Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hat wenige Monate nach seiner Gründung bei drei ostdeutschen Landtagswahlen zweistellige Wahlergebnisse erzielt, mehr als jede andere neue Partei in vergleichbarer Zeit. Die wichtigsten Gründe dafür sind, neben der Wut auf sämtliche etablierte Parteien, Wagenknechts Ablehnung des Ukrainekriegs und ihr Auftreten gegen soziale Ungerechtigkeit. Viele Wähler, die nicht bereit sind, die rechtsextreme AfD zu wählen, sehen die Stimmabgabe für das BSW als Möglichkeit, gegen die offizielle Politik zu protestieren.
Sie werden enttäuscht werden. Das BSW ist keine Alternative zu den etablierten Parteien, sondern ein Versuch, inmitten der tiefsten globalen Krise des Kapitalismus neue Stützen für die kapitalistische Herrschaft zu errichten. Krieg, Sozialabbau und Faschismus können nur durch eine unabhängige Bewegung der Arbeiterklasse und der Jugend gestoppt werden, die sich gegen alle etablierten Parteien und das von ihnen verteidigte kapitalistische System richtet. Doch genau das versucht das BSW zu verhindern.
In der Flüchtlingspolitik und bei der inneren Sicherheit hat das BSW das Programm der AfD übernommen. Es stempelt Flüchtlinge und Migranten zum Sündenbock für die soziale Krise, für die in Wirklichkeit steigende Profite und Kriegsausgaben verantwortlich sind, und bemüht sich so, die Arbeiterklasse zu spalten. Es tritt für eine massive Aufrüstung von Polizei und Geheimdiensten ein, die dazu dient, politische Opposition und sozialen Widerstand zu unterdrücken.
Auch seine Verurteilung des Ukrainekriegs hat nichts mit Friedenspolitik zu tun. Das BSW unterstützt die Aufrüstung der Bundeswehr. Es ist lediglich dagegen, dass sich Deutschland den USA unterordnet, anstatt seine imperialistischen Interessen aus eigener Kraft zu verfolgen. „Europa muss eigenständiger Akteur auf der Weltbühne werden, statt Spielball im Konflikt der Großmächte zu sein und sich den Interessen der USA unterzuordnen,“ heißt es dazu im Europawahlprogramm des BSW. Deshalb wolle es „dazu beitragen, dass die Europäische Union sich auf ihre politische, wirtschaftspolitische und sicherheitspolitische Eigenständigkeit besinnt“.[1]
Oskar Lafontaine, Wagenknechts Ehemann und engster Berater, hat unter dem Titel „Ami, it’s time to go: Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“ sogar ein Buch zu diesem Thema geschrieben. Darin verharmlost er Deutschland, die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, als „Vasallen“ der USA. Wagenknecht selbst hat in der Weltwoche gefordert, „unsere eigenen sicherheitspolitischen und ökonomischen Interessen in den Mittelpunkt zu rücken“, statt „einer fragwürdigen Moral nachzulaufen, die sich bei näherem Hinsehen als amerikanische Interessenpolitik entpuppt“.[2] Das ist keine Friedenspolitik, sondern deutsche Großmachtpolitik.
Was von der sozialen Demagogie des BSW zu halten ist, zeigt seine grundsätzliche Bereitschaft, sich in Sachsen, Thüringen und Brandenburg an Regierungen zu beteiligen, die von der CDU oder der SPD geführt werden. Diese beiden Parteien stehen seit Jahrzehnten an der Spitze des Sozialabbaus. Die Behauptung, sie würden ihren Kurs ändern, wenn sie gemeinsam mit dem BSW regieren, ist absurd. Wagenknecht setzt einfach die Politik der Linkspartei und ihrer Vorgängerin PDS fort, denen sie 35 Jahre lang angehörte. Diese droschen in allen Wahlkämpfen soziale Phrasen, um hinterher, wenn sie in der Regierung waren, die übelsten sozialen Angriffe zu unterstützen.
Selbst einer Koalition mit der AfD ist das BSW nicht abgeneigt. Am 9. Oktober trat Wagenknecht gemeinsam mit der AfD-Vorsitzenden Alice Weidel bei Welt-TV auf. Was als „Duell“ angekündigt war, erwies sich über lange Strecken als gegenseitiger Austausch von Komplimenten. Wagenknecht versicherte Weidel, dass sie sich eine Zusammenarbeit mit ihr durchaus vorstellen könne. Lediglich ein Bündnis mit dem thüringischen AfD-Führer Björn Höcke, der offen faschistische Standpunkte vertritt, gehe ihr derzeit zu weit.
Stalinismus statt Sozialismus
Wagenknecht galt lange Zeit als linkes Gesicht der PDS und der Linkspartei. In der PDS diente sie als Aushängeschild der „Kommunistischen Plattform“, eines Zusammenschlusses von Alt-Stalinisten. Damals kleidete sie sich wie Rosa Luxemburg, benutzte marxistische Phrasen und verfasste 1996 eine Masterarbeit über die Hegel-Rezeption des jungen Marx. Als sich die PDS 2007 mit der WASG zur Partei Die Linke zusammenschloss, gehörte Wagenknecht zu den Initiatoren der parteiinternen Strömung „Antikapitalistische Linke“, eines Zusammenschlusses pseudolinker Gruppierungen.
Doch bald danach rückte sie davon ab. 2011 bekannte sie sich uneingeschränkt zum Kapitalismus. Unter dem Titel „Freiheit statt Kapitalismus“[3] veröffentlichte sie eine Lobeshymne auf den westdeutschen Nachkriegskapitalismus und den damaligen Wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU). Die Begriffe Sozialismus und Marxismus kamen darin nicht mehr vor. In diese Zeit fiel auch Wagenknechts Annäherung an Oskar Lafontaine, den früheren SPD-Vorsitzenden und Mitbegründer der Linkspartei, den sie 2014 heiratete.
Seither ist Wagenknecht kontinuierlich weiter nach rechts gerückt. 2021 erschien ihr Buch „Die Selbstgerechten“.[4] Darin wettert sie gegen Kosmopolitismus und Weltoffenheit, wirbt für Protektionismus und einen starken Staat und denunziert Migranten und Flüchtlinge als Lohndrücker, Streikbrecher und kulturfremde Elemente. Das Buch nahm die Programmatik des BSW vorweg: eine Mischung aus sozialer Demagogie, Friedensrhetorik, Wirtschaftsnationalismus und Flüchtlingshetze.
Inzwischen tut Wagenknecht ihre früheren stalinistischen und pseudolinken Äußerungen als Jugendsünden ab, als Trotzreaktion gegen den Opportunismus hochrangiger DDR-Funktionäre, die sich über Nacht in begeisterte Unterstützer der Deutschen Einheit und des Kapitalismus verwandelt hatten. Doch es gibt eine Kontinuität zwischen ihren früheren stalinistischen und ihren heutigen antikommunistischen Positionen.
Der „Marx“, auf den sich Wagenknecht in ihren Jugendjahren berief, hatte nichts mit dem Autor des „Kommunistischen Manifests“ zu tun, der in jeder Faser seines Körpers Revolutionär war und dessen Weitsicht und Kühnheit des Denkens bis heute verblüffen. Sie interpretierte Marx in der verknöcherten Version der stalinistischen Bürokratie, die den Revolutionär zu einem devoten Staatsphilosophen verfälschte, um ihre Diktatur über die Arbeiterklasse zu rechtfertigen. Die nationale Borniertheit, das Beharren auf einem starken Staat, der für Ruhe und Ordnung sorgt, die panische Angst vor jeder spontanen Bewegung von unten, die Fremdenfeindlichkeit und alles andere, was heute das BSW prägt – all das zeichnete auch schon den Stalinismus der SED aus.
Die Behauptung, die Diktatur, die Stalin in den 1920er Jahren in der Sowjetunion errichtet hatte und nach dem Zweiten Weltkrieg auf den Osten Deutschlands und Europas übertrug, sei die zwangsläufige Folge der russischen Oktoberrevolution und verkörpere die einzig denkbare Form des Sozialismus („real existierender Sozialismus“), ist die große Lüge des zwanzigsten Jahrhunderts. Eine Lüge, die von eingefleischten Stalinisten ebenso verbreitet wird wie von fanatischen Antikommunisten.
Diese Lüge vertritt auch Sahra Wagenknecht. In einem langen Essay, den sie im April 1992 unter dem Titel „Marxismus und Opportunismus“ in den Weißenseer Blättern[5] veröffentlichte, schrieb sie, es sei „nicht zu leugnen, dass Stalins Politik – in ihrer Ausrichtung, ihren Zielen und wohl auch in ihrer Herangehensweise – als prinzipientreue Fortführung der Leninschen gelten kann“. Weder in Bucharins Lösungsansatz noch in dem Trotzkis habe eine realisierbare Alternative zur Stalinschen Linie gelegen. „Das in der Sowjetunion während der Stalinzeit entstandene und später von den osteuropäischen Ländern in den Grundzügen übernommene Gesellschaftsmodell“ sei die „einzig mögliche Form eines realisierten Sozialismus“.
Wagenknecht verteidigt Ulbricht
Als sich Sahra Wagenknecht im Sommer 1989 im Alter von 20 Jahren der SED anschloss, war der völlig reaktionäre Charakter des Stalinismus offen sichtbar. In ganz Osteuropa entwickelte sich Widerstand gegen die bürokratische Herrschaft. Was Wagenknecht anzog, waren nicht die sozialen Errungenschaften der DDR, sondern die bürokratische Diktatur.
In ihrem Text von 1992 rechtfertigt sie neben Stalin auch die schlimmsten Verbrechen des DDR-Regimes. Sie lobt ausdrücklich Walter Ulbricht, der von Stalin persönlich an die Spitze der KPD und der SED gesetzt worden war und für die Niederschlagung des Arbeiteraufstands vom 17. Juni 1953 und den Bau der Mauer verantwortlich war.
Sie begrüßt ausdrücklich Ulbrichts Entscheidung, nach dem Mauerbau mit dem „Neuen Ökonomischen System“ den Arbeitsdruck und die staatliche Repression zu steigern. „Der Befreiung der Wirtschaft vom direkten Zugriff der zentralisierten Apparate stand die Befestigung der politisch führenden Rolle der Partei gegenüber“, schreibt sie – eine Umschreibung der wachsenden Bedeutung der Überwachung und Repression durch die Staatssicherheit. „Dieser zweiten, der politischen Seite der NÖS wurde nicht selten vorgeworfen, sie stehe im Widerspruch zu den ökonomischen Veränderungen. Genau besehen waren diese Maßnahmen jedoch vorerst unumgänglich.“ Sonst, so Wagenknecht, hätten sie sehr schnell zu Entwicklungen wie dem Prager Frühling von 1968 geführt.[6]
Den Niedergang der DDR, der schließlich mit ihrer Auflösung endete, führt Wagenknecht auf „Ulbrichts Sturz im Jahre 1971“ und die „in jenem Zeitraum eingeleiteten Veränderungen“ zurück. Gemeint sind die sozialen Zugeständnisse, die Ulbrichts Nachfolger Erich Honecker machen musste, um die Arbeiterklasse zu beschwichtigen. Angesichts heftiger Klassenkämpfe, die zwischen 1968 und 1975 auch in westlichen Ländern tobten, fürchteten die Stalinisten um ihre Macht, sollten sich die Arbeiter in Ost und West im Kampf gegen Kapitalismus und Stalinismus vereinen.
Wagenknecht macht Honecker zum Vorwurf, dass er dem Druck der Arbeiter nachgab, anstatt hart zu bleiben. Sie beschuldigt ihn der „Umverteilung des Nationaleinkommens zugunsten der Konsumtion – bei unverantwortlicher Minderung der Akkumulationsrate“. „Weil vermittels Sozialpolitik das Leistungsprinzip außer Kraft gesetzt war, musste der Arbeitswille sinken; Gammelei, Schlamperei und Klüngelwirtschaft waren die Folge.“ Eine „Politik der Gleichmacherei“ habe sich in fast allen gesellschaftlichen Bereichen durchsetzen können.
Steigerung der Akkumulationsrate, Leistungsprinzip, gegen Gleichmacherei – man erkennt hier leicht die heutigen Vorstellungen Wagenknechts wieder. Deutlicher konnte sie ihre abgrundtiefe Verachtung für die Arbeiterklasse nicht zeigen. Im Namen des „Sozialismus“ befürwortete sie eine Politik, die sich rücksichtslos über die Bedürfnisse und den Willen der Arbeiter hinwegsetzte. Mit derselben Arroganz verteidigt sie heute den Kapitalismus. „Der Fehler des heutigen Kapitalismus ist nicht, dass er eine Leistungsgesellschaft wäre, sondern dass er keine Leistungsgesellschaft ist,“ schreibt sie in „Freiheit statt Kapitalismus“.
Dem entsprechend war Wagenknecht trotz ihrer sozialistischen Phrasen keine Gegnerin der kapitalistischen Restauration. Sie sprach vielmehr für einen Flügel der Bürokratie, der die Restauration des Kapitalismus auf dem „chinesischen Weg“ vollziehen wollte. Das maoistische Regime Chinas hatte im Juni 1989 mit dem Tian’anmen-Massaker Studenten- und Arbeiterproteste brutal niedergeschlagen und damit den Weg für die Einführung des Kapitalismus bei Beibehaltung seiner Diktatur freigemacht.
Die Übergänge zwischen den verschiedenen Lagern der SED waren dabei fließend. Hans Modrow, der im Sommer noch persönlich nach Peking gereist war, um dem Regime zum Tian’anmen-Massaker zu gratulieren, organisierte ein halbes Jahr später als letzter SED/PDS-Ministerpräsident der DDR die Deutsche Einheit, die – nach seinen eigenen Worten – „unumgänglich notwendig“ war und „mit Entschlossenheit beschritten werden“ musste.[7]
Als Kopf der Kommunistischen Plattform (KPF) innerhalb der PDS spielte Wagenknecht eine entscheidende Rolle dabei, die alten DDR-Eliten, die bei der Wiedervereinigung leer ausgegangen waren, an Bord zu halten und die Restauration so geräuschlos wie möglich über die Bühne zu bringen. Ihre sozialistischen Phrasen und ihre Huldigung Ulbrichts und Stalins dienten dabei nicht nur als Begleitmusik. Die Identifikation des Sozialismus mit den stalinistischen Verbrechen sollte jede ernsthafte sozialistische Opposition in der Arbeiterklasse unterdrücken.
Stalinismus und DDR
In Wirklichkeit war der Stalinismus der Totengräber der Revolution, die im Oktober 1917 in Russland die Arbeiterklasse an die Macht gebracht hatte. Die parasitäre Bürokratie, deren Interessen Stalin verkörperte, war ein Krebsgeschwür am jungen Arbeiterstaat, das infolge des Bürgerkriegs und der internationalen Isolation der Sowjetunion wucherte. Die Kontrolle über die Verteilung der äußerst knappen Güter verlieh den Mitgliedern des Staats- und Parteiapparats Privilegien, von denen die notleidenden Arbeitermassen nur träumen konnten.
Um ihre privilegierte Stellung zu verteidigen, beseitigte die Bürokratie die Sowjetdemokratie. Sie unterdrückte die Opposition der Arbeiterklasse und brachte schließlich im Großen Terror von 1937/38 hunderttausende Revolutionäre und Marxisten um. Hauptopfer des Terrors waren die Mitglieder der Linken Opposition und der Vierten Internationale, die unter Führung Leo Trotzkis das internationale Programm der sozialistischen Revolution verteidigten.
Stalin ersetzte dieses Programm, auf dem die Oktoberrevolution beruht hatte, durch eine nationalistische Perspektive, die den konservativen Interessen der Bürokratie entsprach. Er verband den Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion nicht mehr mit dem Fortschreiten der sozialistischen Weltrevolution, sondern behauptete, der Sozialismus könne „in einem Land“, unabhängig von der Weltwirtschaft aufgebaut werden.
Dieses nationalistische Programm wurde zur Quelle verheerender Krisen innerhalb der Sowjetunion und katastrophaler Niederlagen der internationalen Arbeiterklasse. In Deutschland wäre Hitler ohne die verheerende Politik der Kommunistischen Partei (KPD) niemals an die Macht gelangt. Obwohl die Arbeiterparteien KPD und SPD zusammen weit stärker waren als die Nazis, weigerte sich die KPD auf Druck Stalins, für eine Einheitsfront gegen die Nazis zu kämpfen.
Der Heroismus und die Opferbereitschaft, mit der die Rote Armee der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg die Nazis besiegte, zeigten, dass die Errungenschaften der Oktoberrevolution trotz Stalins Verbrechen eine enorme Anziehungskraft bewahrt hatten. Doch die Ausdehnung des Gesellschaftsmodells der Sowjetunion auf Osteuropa nach dem Krieg bedeutete keine Rückkehr zum Programm der sozialistischen Weltrevolution.
Stalin hatte noch während des Kriegs mit den amerikanischen und britischen Alliierten die Aufteilung Europas in Einflusszonen vereinbart. Diese räumten ihm die Kontrolle über eine Pufferzone in Osteuropa ein, die die Sowjetunion vor militärischen Angriffen schützen sollte. Stalin versprach ihnen seinerseits, mithilfe der Kommunistischen Parteien revolutionäre Aufstände zu unterdrücken, die der Kreml genauso fürchtete wie Washington und London.
Das galt nicht nur für Westeuropa, wo die Stalinisten die italienischen und französischen Partisanen entwaffneten, die mit der Waffe in der Hand gegen die Nazis gekämpft hatten, sondern auch für Osteuropa. In Deutschland löste die „Gruppe Ulbricht“, die mit der Roten Armee aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt war, spontan entstandene antifaschistische Komitees und Betriebsräte auf. Dies „war nichts anderes als die Zertrümmerung erster Ansätze einer vielleicht machtvollen, selbständigen, antifaschistischen und sozialistischen Bewegung“, schrieb Wolfgang Leonhard, ein Mitglied der „Gruppe Ulbricht“, das sich später vom Stalinismus löste, in seinen Erinnerungen.[8]
Erst mit Beginn des Kalten Krieges errichteten die Stalinisten im Osten Deutschlands und Europas Regime nach Moskauer Vorbild und gingen zur großangelegten Enteignung von Industrie, Banken und Großgrundbesitz über. Das war ein gewaltiger gesellschaftlicher Fortschritt, der den wichtigsten Stützen des Nazi-Regimes – den Junkern, den Industriellen und den Bankern – die materielle Grundlage entzog, die Voraussetzung für einen planmäßigen Einsatz der wirtschaftlichen Ressourcen schuf und der Arbeiterklasse ein relativ hohes Maß an sozialer Sicherheit gab.
Doch anders als in der Sowjetunion waren die Enteignungen in Osteuropa und der DDR nicht das Ergebnis einer proletarischen Revolution. Es gab weder Sowjets noch Arbeiterräte. Sie gingen im Gegenteil mit verschärfter Repression und wachsendem ökonomischem Druck auf die Arbeiter einher.
Als Folge brach am 17. Juni 1953 in der DDR der erste proletarische Massenaufstand gegen den Stalinismus aus. Ein Protest von Ostberliner Bauarbeitern gegen Normenerhöhungen entwickelte sich innerhalb von 24 Stunden zu einem Massenstreik, der von sowjetischen Truppen und Panzern blutig niederwalzt wurde. Über hundert Arbeiter wurden erschossen, Teilnehmer und Führer der Streiks zu Hunderten als „konterrevolutionäre Agenten“ verhaftet und für Jahre ins Gefängnis geworfen, sechs Streikführer zum Tode verurteilt. In den folgenden Jahren wurden auch in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei Arbeiteraufstände brutal unterdrückt.
1961 erteilte Walter Ulbricht, von 1950 bis 1971 der mächtigste Mann der DDR, den Befehl zum Bau der Mauer. Sie sollte verhindern, dass Arbeiter in den Westen abwanderten, und es der Bürokratie so ermöglichen, den Arbeitsdruck weiter zu steigern.
1963 führte Ulbricht das von Wagenknecht gelobte „Neue Ökonomische System“ ein, das das bürgerliche Leistungsprinzip zum „sozialistischen Prinzip“ erklärte und die staatliche Repression verschärfte. „Für die Arbeiter in der Produktion bedeutete das NÖS eine gewaltige Steigerung des Arbeitsdrucks… Für die leitenden Angestellten, die Angehörigen der technisch-wissenschaftlichen Intelligenz in den Betrieben und natürlich für die Funktionäre im Staats- und Parteiapparats brachte das NÖS hingegen den Zugang zu neuen Privilegien und Reichtümern,“ schreibt Wolfgang Weber im Buch „DDR – 40 Jahre Stalinismus“.[9]
Leo Trotzki, der Führer der Linken Opposition gegen den Stalinismus und Gründer der Vierten Internationale, hatte schon in den 1930er Jahren gewarnt, dass die stalinistische Bürokratie, „die immer mehr zum Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat wird“, die neuen Eigentumsformen umstoßen und das Land in den Kapitalismus zurückwerfen werde, wenn die Arbeiterklasse die Bürokratie nicht zerschlage und den Weg für den Sozialismus öffne.[10]
Diese Warnung bestätigte sich Anfang der 1990er Jahre. Was Hitlers Panzern nicht gelungen war, die Zerschlagung der Sowjetunion und der durch die Oktoberrevolution geschaffenen Eigentumsverhältnisse, erledigte schließlich die stalinistische Bürokratie unter Führung von Michael Gorbatschow und Boris Jelzin.
Sie reagierte damit auf den wachsenden Widerstand der Arbeiterklasse. Vor allem die Massenstreiks in Polen Anfang der 1980er Jahre hatten die stalinistischen Herrscher in Moskau in Panik versetzt. Doch die jahrzehntelange Verfolgung revolutionärer Marxisten hatte die Arbeiterklasse politisch entwaffnet, so dass sie die kapitalistische Restauration nicht verhindern konnte. Auch in der DDR war der Trotzkismus systematisch unterdrückt worden. Oskar Hippe, in der Weimarer Republik ein führender Trotzkist, der den Nazi-Terror überlebt hatte, sperrte das Ulbricht-Regime 1948 für acht Jahre ins Gefängnis.
Als am 4. November 1989 in Berlin eine Million gegen das SED-Regime protestierten, verteilte der Bund Sozialistischer Arbeiter, der Vorgänger der Sozialistischen Gleichheitspartei, den Aufruf „Stürzt die SED-Bürokratie! Baut Arbeiterräte auf!“ Der BSA unterstützte den Protest, warnte aber vor Illusionen in die bürgerliche Demokratie, die in Wirklichkeit Diktatur des Kapitals bedeute. Es gebe nur eine Alternative zur stalinistischen Diktatur: Arbeiterdemokratie und Sozialismus.
Der Aufruf fand große Resonanz. Doch es gelang den SED/PDS-Stalinisten in Zusammenarbeit mit „demokratischen“ Bürgerrechtlern und westdeutschen Parteien, die Bewegung mit vereinten Kräften in Richtung Deutsche Einheit zu lenken – mit katastrophalen sozialen Folgen. Die DDR-Industrie wurde fast vollständig liquidiert, Millionen verloren ihren Job, viele versanken in Armut.
Keine Auseinandersetzung mit dem Stalinismus
Als die PDS die Deutsche Einheit tatkräftig unterstützte, blieb Wagenknecht nicht nur Mitglied der Partei, sondern wurde Teil ihrer Führung. Die Frage des Stalinismus führte zwar wiederholt zu Spannungen, doch in einem waren sich Wagenknechts Kommunistische Plattform und die rechte Führung um Gregor Gysi, Lothar Bisky und Hans Modrow einig: Eine politische Abrechnung mit dem Stalinismus sollte es nicht geben.
Im Januar 1995 legten Gysi, Bisky und Modrow dem Parteitag der PDS einen Antrag vor, der „stalinistische Auffassungen“ für unvereinbar mit der Mitgliedschaft in der PDS erklärte. Praktisch lief dies auf den Parteiausschluss von Wagenknecht und der Kommunistischen Plattform hinaus, deren prostalinistischen Positionen als Hindernis für den Einzug der PDS in Kommunal- und Landesregierungen galten.
Der Bund Sozialistischer Arbeiter intervenierte damals mit einem Offenen Brief an die Delegierten, der sich gegen den Ausschluss der Kommunistischen Plattform wandte. Dessen Standpunkte seien reaktionär, aber ein Ausschluss diene nicht dazu, die Frage des Stalinismus zu klären, sondern eine Diskussion darüber abzuwürgen, hieß es darin. Ohne ein klares Verständnis der Rolle des Stalinismus blieben die Ursachen der kapitalistischen Restauration und der damit verbundenen sozialen Katastrophe aber schlichtweg unverständlich:
Stalinismus, das ist weit mehr als ein undemokratisches Regime oder ein Bündel von Unterdrückungsmaßnahmen. Das historische Verbrechen des Stalinismus besteht darin, dass er über siebzig Jahre hinweg systematisch das Bewusstsein der Arbeiterklasse untergraben und ihre sozialistischen Traditionen zerstört hat. Nur so lässt sich erklären, dass die Arbeiterklasse auf dem Balkan, in Osteuropa und der früheren Sowjetunion dem Wüten von Nationalisten und Faschisten politisch völlig gelähmt gegenübersteht.
Die ersten, wütendsten und systematischsten Unterdrückungsmaßnahmen des Stalinismus richteten sich gegen Sozialisten, allen voran gegen die Trotzkisten, die die Perspektiven der Oktoberrevolution verteidigten. Stalin konnte sich zu Recht rühmen, mehr Kommunisten umgebracht zu haben als Hitler. Im Interesse einer privilegierten Bürokratie beging er einen richtiggehenden Völkermord an einer ganzen Generation von Sozialisten.
Wer heute versucht, den Bolschewismus für den Stalinismus verantwortlich zu machen, „vergisst“, dass Stalins Weg an die Macht über die Leichen sämtlicher Bolschewisten – Zehntausende an der Zahl – führte, die an der Seite Lenins die Oktoberrevolution verwirklicht hatten.[11]
Weder die Parteiführung noch die Kommunistische Plattform zeigten das geringste Interesse, die Frage des Stalinismus zu klären. Wagenknecht wurde nicht ausgeschlossen, verlor aber vorübergehend ihren Sitz im Parteivorstand. Als der Parteitag ein Jahr später fortgesetzt wurde, war der Streit mit der Kommunistischen Plattform längst beigelegt. „Das Ziel ist erreicht. Die politischen Weichen der PDS wurden in Richtung Regierungsbeteiligung und Zusammenarbeit mit der SPD gestellt. Eine politische Abrechnung mit dem Stalinismus fand nicht statt,“ kommentierte die Neue Arbeiterpresse, die Zeitung des BSA.[12]
Drei Jahre später – die PDS stellte inzwischen ihre ersten Landesminister in Mecklenburg-Vorpommern – wurde wieder ein Mitglied der Kommunistischen Plattform in den Vorstand gewählt und Wagenknecht erhielt für ihre Parteitagsrede ebenso viel Beifall wie der Parteivorsitzende Lothar Bisky. Sie wurde jetzt als linkes Feigenblatt gebraucht, um die rechte Regierungspolitik der PDS und später der Linkspartei abzudecken.
Diese Rolle spielte sie über zwanzig Jahre lang. In der Parteiführung stieg sie immer weiter nach oben. Sie war Europaabgeordnete, Bundestagsabgeordnete, stellvertretende Parteivorsitzende und Vorsitzende der Bundestagsfraktion. Sie trennte sich erst von der Linkspartei, als deren Wahlergebnisse in den Keller stürzten.
Stalin und Ulbricht sind aus Wagenknechts Vokabular verschwunden. Geblieben sind der dumpfe Nationalismus, die Staatsgläubigkeit und die Feindschaft gegen die Revolution, die die stalinistische Bürokratie auszeichneten. Wagenknecht versucht damit Mitglieder der Mittelschichten – Gewerkschaftsbürokraten, Staatsfunktionäre, Kleinunternehmer – zu mobilisieren, die sich vom technologischen Fortschritt und der Globalisierung überrollt fühlen, aber noch mehr einen Aufstand der Arbeiterklasse fürchten.
Leo Trotzki hatte die stalinistische Bürokratie als Werkzeug der Weltbourgeoisie im Arbeiterstaat bezeichnet. Das bestätigte sich mit der kapitalistischen Restauration in der Sowjetunion und Osteuropa. Wagenknechts Entwicklung von einer Erz-Stalinistin zu einer Verteidigerin des Kapitalismus und vehementen Chauvinistin folgt derselben Logik.
Es ist unmöglich, Krieg, Faschismus, Massenentlassungen und Sozialabbau zu stoppen, ohne ihre Ursache, den Kapitalismus, zu bekämpfen. Nur eine Bewegung, die sich auf ein sozialistisches Programm stützt und die Arbeiterklasse international vereint, kann den Rückfall in die Barbarei stoppen. Dazu müssen die Lehren aus dem einhundertjährigen Kampf der trotzkistischen Weltbewegung gegen den Stalinismus studiert und verstanden und die Sozialistische Gleichheitspartei und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale zur neuen Partei der Arbeiterklasse aufgebaut werden.
Siehe dazu: Peter Schwarz, „Das Bündnis Sahra Wagenknecht verabschiedet ein rechtes Europawahlprogramm“, WSWS 8. Februar 2024
Sahra Wagenknecht, „Meine Vision für Deutschland: Frieden, Freiheit, Wohlstand für alle“, Die Weltwoche, 11. Mai 2023
Siehe dazu: Peter Schwarz, „Sahra Wagenknechts Loblied auf Markt und Leistungsgesellschaft“, WSWS 17. Juni 2011
Siehe dazu: Peter Schwarz, „Sahra Wagenknechts nationalistische Hetzschrift“, WSWS 10. Juli 2021
Sahra Wagenknecht, „Marxismus und Opportunismus – Kämpfe in der Sozialistischen Bewegung gestern und heute“, Weißenseer Blätter, 4/1992
Ebd.
Hans Modrow, „Aufbruch und Ende“, Hamburg 1991, S.145
Wolfgang Leonhard, „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, Köln 1955, S. 397
Wolfgang Weber, „DDR – 40 Jahre Stalinismus. Ein Beitrag zur Geschichte der DDR“, Arbeiterpresse Verlag (Mehring Verlag), 1993, S. 66-67
Leo Trotzki, „Das Übergangsprogramm“, Mehring Verlag 1997, S. 121
Neue Arbeiterpresse Nr. 805, 2. Februar 1995
Neue Arbeiterpresse Nr. 827, 18. Januar 1996