2.1. Von zentraler Bedeutung für eine marxistische, d.h. wissenschaftlich begründete Perspektive ist Leo Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution. Das ist eine umfassende Konzeption der sozialistischen Weltrevolution, die für die rückständigen kolonialen und halbkolonialen Länder genauso gilt wie für die fortgeschrittenen. Die Theorie wurde erstmals nach der russischen Revolution von 1905 entwickelt und stand im Gegensatz zur Zwei-Stufen-Theorie der menschewistischen Fraktion der russischen sozialdemokratischen Bewegung. Die Menschewiki behaupteten, Russland müsse zuerst durch eine längere Phase der kapitalistischen Entwicklung gehen, bevor eine sozialistische Revolution möglich werde. Deshalb kamen sie zu dem Schluss, das Proletariat müsse sich mit der liberalen Bourgeoisie verbünden, um die grundlegenden Aufgaben der demokratischen Revolution zu verwirklichen: d.h. die Zerstörung der zaristischen Autokratie und die radikale Umwandlung der Verhältnisse auf dem Land.
2.2. Zusammen mit Lenin demonstrierte Trotzki die organische Unfähigkeit der russischen Bourgeoisie, die vom internationalen Finanzkapital abhängig und an die Großgrundbesitzer gebunden war und den Aufstieg der Arbeiterklasse fürchtete, die demokratischen Aufgaben zu erfüllen. Trotzki und Lenin sahen beide voraus, dass die viele Millionen starke Bauernschaft der natürliche Verbündete des Proletariats gegen die zaristische Autokratie war. Lenins Formel einer „demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft“ gab der demokratischen Revolution zwar einen besonders radikalen Charakter, ließ jedoch die Frage der politischen Beziehung zwischen den beiden Klassen offen. Trotz des mutigen Charakters seiner Auffassungen sah Lenin in der demokratischen Diktatur nicht das Instrument für die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, sondern ein Mittel für die vollständige Entwicklung des Kapitalismus.
2.3. Trotzki ging mit seinen Schlussfolgerungen weiter. Auf Grundlage der Analyse der gesamten Geschichte vertrat er die Meinung, dass die Bauernschaft unfähig sei, eine unabhängige revolutionäre Rolle zu spielen. Da die Bourgeoisie nicht in der Lage war, ihre demokratischen Aufgaben zu lösen, war es die Aufgabe des Proletariats, an der Spitze der aufständischen Massen die bürgerliche demokratische Revolution durch die Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ zu vollziehen und dabei die Bauernschaft anzuführen. Die wichtigste Bedingung dafür war ein entschlossener und andauernder Kampf der revolutionären Partei für die politische Unabhängigkeit der Arbeiterklasse von allen Fraktionen der Bourgeoisie. Nach der Machtübernahme wäre das Proletariat gezwungen, die revolutionären Aufgaben durch die Methoden seiner eigenen Klasse durchzuführen. Dabei käme es unweigerlich zu tiefen Einschnitten ins Privateigentum an den Produktionsmitteln. Mit anderen Worten, es wäre gezwungen, mit der Neuorganisation der Gesellschaft auf sozialistischer Grundlage zu beginnen, womit ihr Schicksal mit der sozialistischen Revolution in Europa und der Welt verbunden wäre.
2.4. Trotzkis Theorie der Klassendynamik der Russischen Revolution erklärt sich aus der Konzeption der sozialistischen Weltrevolution als integriertem, wenn auch nicht gleichzeitigem Prozess. Die soziale Revolution in Russland könne nicht auf ein Land beschränkt bleiben, sondern sei gezwungen, sich auf die internationale Ebene auszudehnen, um zu überleben. „Die Machteroberung durch das Proletariat schließt die Revolution nicht ab, sondern eröffnet sie nur. Der sozialistische Aufbau ist nur auf der Basis des Klassenkampfes im nationalen und internationalen Maßstabe denkbar. Unter den Bedingungen des entscheidenden Übergewichts kapitalistischer Beziehungen in der Weltarena wird dieser Kampf unvermeidlich zu Explosionen führen, d.h. im Inneren zum Bürgerkrieg und außerhalb der nationalen Grenzen zum revolutionären Krieg. Darin besteht der permanente Charakter der sozialistischen Revolution, ganz unabhängig davon, ob es sich um ein zurückgebliebenes Land handelt, das erst gestern seine demokratische Umwälzung vollzogen hat, oder um ein altes kapitalistisches Land, das eine lange Epoche der Demokratie und des Parlamentarismus durchgemacht hat.“[1]
2.5. Die revolutionären Ereignisse in Russland im Jahr 1917 haben Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution in jeder Hinsicht bestätigt. Bei seiner Rückkehr aus dem Exil im April 1917 ging Lenin hart mit den Führern der Bolschewiki – darunter auch Stalin – ins Gericht, weil sie der bürgerlichen Provisorischen Regierung, die sich nach dem Sturz des Zaren im Februar gebildet hatte, kritische Unterstützung gegeben hatten. In seinen Aprilthesen distanzierte Lenin sich von seiner Formel einer demokratischen Diktatur und übernahm den Standpunkt der Permanenten Revolution. Er forderte die Arbeiterklasse auf, Widerstand gegen die Provisorische Regierung zu leisten und durch die Arbeiterräte, die Sowjets, die nach dem Sturz des Zaren entstanden waren, die Macht zu übernehmen. Die Umorientierung Lenins und der Bolschewiki war die Grundlage für die Oktoberrevolution 1917 und die Errichtung der Sowjetregierung, die dem Prozess der sozialistischen Weltrevolution einen starken Anstoß gaben.
2.6. An der chinesischen Revolution von 1925-27 zeigte sich, wie weitsichtig die Theorie der Permanenten Revolution in Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung war, allerdings auf negative und tragische Weise. Schuld an der Niederlage der chinesischen Revolution war vor allem die Sowjetbürokratie unter Führung von Stalin, die durch die andauernde Isolation und Rückständigkeit der Sowjetunion entstanden war und die Macht von der Arbeiterklasse usurpiert hatte. Unter dem Banner des „Sozialismus in einem Land“ verwandelte die stalinistische Bürokratie die Dritte Internationale (Komintern) vom Zentrum der Organisierung der sozialistischen Weltrevolution in ein gefügiges Werkzeug der sowjetischen Außenpolitik und benutzte die kommunistischen Parteien in anderen Ländern für Manöver mit bürgerlichen Parteien und Regierungen. In China griff Stalin auf die menschewistische Zwei-Stufen-Theorie zurück und erklärte, die Unterdrückung durch die imperialistischen Mächte zwinge die chinesische Bourgeoisie, eine revolutionäre Rolle zu spielen. Er befahl der jungen Kommunistischen Partei Chinas (KPCh), sich der bürgerlichen Kuomintang (KMT) unterzuordnen, die er zur Avantgarde der chinesischen Revolution erklärte. Dies führte zu vernichtenden Niederlagen der revolutionären Bewegung – zuerst, im April 1927, in Shanghai durch den KMT-Führer Chiang Kai-Shek, dann, im Juli 1927, durch die Regierung der „linken“ KMT in Wuhan.
2.7. Trotzki und die Linke Opposition, die 1923 gegründet wurde, um gegen die stalinistische Bürokratie zu kämpfen, unterzogen Stalins Politik einer vernichtenden Kritik und bereicherten so die Theorie der Permanenten Revolution. Trotzki hatte heftig für die politische Unabhängigkeit der KPCh von der KMT gekämpft und erklärt, der Imperialismus schweiße die nationale Bourgeoisie nicht mit dem Proletariat, der Bauernschaft und der Intelligenz zu einem revolutionären „Block der vier Klassen“ zusammen, wie Stalin es behauptete. Trotzki schrieb: „...alles, was die unterjochten und niedergehaltenen Massen der Werktätigen aktiviert, drängt die nationale Bourgeoisie Chinas unweigerlich in einen militärischen Block mit dem Imperialismus. Der Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und den Arbeiter- und Bauernmassen wird durch das imperialistische Joch nicht abgeschwächt, sondern verschärft sich bei jedem ernsteren Konflikt bis hin zum blutigen Bürgerkrieg.“[2]
Als die revolutionäre Flut 1927 abebbte, gab Stalin der verstümmelten KPCh den wahnsinnigen Befehl, in Kanton und anderen Städten Aufstände anzuzetteln, die zum Scheitern verurteilt waren. Die Kommune von Kanton sollte als Beweis für Stalins Fähigkeit als Revolutionär zeitgleich mit dem 15. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) stattfinden. Auf dem Parteitag schloss er die Mitglieder Linken Opposition in Massen aus der Partei aus und schickte Trotzki ins Exil.
2.8. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat die Unterordnung der Arbeiterklasse unter die „progressive“ Bourgeoisie unter dem Banner der Zwei-Stufen-Theorie und dem Block der vier Klassen, immer verheerende Niederlagen zur Folge gehabt. Gleichzeitig führten die Stalinisten und ihre Verteidiger eine gnadenlose Kampagne gegen den Trotzkismus im Allgemeinen und die Theorie der Permanenten Revolution im Besonderen. Doch Trotzkis eindrucksvolle Einsichten von vor einem Jahrhundert sind auch heute noch ein entscheidender Leitfaden für Arbeiter und Jugendliche, die einen revolutionären Weg vorwärts suchen. Nirgendwo wurde der Kampf für die Theorie der Permanenten Revolution so erbittert geführt wie in Sri Lanka. Die reichhaltigen strategischen Erfahrungen des Trotzkismus auf dieser kleinen Insel, die in der SEP verkörpert sind, sind wichtige Lehren für den Aufbau revolutionären Massenparteien in Asien, Afrika, Lateinamerika und in der ganzen Welt.