Die Diskussion um einen Einstieg des Staates beim größten deutschen Stahlkonzern Thyssenkrupp Steel Europe (TKSE) hat mit dem von Kanzler Olaf Scholz (SPD) am Montag veranstalteten „Stahlgipfel“ an Fahrt aufgenommen. Ein Großteil der Wirtschaft, alle etablierten Parteien und die IG Metall befürworten eine Staatsbeteiligung. Doch ihnen allen geht es nicht um die Erhaltung der Industriearbeitsplätze, sondern um die Aufrechterhaltung der Stahlproduktionskapazitäten für die Kriegswirtschaft.
Zum Stahlgipfel waren Vertreter von Unternehmen, Gewerkschaften und Betriebsräte ins Berliner Kanzleramt gekommen, unter ihnen Dennis Grimm, der Chef von Thyssenkrupp Steel, Jürgen Kerner, der Zweite Vorsitzende der IG Metall und Aufsichtsratsmitglied des Thyssenkrupp-Mutterkonzerns sowie der Thyssenkrupp-Konzernbetriebsratschef Tekin Nasikkol. Weil auch die Chefs anderer Stahlkonzerne wie Salzgitter, Stahl Holding Saar, Arcelor-Mittal, Georgsmarienhütte und Swiss Steel Deutschland geladen waren, wurde nicht direkt über den Staatseinstieg bei Thyssenkrupp Stahl gesprochen.
Doch Scholz selbst hatte die Diskussion befeuert. In einem Interview mit der Funke-Mediengruppe, zu der auch die lokalen Blätter im Ruhrgebiet gehören, antwortete er kurz vor dem Gipfel auf die Frage, ob der Staat bei Thyssenkrupp Stahl einsteigen sollte: „Ich nehme jetzt keine Option vom Tisch.“
Der Stahlgipfel selbst war vor allem Wahlkampfauftakt des Kanzlers, ähnlich wie sein Besuch des Ford-Werks in Köln einen Tag später.
Scholz bezeichnete die Stahlindustrie nach dem Treffen im Kanzleramt als „unverzichtbar“ für Deutschland. „Der hier produzierte Stahl ist von höchster geostrategischer Bedeutung für die Industrieproduktion in Deutschland“, sagte er.
Betriebsratschef Nasikkol schwärmte anschließend, Scholz habe „die Zeichen der Zeit erkannt“ und „konkrete Maßnahmen versprochen, um die system- und sicherheitsrelevante Stahlindustrie zu stärken“.
In diesem Zusammenhang – Verteidigung der „sicherheitsrelevanten Stahlindustrie“ – steht die Diskussion um eine staatliche Beteiligung bei Thyssenkrupp. Anders als es die IG Metall, die Betriebsratsfunktionäre um Nasikkol und Stahl-Betriebsratschef Ali Güzel darstellen, würde ein Staatseinstieg der Remilitarisierung Deutschlands dienen und nicht der Rettung der Arbeitsplätze bei TKSE. 11.000 der 27.000 Stahlarbeitsplätze will der Konzern in den nächsten Jahren vernichten.
Die IG Metall und der von ihr dominierte Betriebsrat haben diesem Arbeitsplatzmassaker schon zugestimmt und verlangen lediglich, es „sozialverträglich“ zu gestalten, sprich ohne „betriebsbedingte Kündigungen“.
Mit dem Einstieg des Staates soll die „kriegsrelevante“ Stahlindustrie gestärkt werden. In den vergangenen Monaten haben sich fast alle Bundestagsparteien dafür ausgesprochen.
Für die CDU regte Dennis Radtke, Chef des so genannten Arbeitnehmerflügels CDA, einmal mehr die Schaffung einer „Deutsche Stahl AG unter Beteiligung des Bundes“ an. Der Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak, der aus Duisburg kommt, meinte, „es wäre in der aktuellen Lage unverantwortlich“, die Frage der Staatsbeteiligung „als Tabu auszuklammern“. Sarah Philipp, Chefin der NRW-SPD erklärte, eine „Einbindung des Staates wie bei der Meyer Werft“ könne „eine Brückenlösung sein“.
Erst letzte Woche hat die EU-Kommission unter Ursula von der Leyen (CDU) dem Einstieg des deutschen Staats bei der Meyer-Werft zugestimmt. Der Bund und das Land Niedersachsen übernehmen mehr als 80 Prozent der Firmenanteile. Zudem sichern sie Kredite von insgesamt 2,6 Milliarden Euro zu 80 Prozent mit einer Bürgschaft ab.
Die Bundesregierung begründet den Staatseinstieg bei der Meyer Werft, die aktuell ausschließlich Kreuzfahrtschiffe baut, ausdrücklich auch mit militärischen Erwägungen. „Letztlich könnte die Meyer Werft bei einer Verschärfung der geopolitischen Lage auch eine bedeutende Rolle im deutschen militärischen Schiffbau einnehmen“, zitierte die Presse im September aus einem Hintergrundpapier der Regierung für den Haushaltsausschuss des Bundestages.
Der Chef des wirtschaftsliberalen ifo-Instituts Clemens Fuest erklärt zwar, der Staat solle „normalerweise kriselnden Unternehmen nicht helfen“. Aber: Geopolitische Gründe könnten allerdings „dafür sprechen, Stahlproduktion nicht ganz abwandern zu lassen, weil unter anderem die Rüstungsindustrie im Krisenfall nicht von der Versorgung mit Stahl abgeschnitten werden darf“.
Fuest will dies „in Kooperation mit den europäischen Partnerländern“ in einem „Sicherheitskonzept entwickeln und umsetzen“. Davon will die Bundesregierung aber nichts wissen und setzt auf die Stärkung der nationalen Stahl- und Rüstungsindustrie.
In der Stahlindustrie gibt es bereits staatliche Beteiligungen. Das Land Niedersachsen hält ein gutes Viertel der Anteile am zweitgrößten deutschen Stahlkonzern Salzgitter. Im Saarland hat die Landesregierung ihre Anteile an den verbliebenen Stahlunternehmen in die Montan-Stiftung-Saar übertragen, die sowohl Saarstahl als auch Dillinger kontrolliert.
Dillinger ist Europas führender Grobblech-Hersteller. Der Konzern beliefert die Sicherheitsbranche seit Jahrzehnten mit Spezialstählen. Seit ca. zwölf Jahren produziert Dillinger auch für die Rüstungsindustrie. Seit der militärischen Zeitenwende von 2022 können sich die deutschen Rüstungskonzerne vor Aufträgen kaum retten. Der Panzer-Produzent Rheinmetall verdreifachte seine Produktion.
Der Stahl kommt zunehmend aus deutscher Produktion. Jahrelang kauften deutsche Rüstungskonzerne wie Rheinmetall und Krauss-Maffei Wegmann ihren Stahl für Leopard-, Boxer- oder Puma-Panzer beim schwedischen Stahlkocher SSAB. Seit der Zeitenwende wollen die deutschen Hersteller den Bezug von Panzerstahl möglichst im Inland konzentrieren. Klarer Favorit war bislang die Dillinger Hütte, wie führende Vertreter der Rüstungsindustrie der FAZ im September 2022 versicherten.
Teil der deutschen Rüstungsindustrie ist auch der zu Thyssenkrupp gehörende, vom ehemaligen IG-Metall Bezirkssekretär in NRW Oliver Burkhard geführte Rüstungskonzern Thyssenkrupp Marine Systems (TKMS). Die Konzernsparte konnte den Umsatz im Geschäftsjahr 2023/24 um rund 16 Prozent auf etwa 2,1 Milliarden Euro, den Gewinn von 73 Millionen auf 125 Millionen Euro steigern.
TKMS-Chef Burkhard sollte den „Weltmarktführer bei konventionellen U-Booten und führend in der Entwicklung neuer Über- und Unterwassertechnologien der Marine“ (Thyssenkrupp) an die Börse bringen. Er verhandelte darüber lange mit der Carlyle Group. Ende Oktober teilte Thyssenkrupp mit, dass sich der US-amerikanische Finanzinvestor „aus dem Bieterprozess zur Beteiligung an der Marinesparte von Thyssenkrupp zurückzieht“.
Das Handelsblatt berichtete unter Berufung auf Regierungskreise, der US-Investor sei wegen Widerstands aus der Bundesregierung ausgestiegen. TKMS bleibe „aber für industrielle Partnerschaften weiterhin offen“. Die Gespräche mit der Bundesregierung über eine Beteiligung des Bundes würden fortgesetzt.
Die Beteiligung des Staates an den kriegswichtigen Industrie-Konzernen ist Bestandteil der deutschen Remilitarisierung. Im August dieses Jahres berichtete das Handelsblatt als erstes aus einem Entwurf für eine nationale Sicherheits- und Verteidigungsindustriestrategie (SVI). Danach wollen Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) den staatlichen Einstieg bei Rüstungsfirmen vereinfachen.
Deutschland solle so unabhängiger von ausländischen Produzenten und die Produzenten unabhängiger von privaten (ausländischen) Investoren werden. Rüstungsvorhaben sollen als Maßnahmen von „überragendem öffentlichen Interesse“ gelten, die Zivilklausel, die militärische Forschung an den Universitäten untersagt, abgeschafft, Genehmigungsverfahren für Militärzwecke beschleunigt werden. Start-ups mit Nähe zum militärischen Bereich sollen über einen staatlichen und privaten „Zukunftsfonds“ leichter an Wagniskapital gelangen.
Bei der Verabschiedung der SVI-Strategie durch das Kabinett am 4. Dezember erklärte Pistorius:
Für die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands ist entscheidend, dass wir innovative und leistungsfähige Rüstungsunternehmen im Land haben. Nur so gelingt es uns, hochmoderne Waffensysteme – auch gemeinsam mit unseren Verbündeten – zu entwickeln und vor allem auch in ausreichender Stückzahl zu produzieren. Die aktuelle Bedrohungslage erfordert, dass wir Schlüsseltechnologien in Deutschland fördern... Mit der SVI-Strategie verbessern wir die Rahmenbedingungen für die Unternehmen und schlagen ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Staat und Industrie auf, ganz im Sinne der Zeitenwende.
Kurz: Deutschland soll „kriegstüchtig“ werden, jeder wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekt soll der Aufrüstung und Kriegsführung – insbesondere in der Ukraine gegen Russland – untergeordnet werden.
Die Stahlsparte von Thyssenkrupp ist bislang vorwiegend auf zivile Produkte ausgerichtet, produziert insbesondere Stahl und Bleche für die Haushaltsgeräte- und die Verpackungsindustrie, den Energiesektor sowie für die Autohersteller. Deshalb trifft Thyssenkrupp Stahl die aktuelle Krise der Autoindustrie so schwer.
Dafür dass Thyssenkrupp zukünftig von der Kriegspolitik der Bundesregierung profitiert, will Sigmar Gabriel (SPD) sorgen. Im Sommer hatte der frühere SPD-Vorsitzende, Vizekanzler, Außen-, Wirtschafts- und Umweltminister seinen Rücktritt als Aufsichtsratsvorsitzender der Stahltochter von Thyssenkrupp als Abrechnung mit Konzernchef Miguel López inszeniert. Nun hat der geldgierige Lobbyist bei Rheinmetall angeheuert.
Der Düsseldorfer Rüstungskonzern teilte mit, sein Aufsichtsrat habe beschlossen, Gabriel als Mitglied des Gremiums zu nominieren. „In einer sich stark verändernden Welt ist insbesondere Sigmar Gabriels Kompetenz im Bereich Geopolitik für uns von höchstem Wert“, begründete Rheinmetall-Chefaufseher Ulrich Grillo diese Entscheidung.
Rheinmetall hat alle Mühe, alle Aufträge termingerecht zu erfüllen. Das Unternehmen wächst und baut neue Werke in Deutschland sowie im Kriegsland Ukraine. Gabriel soll – ähnlich wie der eingekaufte Fußball-Bundesligist Borussia Dortmund – das Image dieser Kriegsprofiteure aufpolieren, die am Tod von Hunderttausenden junger Ukrainer und Russen verdienen. „Meine Mitgliedschaft im Aufsichtsrat der Rheinmetall soll als Beitrag dazu verstanden werden, offensiv mit der Notwendigkeit einer starken und leistungsfähigen Verteidigungsindustrie in Deutschland und Europa umzugehen“, erklärte Gabriel.
Andererseits wird er seine Beziehungen zu Thyssenkrupp nutzen, um dem Konzern neue Stahl-Produktionskapazitäten zu verschaffen. Gabriel bleibt damit der Linie der Ampelkoalition und der SPD treu, die bereits die nächste Eskalation der Remilitarisierung einleitet. Der Abgeordnete Joe Weingarten, Berichterstatter der SPD-Fraktion im Haushaltsausschuss des Bundestags, forderte ein neues Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 200 Milliarden Euro. „Die Koalitionsvereinbarung für eine neue Bundesregierung müsste dafür die Grundlage bilden.“
Der Vorschlag des Staatseinstiegs bei Thyssenkrupp ist demnach Teil der Kriegspolitik, die von der SPD, den Grünen und allen anderen Bundestagsparteien verfolgt wird. Die IG Metall und ihre Betriebsräte stehen voll und ganz hinter dieser Politik. Stahlbetriebsratschef Ali Güzel hat Scholz bereits zugesichert, im Bundestagswahlkampf Anfang des Jahres in Duisburg einen Wahlkampfauftritt zu ermöglichen.
Die IGM und ihre Betriebsräte sind Teil der Berliner Kriegsparteien. Der Kampf zur Verteidigung der Arbeitsplätze bei Thyssenkrupp erfordert einen energischen Kampf gegen sie. Wir rufen alle Stahlarbeiter auf, IGM-Mitglied oder nicht, sich gegen die IGM- und Betriebsratsfürsten zu stellen und den Kampf gegen Arbeitsplatzabbau und Lohnkürzungen mit dem Kampf gegen Krieg zu verbinden. Es sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
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