Die Aktualität und Bedeutung von Lenins Vermächtnis

Diesen Beitrag machte Peter Schwarz, Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, auf einer von der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL), einer trotzkistischen Jugendorganisation in der ehemaligen Sowjetunion, organisierten Online-Versammlung.

Lenin spricht 1919 vor einer Menge revolutionärer Arbeiter in Petrograd. Trotzki steht rechts. [Photo: Wikipedia]

Es ist eine große Ehre für mich, an diesem Treffen der Young Guard of Bolshevik-Leninists zum 100. Todestag Lenins teilzunehmen.

Allein die Tatsache, dass dieses Treffen in der früheren Sowjetunion stattfindet, beweist, dass hundert Jahre Bemühungen der Stalinisten, Lenin in eine harmlose Ikone zu verwandeln, ihn zu mumifizieren und zu verfälschen, ebenso wie die der Antikommunisten (einschließlich Putins), ihn zu verteufeln, gescheitert sind. Lenin ist heute hochaktuell.

Selbst seine vehementesten Verteidiger können nicht mehr leugnen, dass sich der Kapitalismus weltweit in einer tiefen Krise befindet.

Die soziale Kluft zwischen Kapital und Proletariat hat Ausmaße angenommen, die sich selbst ein Marx kaum hätte vorstellen können. Der Begriff Oligarch, in den 1990er Jahren für die Plünderer des sowjetischen Staatseigentums geprägt, ist längst zu einem globalen Phänomen geworden. Die fünf reichsten Personen der Welt besitzen ein Vermögen von 869 Milliarden Dollar; sie haben es seit 2020 Jahren mehr als verdoppelt, während die Mehrheit der Weltbevölkerung ärmer geworden ist.

Die bürgerliche Demokratie zerbricht unter dem Druck wachsender Klassenspannungen. Autoritäre und faschistische Herrschaftsformen sind überall auf dem Vormarsch. Am deutlichsten zeigt sich das in den USA, wo die Präsidentenwahl im Herbst – falls sie überhaupt stattfindet – zwischen einem 82-jährigen Kriegstreiber und einem 78-jährigen Faschisten ausgetragen wird.

Der dritte Weltkrieg hat bereits begonnen. Führende Vertreter der imperialistischen Mächte bestehen darauf, ihren Krieg in der Ukraine bis zur militärischen Niederlage Russlands zu eskalieren, auch wenn dies Atomkrieg bedeutet.

Der Genozid an den Palästinensern in Gaza weitet sich rasch zu einem Flächenbrand aus, der von den USA und ihren europäischen Verbündeten systematisch angefacht wird. Gleichzeitig treiben sie die Kriegsvorbereitungen gegen China voran, dessen weiteren wirtschaftlichen Aufstieg sie unter allen Umständen verhindern wollen.

Lenins Buch über den Imperialismus gehört heute zu den aktuellsten Schriften überhaupt. Lenin hat nachgewiesen, dass der Imperialismus nicht einfach eine bestimmte Politik der Kapitalisten, sondern ein neues, das höchste Stadium des Kapitalismus ist – ein Stadium, das durch Fäulnis, Parasitentum und Reaktion auf der ganzen Linie geprägt ist; in dem Monopole die freie Konkurrenz verdrängt haben und das Finanzkapital über das Industriekapital dominiert; in dem die Welt vollständig unter den imperialistischen Mächten aufgeteilt ist und gewaltsam neu aufgeteilt werden muss.

Die Schlussfolgerung, die Lenin aus dieser Analyse zog, war ebenso weitsichtig wie kühn. Er lehnte die Forderung der Zentristen nach einem Frieden ohne Annexionen ab und postulierte stattdessen die Verwandlung des Kriegs in den Bürgerkrieg. Der Kapitalismus, so Lenins Fazit, konnte nicht reformiert werden, er musste gestürzt werden. Alle Bemühungen, die Imperialisten durch Druck und moralische Appelle zu einer friedlicheren Politik zu bewegen, konnten nur Illusionen schüren und die revolutionäre Energie der Massen bremsen.

Lenin verstand, dass dieselben objektiven Prozesse, die zum Weltkrieg geführt hatten, auch die Voraussetzungen für die proletarische Revolution schufen. Seine gesamte Perspektive beruhte darauf, dass der Krieg und die Widersprüche des Imperialismus die Massen in die Revolution treiben würden.

Aber während die Zuspitzung des Klassenkampfs ein objektiver, spontaner Prozess war, hing sein Ausgang – d.h. die Frage von Sieg oder Niederlage der Revolution – vom Vorhandensein einer bewussten, proletarischen Führung ab.

Niemand verstand diese Frage so scharf wie Lenin; hierin liegen seine einzigartige historische Rolle und sein Genie als Marxist. Er widmete die ersten dreißig Jahre seines politischen Lebens der theoretischen und politischen Bewaffnung des Proletariats. In einer unermüdlichen Polemik gegen bürgerliche und kleinbürgerliche Tendenzen kämpfte er für die ideologische, politische und organisatorische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse.

Bereits in seinen ersten Schriften gegen die Volkstümler räumte er der Verteidigung des philosophischen Materialismus eine zentrale Stelle ein. Den Kampf gegen den Opportunismus in der sozialistischen Bewegung führte er in einer Schärfe und Konsequenz, die anfangs – als er 1903 mit den Menschewiki brach – selbst Trotzki und Rosa Luxemburg nicht verstanden. Lenin begriff, dass Opportunismus nicht einfach eine falsche Politik war, sondern den Einfluss feindlicher Klassenkräfte auf das Proletariat verkörperte.

So schuf Lenin die bolschewistische Partei, die das russische Proletariat 1917 an die Macht führte. Bolschewismus bedeutete nicht, wie später unter Stalin, die Macht des Apparats über die Mitgliedschaft, sondern den unermüdlichen Kampf für programmatische Klarheit, der der Partei eine beispiellose Schlagkraft und Einheit der Aktion verlieh.

Dabei war Lenin durch und durch Internationalist. Er glaubte nicht eine Sekunde, dass der Sozialismus in einem Land aufgebaut werden könne. Spätestens mit den Aprilthesen von 1917 schloss er sich der Theorie der permanenten Revolution Leo Trotzkis an, der seit zehn Jahren für die Errichtung der Arbeitermacht im Zarenreich eingetreten war und diese untrennbar mit der sozialistischen Weltrevolution verband.

Nach dem Sieg der Oktoberrevolution konzentrierten Lenin und Trotzki trotz Bürgerkrieg und massiven ökonomischen Schwierigkeiten einen großen Teil ihrer Energie darauf, die sozialistische Weltbewegung zu reorganisieren und die Dritte Internationale aufzubauen.

Lenins Tod im Alter von nur 53 Jahren war ein tragisches Ereignis, das Auswirkungen auf die Weltgeschichte hatte. Vieles deutet darauf hin, dass diese anders verlaufen wäre, wenn Lenin länger gelebt hätte. Er wäre 1945, am Ende des Zweiten Weltkriegs, erst 75 Jahre alt gewesen.

Der Aufstieg Stalins und der Bürokratie, die er verkörperte, beruhte auf starken objektiven Faktoren – der wirtschaftlichen Rückständigkeit und internationalen Isolation der Sowjetunion. Aber wenn man bedenkt, dass diese Schwierigkeiten und diese Isolation durch Stalins Politik verschärft und reproduziert wurden, hätte Lenins gewaltige Autorität dazu beitragen können, den Kurs zu ändern.

In jedem Fall lässt sich nach der Liquidation der Sowjetunion durch Stalins Erben nicht mehr bestreiten, dass nur die trotzkistische Linke Opposition und die Vierte Internationale das Vermächtnis Lenins verteidigt und entwickelt haben. Selbst Wladimir Putin, der frühere KGB-Agent und heutige Präsident der russischen Oligarchen, anerkannt dies, wenn er Lenin und Trotzki denunziert und Stalin preist.

Seit 1953 hat nur das Internationale Komitee der Vierten Internationale Lenins Erbe verteidigt. Der Pablismus und alle anderen revisionistischen Tendenzen, die seit 1939 mit dem Trotzkismus brachen, hatten vor allem eines gemeinsam: ihre Ablehnung des Kampfs für die theoretische und politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse.

Lenins klassische Schrift „Was tun?“ war ihnen stets ein Dorn im Auge. Lenin erklärt darin, dass spontanes Bewusstsein bürgerliches Bewusstsein sei und die revolutionäre Partei in der Arbeiterklasse für sozialistisches Bewusstsein kämpfen müsse.

Das lehnten die Revisionisten vehement ab. Sie ersetzten den Kampf für die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse durch taktische Manöver und Anpassung an stalinistische, reformistische und bürgerlich-nationalistische Kräfte, die unter den Bedingungen des Nachkriegsbooms die Massen dominierten. Heute sind sie allesamt weit nach rechts gerückt und offen ins Lager der Bourgeoisie übergetreten. Das IKVI ist heute die einzige politische Tendenz, die uneingeschränkt das Erbe Lenins verteidigt und weiterentwickelt.

Die Fäulnis des Kapitalismus und die objektiven Voraussetzungen für die sozialistische Weltrevolution sind heute viel weiter fortgeschritten, als zu Lenins Zeiten. In großen Teilen der Welt, die damals noch wirtschaftlich rückständig und landwirtschaftlich geprägt waren, existiert heute ein hunderte Millionen starkes Proletariat. Und der US-Imperialismus, der dem Weltkapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg gestützt auf den Verrat des Stalinismus eine vorübergehende Atempause verschaffte, steht heute im Zentrum der globalen Krise. Dass das IKVI in den USA über eine seiner stärksten Sektionen verfügt, ist selbst ein Ausdruck seiner Stärke.

Der revolutionäre Kampf der Arbeiterklasse entwickelt sich auf der ganzen Welt als zusammenhängende und vereinte Bewegung. Seit der ägyptischen Revolution von 2011 nimmt der Klassenkampf immer heftigere Formen an. Das äußert sich in einer starken Zunahme von ökonomischen Streiks und Massenprotesten gegen Sozialabbau und Krieg. Gegen den Genozid in Gaza gehen weltweit Millionen auf die Straße.

Das IKVI wird als bewusste politische Führung dieser objektiven Bewegung aufgebaut. Es setzt der kapitalistischen Politik des imperialistischen Kriegs die klassenbasierte Strategie der sozialistischen Weltrevolution entgegen. Darin besteht die Aktualität und Bedeutung des Erbes von Lenin.

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