Libyen: Tausende Tote und 10.000 Vermisste nach Überschwemmungen

Im Nordosten Libyens wurden bei Überschwemmungen in der Küstenregion mehr als 6.000 Menschen getötet, weitere 10.000 werden vermisst. Durch das Sturmtief Daniel, das bereits in Griechenland, Bulgarien und der Türkei für Überschwemmungen gesorgt hat, fiel in so kurzer Zeit so viel Regen, dass ein normalerweise trockenes Flussbett – ein bis zu 400 Meter tiefes Wadi – überschwemmt wurde. Nahe der Stadt Derna brachen zwei Staudämme.

Auch die ostlibyschen Städte Al-Bayda, Al-Marj, Tobruk, Takenis, Al-Bayada, Battah und Bengasi sind betroffen, die etwa 240 Kilometer westlich von Derna liegen. 

Eine Aufnahme der Stadt Derna am 12. September 2023. Sturm Daniel hatte verheerende Überschwemmungen verursacht, durch die Staudämme gebrochen sind und in mehreren Küstenorten ganze Stadtviertel weggespült wurden [AP Photo/Jamal Alkomaty]

Der Leiter der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften in Libyen, Tamer Ramadan, bestätigte die Zahl von bisher 10.000 Vermissten und erklärte vor den Medien: „Die Zahl der Toten ist riesig.“ Das Innenministerium der ostlibyschen Regierung sprach am Dienstagabend von 5.000 Todesfällen, was sogar die Todeszahl der schlimmsten Flut Nordafrikas in Algerien 1927 übersteigt.

Ein Einwohner von Derna erklärte gegenüber dem Nachrichtensender Al-Hurra: „Als der Staudamm zusammenbrach, kam das Wasser wie bei einer Atomexplosion. Acht Brücken und Wohngebäude sind völlig eingestürzt.“ Andere beschrieben, das Wasser sei „wie bei einem Tsunami“ gekommen, der Wasserstand habe fast drei Meter betragen. Nach der Katastrophe aufgenommene Bilder erinnern an ein Kriegsgebiet.

Berichten zufolge wurde in Derna, in der mehr als 100.000 Menschen leben, ein ganzes Stadtviertel weggespült. Etwa 700 Tote wurden bereits zur Identifikation auf einen örtlichen Friedhof gebracht. Viele werden nie gefunden werden. Ein Sprecher der Libyschen Nationalarmee, die das Gebiet kontrolliert, erklärte: „Das fließende Wasser hat ganze Stadtviertel ins Meer gespült.“

Der Minister für zivile Luftfahrt Hichem Chkiouat erklärte gegenüber Reuters: „Es liegen überall Leichen – im Meer, in den Tälern, unter Gebäuden.“

Die Überlebenden befinden sich in einer humanitären Katastrophe. CNN zitierte den Sprecher der Ambulanz- und Rettungskräfte Osama Aly, der Stunden danach erklärte: „Die Krankenhäuser in Derna sind nicht mehr einsatzbereit, die Leichenhallen sind voll.“ 

Ein anwesender Arzt erklärte dem Sender: „Es gibt keine unmittelbaren Rettungsdienste. Die Leute sind momentan dabei, die verwesenden Leichen einzusammeln.“ Ein Sanitäter äußerte sich in einem Interview mit dem libyschen Fernsehsender Al-Masar ähnlich: „Wir haben nichts, um die Leute zu retten... keine Maschinen... wir bitten dringend um Hilfe.“

Telefonleitungen und Internet sind zusammengebrochen, der Zugang zur Stadt wird von Straßenschäden und Trümmern stark erschwert. 

Es war davor gewarnt worden, dass sich die Dämme in einem schlechten Zustand befanden und gewartet werden mussten. Erst letztes Jahr erwähnte der Hydrologe Abdelwanees A.R. Ashoor von der libyschen Omar Al-Mukhtar-Universität fünf Überschwemmungen in der Region seit 1949 und erklärte, eine Flut von einem ähnlichen Ausmaß wie im Jahr 1959 würde „vermutlich zum Einsturz eines oder beider Dämme führen“.

Weiter erklärte er: „Eine schwere Überschwemmung hätte katastrophale Folgen für die Menschen in dem Wadi und der Stadt.“

Aly sagte gegenüber CNN: „Die Wetterbedingungen wurden nicht gut studiert, der Meeresspiegel und die Regenmengen [wurden nicht untersucht], Familien im Bereich des Sturms und in Tälern wurden nicht evakuiert.“

Der Guardian schreibt von „widersprüchlichen Berichten darüber, ob die Evakuierung der Stadt am Wochenende beantragt wurde, und warum der Plan abgelehnt worden war“.

Doch die Hauptverantwortung für die Katastrophe liegt bei den imperialistischen Nato-Mächten, deren Krieg um Rohstoffe und geostrategische Vormachtstellung gegen die Regierung von Muammar Gaddafi das Land zerstört hat.

Libyen war im Jahr 2010 eines der reichsten und am weitesten entwickelten Länder Afrikas, heute lebt ein Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Sein BIP liegt nur halb so hoch wie zu Beginn des Kriegs. Die kritische Infrastruktur ist zerstört. Fast 900.000 von 6,7 Millionen Einwohnern brauchen humanitäre Unterstützung.

Die Nato warf mehr als 7.000 Bomben und Raketen ab. Zudem setzte sie bei ihrer Intervention auf islamistische Stellvertreterkräfte. Der Sturz der Regierung und der Lynchmord an Gaddafi lösten ein soziales und politisches Chaos aus und verwandelten Libyen in einen zersplitterten, funktionsunfähigen Staat. 

Der Westen des Landes wird von Tripolis aus von der Regierung der Nationalen Einheit unter Premierminister Abdul Hamid Dbeibeh regiert, der Osten von Sirte aus von der rivalisierenden Regierung der Nationalen Stabilität unter Premierminister Osama Hammad, der von Chalifa Haftars Libyschen Nationalarmee unterstützt wird. Die beiden Machtblöcke und die diversen Fraktionen dazwischen werden von den ausländischen Mächten umworben und manipuliert.

Zum Wiederaufbau Libyens wurde fast nichts geliefert. Im Jahr 2015 veröffentlichte die digitale Nachrichtenorganisation Middle East Eye einen Bericht, in dem sie darauf hinwies, dass Großbritannien 320 Millionen Pfund für Luftangriffe auf das Land ausgegeben hat, doch in den vier darauffolgenden Jahren nur 15 Millionen Pfund humanitäre Hilfe. Die europäischen Mächte behandeln Libyen wie die Grenze zum Wilden Westen und heuern brutale Banden als „Küstenwache“ an, um Flüchtlinge abzufangen und ihnen den Zugang zur „Festung Europa“ zu versperren.

Das wenige Geld, welches ins Land kommt, fließt in die Förderung der immensen Öl- und Gasvorkommen. Letzten November erteilte die libysche National Oil Corporation der British Petroleum (BP) und der italienischen Eni das Recht, im Westen des Landes und vor der Nordostküste nach Öl zu bohren. Für das Projekt werden acht Milliarden Dollar veranschlagt.

Infolge der Verbrechen des US-Imperialismus und seiner Verbündeten sind die Arbeiter und die arme Landbevölkerung Libyens der globalen Klimakrise besonders schutzlos ausgesetzt.

Am Sonntag und Montag fielen große Wassermassen, darunter 38 Zentimeter in Bayda, das sonst im Durchschnitt nur 50 Zentimeter pro Jahr erhält. Der Sturm wurde vor allem durch die Erwärmung des Mittelmeers hervorgerufen, die zu höheren Windgeschwindigkeiten und stärkerem Regen sowie einer Sturmform namens „Medicane“ führt – einem mediterranen Hurrikan. 

Karsten Haustein, ein Klimawissenschaftler und Meteorologe der Universität Leipzig, erklärte: „Das wärmere Wasser bedingt Stürme wie diesen nicht nur hinsichtlich der Niederschlagsintensität – es macht sie auch heftiger.“ 

Suzanne Gray von der meteorologischen Abteilung der britischen Universität Reading erklärte: „Es gibt klare Belege dafür, dass sich die Häufigkeit von Medicanes mit der Klimaerwärmung verringert, aber die stärksten Medicanes werden noch stärker.“

In diesem Fall ist ein weiterer Faktor das „Omega-Hoch“ über Europa. Über einer Region mit Mittelpunkt Großbritannien und Nordwesteuropa liegt ein Hochdruckgebiet, das zwischen die abgetrennten Tiefdruckgebiete über Spanien und dem Südosten Europas, der Türkei und Nordostafrika gedrängt ist, was starken Regenfall verursacht. Das Phänomen geht auf die Schwächung des Jetstream und dessen Verlagerung nach Norden zurück, was ebenfalls mit den Auswirkungen des Klimawandels zusammenhängt.

Nur wenige Tage vor den Überschwemmungen in Libyen hatten die Vereinten Nationen ihre „globale Bestandsaufnahme“ veröffentlicht, die bisher umfassendste Analyse von Klimaschutzmaßnahmen der kapitalistischen Regierungen der Welt. 

Der Bericht schildert in der üblichen verhaltenen Sprache der Wissenschaftler eine andauernde Katastrophe. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit wird die Welt im Jahr 2030 etwa 22 Milliarden Tonnen Kohlendioxid mehr produzieren, als vertretbar wäre, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Dies entspricht dem Gesamtausstoß der fünf größten Verschmutzer der Welt – China, den USA, Indien, Russland und Japan.

Die vielen beispiellosen Umweltkatastrophen des letzten Jahres ereigneten sich bei einer Erwärmung um 1,18 Grad Celsius.

Die Verfasser des Berichts beharren zwar auf der Notwendigkeit, eines „Ausstiegs aus allen unverminderten fossilen Brennstoffen“. Allerdings wurden im Jahr 2022 laut dem Internationalen Währungsfonds ganze sieben Billionen Dollar an Subventionen für fossile Brennstoffe ausgegeben. Das ist etwa zwölfmal so viel, wie in den nächsten zehn Jahren notwendig wäre, um Maßnahmen zur Klimaanpassung in Afrika zu finanzieren.

Die tausenden Toten in Libyen verdeutlichen den kriminellen Charakter des kapitalistischen Systems im Todeskampf. Statt auf die globale Bedrohung durch den Klimawandel zu reagieren, verursachen die imperialistischen Mächte nichts als Armut und Krieg.

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