Türkei: 100-Jahrfeier der Republik im Schatten des Krieges

Am Sonntag wurde in der Türkei der 100. Jahrestag der Republik begangen, die Mustafa Kemal Atatürk am 29. Oktober 1923 ausgerufen hatte. Natürlich gab es mehrere offizielle Feierlichkeiten. Die Abteilung für Kommunikation des Präsidenten hat spezielle Videovorführungen angeordnet und auf mehreren Plätzen in Ankara, Istanbul und Izmir riesige Bildschirme aufgestellt.

Zwei Frauen in Istanbul vor einem Poster zum 100. Jahrestag der Gründung der modernen Türkei, mit Darstellung von Mustafa Kemal Atatürk, 25. Oktober 2023 [AP Photo/Emrah Gurel]

Am Sonntag besuchte Präsident Recep Tayyip Erdoğan das Atatürk-Mausoleum in Ankara und nahm dann an einem Empfang zum Tag der Republik teil. Zudem nahm er an der „offiziellen Parade zum 100. Jahrestag“ in der Großen Nationalversammlung, dem türkischen Parlament, teil, und danach in Istanbul an der Parade der Marine und Luftwaffe der Türkei am Bosporus. Schließlich hielt Erdoğan seine „Ansprache zum 100. Jahrestag“ an die Bevölkerung.

Die Hundertjahrfeier fand jedoch im Schatten des israelischen Völkermords an den Palästinensern im Gazastreifen statt, und der Konflikt droht zu einem Krieg im gesamten Nahen Osten zu eskalieren. Die Türkei ist zudem tief in den Nato-Krieg gegen Russland in der Ukraine involviert, die gleich auf der anderen Seite des Schwarzen Meeres liegt. Da Washington und die europäischen Mächte die israelische Armee uneingeschränkt unterstützen und ihre eigenen Truppen im gesamten Nahen Osten stationieren, mehren sich in Ankara die Befürchtungen vor einem verheerenden regionalen oder globalen Konflikt.

Die breite Masse der Arbeiter und Jugendlichen in der Türkei feiert den 100. Jahrestag der Gründung der Republik als großen Schritt vorwärts im Kampf gegen den Imperialismus und seine Komplizen im osmanischen Palast in Istanbul vor einem Jahrhundert.

Doch die grundlegenden internationalen Probleme, die 1923 zur Ausrufung der Republik führten, sind heute weder im Nahen Osten noch auf Weltebene gelöst. Die noch immer drohenden imperialistischen Kriege zur Neuaufteilung der Welt gehen mit Diktatur und Ungleichheit einher.

Das Osmanische Reich wurde im Ersten Weltkrieg an der Seite Deutschlands besiegt und in der Folge des Kriegs von den Armeen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens und Griechenlands besetzt. In Anatolien entstand eine Widerstandsbewegung, die die Unterstützung der breiten Masse von Arbeitern und Bauern genoß. Mustafa Kemal vereinigte sie und berief in Ankara die Große Nationalversammlung ein. Fortan richtete sich der türkische Unabhängigkeitskrieg hauptsächlich gegen die griechischen Truppen, die als Stellvertreter Großbritanniens fungierten.

Die Oktoberrevolution 1917 in Russland unter der Führung von Wladimir Lenin und Leo Trotzki und die junge Sowjetrepublik, die daraus hervorging, verliehen dem Kampf gegen den Kolonialismus in der Türkei und auf der ganzen Welt einen mächtigen Impuls. Sowjetrusslands Unterstützung für Ankara war für den türkischen Sieg im Unabhängigkeitskrieg von 1922 von entscheidender Bedeutung.

Das Sultanat, das mit der imperialistischen Besatzung kollaboriert und die nationale Befreiungsbewegung bekämpft hatte, wurde 1922 abgeschafft. Es folgten die Ausrufung der Republik im Jahr 1923 und die Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924.

Während hier die starken Wurzeln der antiimperialistischen Stimmung und der republikanischen Tradition liegen, die heute in der breiten Masse weiterlebt, blieben die grundlegenden Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution indessen ungelöst.

Die Ziele, die nationale Einheit und ein säkulares Regime zu schaffen, wurden nur unvollständig erreicht. Unter der bürgerlichen Republik entstand kein kohärenter Säkularismus. Dagegen konnte der Islam die Kontrolle über den neu errichteten Staat erlangen und ihn ausbeuten. Am Tag der Abschaffung des Kalifats im Jahr 1924 wurde ein staatliches Direktorat für religiöse Angelegenheiten geschaffen.

Während des letzten Jahrhunderts haben alle bürgerlichen Parteien und der Staatsapparat den Islam stets als Mittel benutzt, um die Entwicklung des Klassenbewusstseins und den Kampf der Arbeiter zu unterdrücken. Das gilt sowohl für Erdoğans Islamistische Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), die seit 2002 an der Macht ist, als auch für die kemalistische CHP und andere Parteien.

Da das neue Regime mit den Feudalherren kollaborierte, stand eine Landreform außer Frage. Dass die demokratischen Grundrechte der Kurden und anderer Minderheiten von Anfang an missachtet wurden, führte zu einem blutigen Konflikt, der bis heute andauert.

Die Rechte der Arbeiterklasse, einschließlich des Streikrechts und des Rechts, sich zu organisieren, wurden missachtet, und die entstehende kommunistische Bewegung massiv unterdrückt. Was demokratische Republik genannt wurde, hatte in Wahrheit den Charakter eines autoritären Einparteien-Regimes.

Atatürk behauptete, die moderne türkische Republik sei eine „klassenlose und geeinte Masse“. In Wirklichkeit war im vergangenen Jahrhundert der Klassenkampf in seiner damaligen Form die wichtigste Antriebskraft für die Ereignisse sowohl in der Türkei als auch im Rest der Welt.

Die Türkei ist in dieser Weltregion nicht nur ein besonders hochentwickeltes Industrieland mit einer enorm großen Arbeiterklasse, sondern auch eine Gesellschaft mit extremer Ungleichheit. Diese soziale Ungleichheit hat am 6. Februar 2023 bei dem Erdbeben in der Türkei und Syrien einen hohen Blutzoll gefordert: Zehntausende starben in nicht erdbebensicheren Häusern einen vermeidbaren Tod, und Millionen wurden obdachlos.

Menschen an einem Kohlefeuer vor ihren vom Erdbeben zerstörten Wohnungen, Malatya, 7. Februar 2023 [AP Photo/Emrah Gurel]

Die völlige Gleichgültigkeit aller Fraktionen der Bourgeoisie gegenüber der Gefahr von Erdbeben, die nach dieser historischen Katastrophe immer noch Millionen Menschen bedroht, ist eine unwiderlegbare Anklage gegen das kapitalistische System und die bürgerliche Herrschaft.

Das bürgerliche politische Establishment, das den 100. Jahrestag der Republik mit nationalistischer und militaristischer Demagogie feierte, hat keine Lösung für die fundamentalen sozialen und demokratischen Probleme der Massen. Seine Hauptsorge ist es, das überholte kapitalistische Nationalstaatensystem zu erhalten, die Extraktion von Mehrwert aus der Arbeiterklasse fortzusetzen und die Gefahr einer Revolution von unten zu unterdrücken. Dabei sind die imperialistischen Mächte die wichtigsten Verbündeten der herrschenden Klasse.

Die türkische herrschende Elite hat stets die Integration in die westliche Welt angestrebt, d.h. in das imperialistisch-kapitalistische Weltsystem. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte sie die Türkei zu einem Vorposten der US-geführten Nato im Nahen Osten gegen die Sowjetunion. Die starken militärisch-strategischen Beziehungen zum US-Imperialismus führten dazu, dass die Türkei das erste muslimische Land war, das Israel anerkannte.

Als Teil der Nato war die herrschende Elite der Türkei mitverantwortlich für die imperialistischen Interventionen und Kriege zum Regimewechsel, die den Nahen Osten seit der stalinistischen Auflösung der Sowjetunion 1991 verwüstet haben. Diese schmutzige Kollaboration konnte jedoch nicht verhindern, dass die Türkei in den Strudel imperialistischer Kriege hineingezogen wurde.

Heute steht Ankara vor einem unlösbaren Dilemma: Entweder es unterstützt den völkermörderischen Krieg im Gazastreifen und die Vorbereitungen der USA auf einen Krieg gegen den Iran, oder es stellt sich gegen seine Verbündeten, die Nato und Israel. Das Dilemma äußerte sich sehr deutlich in Erdoğans jüngster Entscheidung, Schwedens Nato-Mitgliedschaft zuzustimmen, während er gleichzeitig den von der Nato unterstützten Völkermord Israels im Gazastreifen verurteilte. Das türkische Parlament wird demnächst über Schwedens Antrag abstimmen.

Da die türkische Bourgeoisie die Kurdenfrage nicht lösen konnte, befürchtet sie, dass ein solcher Krieg im Nahen Osten zur Entstehung eines von den USA unterstützten kurdischen Staats an der türkischen Grenze führen, den kurdischen Separatismus in der Türkei stärken und ihre Interessen in der Region gefährden könnte. Gleichzeitig ist sie mit der wachsenden Wut der Arbeitermassen konfrontiert, die in überwältigender Mehrheit die Palästinenser unterstützen und Washington, die Nato und Israel ablehnen.

Hundert Jahre nach der Gründung der Republik Türkei hat die Geschichte Leo Trotzkis Theorie der permanenten Revolution eindrucksvoll bestätigt: In der Epoche des Imperialismus ist die Bourgeoisie in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung unfähig, grundlegende Aufgaben wie die Unabhängigkeit vom Imperialismus und die Errichtung eines demokratischen Regimes zu erledigen. Wie Trotzki schrieb:

In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.

Die Sosyalist Eşitlik Grubu (Sozialistische Gleichheitsgruppe) der Türkei erklärt anlässlich des 100. Jahrestags der Republik Türkei, dass die Arbeiter – die überwältigende Mehrheit der türkischen Bevölkerung – keine gemeinsamen Interessen mit „ihrer“ herrschenden Klasse haben, sondern mit denen ihrer Milliarden Klassenbrüder und -schwestern überall auf der Welt.

Für die türkische Arbeiterklasse gibt es nur einen Weg vorwärts: den Kampf für die sozialistische Weltrevolution und die Union sozialistischer Republiken gegen imperialistischen Krieg, soziale Ungleichheit und Autoritarismus – die Annahme des Programms der internationalen, nicht der nationalen, Befreiung. Es ist das Programm, das die Oktoberrevolution 1917 vertrat, die den Weg zu einem siegreichen Kampf gegen den Imperialismus und die Gründung der Republik vor einem Jahrhundert gewiesen hat.

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