wies Lenin das Programm der „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ zurück, das die politische Strategie und Praxis der Bolschewistischen Partei seit der Revolution von 1905 bestimmt hatte. In diesem Programm war der Kampf für den Sturz des zaristischen Regimes als bürgerlich-demokratische Revolution definiert worden. In dieser Formel betonten die Bolschewiki die führende Rolle der Arbeiterklasse in der kommenden Revolution und strebten nach der Vernichtung aller feudalen und antidemokratischen Hinterlassenschaften des zaristischen Regimes. Doch das Programm der Bolschewiki forderte nicht den Sturz der russischen Bourgeoisie und die Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse.

Darüber hinaus barg die programmatische Formulierung der Bolschewiki – die Beschreibung der neuen revolutionären Regierung als „demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ – ein erhebliches Maß an Zweideutigkeit: Wie genau sollte der Staat beschaffen sein, der aus dem Sturz des zaristischen Regimes hervorgehen würde?

Die umfassendste linke Kritik am bolschewistischen Programm der demokratischen Diktatur wurde in den Jahren 1905 bis 1917 von Trotzki vorgebracht. Seine Theorie der permanenten Revolution sah vor, dass der Sturz des Zarismus früher oder später zur Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse führen würde. Ungeachtet der wirtschaftlichen Rückständigkeit Russlands schlossen die globale Entwicklung des Kapitalismus und die imperialistische Geopolitik aus, dass die russische Revolution einen bürgerlich-demokratischen und kapitalistischen Verlauf nehmen würde, wie es traditionell von den Marxisten erwartet worden war. Die russische Revolution würde die Arbeiterklasse vor die Aufgabe stellen, die Bourgeoisie zu stürzen und selbst die Macht zu übernehmen. Trotzki betrachtete die Russische Revolution als Beginn der sozialistischen Weltrevolution. Das Überleben der proletarischen Diktatur in Russland, betonte er, werde vom Sturz des Kapitalismus durch die Arbeiterklasse in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern, vor allem in Deutschland, abhängen.

Vor 1914 hatte Lenin Trotzkis Theorie der permanenten Revolution als „absurd links“ abgetan. Es steht jedoch außer Frage, dass der Ausbruch des Weltkriegs Lenin veranlasste, die alte bolschewistische Formel neu zu bewerten und seine Haltung gegenüber Trotzkis Programm zu überdenken. Das war kein politisches Plagiat. Lenin kam aufgrund seiner eigenen Analyse der globalen wirtschaftlichen und politischen Dynamik des Weltkriegs zu Schlussfolgerungen, die denen Trotzkis sehr nahe, wenn nicht sogar gleichkamen. Lenin, der alle politischen Fragen prinzipiell anging, erkannte die Notwendigkeit, das Parteiprogramm zu ändern. Im Laufe eines mehrwöchigen politischen Kampfs gelang es ihm, die Bolschewistische Partei neu zu orientieren und sie auf den Kurs zu bringen, der im Oktober zur Eroberung der politischen Macht führte.

Es gibt noch eine Episode im Drama von 1917, die zeigt, wie eng im Wirken Lenins Theorie und Praxis miteinander verflochten waren. Nach der Niederlage, die die Petrograder Arbeiterklasse während der Julitage erlitt, zwang der Ausbruch der Konterrevolution Lenin unterzutauchen. Unter extrem schwierigen Bedingungen, unter ständiger Lebensgefahr, bereitete Lenin die Erneuerung des Kampfs um die Macht vor, indem er „Staat und Revolution“ schrieb. Lenins Auffassung davon, wie die marxistische Partei sich und die Arbeiterklasse auf große politische Aufgaben vorbereiten muss, zeigt sich exemplarisch in seinem Vorwort zu diesem bemerkenswerten Werk, das auch nach hundert Jahren nichts von seiner Bedeutung eingebüßt hat.

Der Kampf um die Befreiung der werktätigen Massen vom Einfluss der Bourgeoisie im allgemeinen und der imperialistischen Bourgeoisie im besonderen ist ohne Bekämpfung der opportunistischen Vorurteile in Bezug auf den „Staat“ unmöglich. …

Die Frage des Verhältnisses der sozialistischen Revolution des Proletariats zum Staat gewinnt somit nicht nur eine praktisch-politische, sondern auch eine höchst aktuelle Bedeutung als eine Frage der Aufklärung der Massen darüber, was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in der nächsten Zukunft zu tun haben.[11]

Die Machtübernahme durch die russische Arbeiterklasse, angeführt von der Bolschewistischen Partei, fand am 25./26. Oktober 1917 statt. In seinem Augenzeugenbericht „Zehn Tage, die die Welt erschütterten“ schildert John Reed Lenins triumphalen Einzug in den Petrograder Sowjet. Reed hinterließ eine anschauliche Beschreibung des großen Revolutionsführers: „In armseligen Kleidern, mit Hosen, viel zu lang für ihn. Unempfänglich für den Beifall der Menge und doch geliebt und verehrt, wie selten ein Führer es gewesen. Ein Volksführer eigener Art – Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts; farblos, humorlos, unnachgiebig. Als Redner nüchtern, aber mit der Fähigkeit, tiefe Gedanken in einfachste Worte zu kleiden, die Analyse konkreter Situationen zu geben, und verbunden mit großem Scharfsinn eine außerordentliche Kühnheit des Denkens.“[12]

Über Reeds Beschreibung von Lenin als „farblos“ und „humorlos“ kann man sicher streiten. Aus zahlreichen Schilderungen von Lenins Persönlichkeit lassen sich Eigenschaften ablesen, die Reed an dem Tag entgingen, als der Führer der Bolschewistischen Partei mit nichts anderem als dem Sturz des bürgerlichen Staates und der Errichtung einer revolutionären Regierung beschäftigt war. Aber Reeds Charakterisierung Lenins als „Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts“ ist, abgesehen von einer gewissen Einseitigkeit, durchaus richtig. Lenin repräsentierte einen neuen Typus politischer Führer, der versucht, das Programm und die Praxis seiner Partei und der Arbeiterklasse auf ein wissenschaftliches Verständnis der objektiven Wirklichkeit zu gründen.

Die richtige Beziehung zwischen Theorie und Praxis war ein zentrales Problem, dem sich Lenin in seinem gesamten politischen Leben widmete. „Die höchste Aufgabe der Menschheit ist es, diese objektive Logik der wirtschaftlichen Evolution (der Evolution des gesellschaftlichen Seins) in den allgemeinen Grundzügen zu erfassen, um derselben ihr gesellschaftliches Bewusstsein und das der fortgeschrittenen Klassen aller kapitalistischen Länder so deutlich, so klar, so kritisch als möglich anzupassen.“[13]

Lenin, Trotzki und Kamenew motivieren Soldaten für den Kampf im sowjetisch-polnischen Krieg, 1. Mai 1920

Vor fünfzig Jahren, 1970, war der hundertjährige Geburtstag Lenins Anlass für unzählige Treffen, Seminare, Symposien, Demonstrationen und Kundgebungen, bei denen sein Lebenswerk gefeiert wurde. Aber zum größten Teil dienten diese Veranstaltungen der Verfälschung seiner politischen Arbeit. Alle Spuren seiner engen Zusammenarbeit mit Trotzki mussten verwischt werden. Lenin, der sein Leben lang Krieg gegen den Kapitalismus geführt hatte, musste in einen Verfechter des parlamentarischen Wegs zum Sozialismus und der friedlichen Koexistenz der Klassen umgemodelt werden. Die Sowjetunion existierte noch, und die herrschende Bürokratie wandte enorme Ressourcen auf, um eine Version von Lenins Leben zu verbreiten, die mit den Bedürfnissen der stalinistischen Bürokratie vereinbar war.

Nachdem sie seinen mumifizierten Leichnam in ein Mausoleum gesteckt hatten, versuchten die Hochstapler im Kreml, sich als die legitimen Erben des großen Revolutionärs auszugeben. In Wirklichkeit waren die Kremlbeamten, die sich bei der Hundertjahrfeier auf das Dach des Mausoleums auf dem Roten Platz stellten, die Erben Stalins, des konterrevolutionären Verbrechers, und Nutznießer des Verrats an den Prinzipien und dem Programm der Oktoberrevolution.

Lenin hatte im ersten Kapitel von „Staat und Revolution“ sein eigenes Schicksal vorausgesagt. „Die großen Revolutionäre“, schrieb er, „wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klassen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm und wütendstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleumdungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man, sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heiligzusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur ‚Tröstung‘ und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei man ihre revolutionäre Lehre des Inhalts beraubt, ihr die revolutionäre Spitze abbricht, sie vulgarisiert.“[14]

Doch heute, zum 150. Geburtstag Lenins, schließt sich der Kreis der Geschichte. Inmitten einer beispiellosen globalen Krise wird das Vermächtnis des wahren Lenin – das von der trotzkistischen Bewegung verteidigt wurde – einer neuen Generation revolutionärer Arbeiter und Jugendlicher als Quelle von Wissen und Inspiration dienen.


[1]

Leo Trotzki, Geschichte der Russischen Revolution, Band 2: Oktoberrevolution, Essen 2010, S. 407 (hier im Mehring Verlag erhältlich).

[2]

Leo Trotzki, „Der neue Kurs“, in: Schriften, Bd. 3.1: Linke Opposition und IV. Internationale (1923-1926), Frankfurt a. M. 1997, S. 257.

[3]

W.I. Lenin, „Was sind die ‚Volksfreunde‘ und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokraten?“, in: Werke, Bd. 1, Berlin 1961, S. 130.

[4]

W.I. Lenin, „Der ökonomische Inhalt der Volkstümlerrichtung“, in: Werke, Bd. 1, S. 414.

[5]

W.I. Lenin, „Was tun?“, in: Werke, Bd. 5, Berlin 1958, S. 395–96.

[6]

Ebd., S. 396.

[7]

W.I. Lenin, „Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus“, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1957, S. 102–103

[8]

Ebd., S. 103

[9]

Ebd., S. 117.

[10]

W.I. Lenin, „Ein Vortrag über die Revolution von 1905“, in: Werke, Bd. 23, Berlin 1957, S. 261.

[11]

W.I. Lenin, „Staat und Revolution“, in: Werke, Bd. 25, Berlin 1960, S. 396.

[12]

John Reed, 10 Tage, die die Welt erschütterten, Essen 2011, S. 115 (hier im Mehring Verlag erhältlich).

[13]

W.I. Lenin, „Empiriokritizismus und historischer Materialismus“, in: Werke, Band 14, Berlin 1962, S. 328–29.

[14]

W.I. Lenin, „Staat und Revolution“, in: Werke, Band 25, Berlin 1960, S. 397.

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