Nachdem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am Montag seine Gespräche mit den Vorsitzenden der im Parlament vertretenen Parteien beendet hatte, weigerte er sich, einen Premierminister zu ernennen, der eine Mehrheit im Parlament erreichen könnte. Stattdessen veröffentlichte der Elysée-Palast eine Mitteilung, laut der Macron keinen Premierminister der von Jean-Luc Mélenchon geführten Neuen Volksfront (NFP) ernennen würde, die bei der Wahl am 7. Juli stärkste Kraft geworden war.
Macrons Missachtung des Wahlergebnisses hat die unlösbare Krise der französischen Demokratie und seine eigenen tiefen Beziehungen zum Neofaschismus offengelegt. Durch seine Weigerung, den Wahlsieger eine Mehrheit im Parlament zusammenstellen zu lassen, steht Frankreich seit fast zwei Monaten ohne Regierung da. Um diese Entscheidung zu erklären, behauptete der Elysée-Palast jedoch, die NFP sei für Abgeordnete des rechtsextremen Rassemblement National (RN) und Macrons eigene Koalition Ensemble inakzeptabel. Zudem kündigte er an, die beiden Parteien würden zusammenarbeiten, um jede NFP-Regierung zu Fall zu bringen:
Eine Regierung, die ausschließlich auf dem Programm und den Parteien des Bündnisses mit den meisten Abgeordneten, der Neuen Volksfront, basiert, würde sofort von allen anderen Gruppen in der Nationalversammlung bekämpft werden. Daher hätte eine solche Regierung sofort eine Mehrheit der über 350 Abgeordneten gegen sich, was sie faktisch handlungsunfähig machen würde. Angesichts der Ansichten der Parteivorsitzenden, die wir konsultiert haben, zwingt uns die institutionelle Stabilität unseres Landes daher, diese Option nicht wahrzunehmen.
Macrons Ankündigung, mit dem RN zusammenzuarbeiten, um eine NFP-Regierung zu verhindern, stellt die Weichen für eine scharfe Konfrontation mit der Arbeiterklasse. Macron ist unter Arbeitern verhasst, weil er gegen den Willen der Bevölkerung regiert, u.a. indem er letztes Jahr Rentenkürzungen per Dekret durchgesetzt hatte und die Bereitschaftspolizei gegen Massenproteste und Streiks gegen diese Kürzungen mobilisiert hatte. Ganze 91 Prozent der Bevölkerung lehnen Macrons Kürzungen ab, ein ähnlich hoher Prozentsatz auch seine Forderung, französische Truppen in den Krieg gegen Russland in der Ukraine zu schicken.
Dass die Kapitalistenklasse ohne Unterlass den gesellschaftlichen Reichtum in imperialistische Kriege und riesige Bankenrettungspakete kanalisiert – trotz entschiedener Ablehnung in der Bevölkerung und vor allem der Arbeiterklasse –, führt zunehmend zum Zusammenbruch demokratischer Herrschaftsformen.
Es wird berichtet, dass die Übergangsregierung des scheidenden Premierministers Gabriel Attal an einem Austeritätspaket und Nullrunden bei den Sozialausgaben arbeitet. Da Übergangsregierungen traditionell keinen Haushalt beschließen dürfen, verdeutlicht dies nur die Tatsache, dass Macron ein illegitimes Regime anführt. Diese Pläne werden in der Arbeiterklasse erbitterten Widerstand gegen Kürzungspolitik, globale imperialistische Kriege und gegen die Unterstützung Frankreichs und der Nato für den Völkermord des israelischen Regimes im Gazastreifen provozieren.
In der französischen herrschenden Klasse wird darüber debattiert, welche Regierungskoalition diesen Widerstand am besten unterdrücken und politisch abwürgen würde. Im Vorfeld der Wahl hatte Macron umfassende Diskussionen mit dem rechtsextremen RN geführt, um die Einsetzung einer rechtsextremen Regierung vorzubereiten. Doch stattdessen endete die Wahl mit einem Sieg der NFP, die von Millionen Arbeitern, vor allem in den Großstädten, gewählt wurde, um den Sieg der Neofaschisten zu verhindern.
Die Erklärung des Elysée-Palastes enthält auch einen Appell an Mélenchons Verbündete in der NFP, vor allem an die konzernfreundliche Sozialistische Partei (PS) und ihre traditionellen Verbündeten, die stalinistische Kommunistische Partei Frankreichs und die Grünen. Sie wurden aufgefordert, Mélenchon fallenzulassen, aus der NFP auszutreten und sich mit den Parteien von Macrons Koalition zu einem Regierungsbündnis zusammenzuschließen, das von der traditionellen Rechten unterstützt wird. Die PS, die KPF und die Grünen werden aufgefordert, „mit anderen politischen Kräften zu kooperieren“. Weiter heißt es:
Diskussionen mit den Gruppen LIOT, EPR, MoDem, Horizons, den Radikalen und der UDI haben einen Weg zu einer Koalition und möglicherweise einer Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen politischen Positionen aufgezeigt. Diese Gruppen haben deutlich gemacht, dass sie eine Regierung unter der Führung einer Persönlichkeit unterstützen würden, die nicht aus ihrem eigenen Umfeld stammt.
Doch derzeit lehnen die PS und ihre Verbündeten Macrons Appell ab und verurteilen seine Weigerung, die NFP eine Regierung bilden zu lassen. Die PS bezeichnete Macrons „nicht zu tolerierende“ Entscheidung als „Putsch“ und „als Ablehnung einer linken Regierung, weil er ihr Programm ablehnt und verachtet.“ Grünen-Parteichefin Marine Tondelier verurteilte Macrons „gefährliche demokratische Verantwortungslosigkeit“ als „Schande“ und kündigte an, „weiter für den Willen der französischen Bevölkerung zu kämpfen: drei Viertel wollen mit dem Macron-Regime brechen.“
Der nationale Sekretär der KPF Fabien Roussel erklärte, er werde sich nur öffentlich mit Macron treffen, um „eine Regierung unter Führung von Lucie Castets zustande zu bringen.“ Diese 37-jährige Bürokratin aus dem Finanzministerium wurde von Mélenchon als mögliche Premierministerin der NFP abgesegnet.
Mélenchon seinerseits wiederholte die Drohungen seiner Partei Unbeugsames Frankreich (LFI), einen Antrag auf ein Amtsenthebungsverfahren gegen Macron in der Nationalversammlung einzubringen. Dazu schrieb er auf X: „Die Antwort von Bevölkerung und Politik muss schnell und entschlossen erfolgen... Der Antrag auf Amtsenthebung wird gestellt.“
Am Dienstag riefen die Union der Studierenden (UE) und die Nationale Union der Gymnasiasten (UNL) für den 7. September zu landesweiten Protesten gegen „Emmanuel Macrons Autokratie“ auf. Kurze Zeit später veröffentlichte LFI einen Aufruf zur Teilnahme an den Protesten der UE und UNL. Die PS hat bisher noch keine Unterstützung dazu erklärt oder zur Teilnahme an den Protesten der UE-UNL aufgerufen.
In der Jugend muss eine mächtige Bewegung aufgebaut und vor allem muss die Arbeiterklasse mobilisiert werden, um Macrons Polizeistaatsdiktatur zu stürzen. Die militärische Aggression im Ausland und der Klassenkrieg im Inland, die Macron und die Regierungen aller Nato-Staaten führen, müssen gestoppt werden. Allerdings sind Arbeiter und Jugendliche nachdrücklich zu warnen: Dies kann nicht geschehen mit einer nationalen Perspektive und der Bildung einer kapitalistischen Regierung unter Führung der NFP oder gar der PS, einer bürgerlichen Partei, die dem Sozialismus und der Arbeiterklasse zutiefst feindlich gegenübersteht.
Die verschiedenen Parteien behaupten zwar, die Differenzen zwischen ihnen seien so unüberbrückbar, dass sie eine Regierungsbildung unmöglich machen. In Wirklichkeit sind sie aber relativ gering. So hat die NFP in ihrem Programm die Forderung nach der Entsendung von Truppen in die Ukraine und den Ausbau der Militärpolizei und der Geheimdienste im eigenen Land unterstützt. Hinsichtlich der grundlegenden Fragen imperialistischen Krieges im Ausland und Klassenkriegs im Inland unterscheiden sich die politischen Vorstellungen der PS und Mélenchons nicht grundsätzlich von denjenigen Macrons.
Trotz Mélenchons Drohungen, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Macron einzuleiten, und trotz Macrons Beharren, er werde keine NFP-Regierung akzeptieren, sind ihre Vorstellungen für eine künftige Regierung durchaus ähnlich.
Die NFP verfügt über 193 der 577 Sitze in der Nationalversammlung. Unter diesen Bedingungen würde Mélenchons Amtsenthebungsverfahren ebenso scheitern wie frühere Misstrauensanträge von LFI gegen Macron während seiner Präsidentschaft. Zudem würde jede Regierungsbildung der NFP, selbst wenn sie LFI und Mélenchon einschließen würde, von einer Einigung mit Macron und den mit ihm verbündeten kleinen rechten Parteien abhängen, wie Macron sie derzeit vorschlägt.
Indem er anbot, eine PS-geführte Regierung zu unterstützen, in der die LFI keine Minister stellen würde, hat Mélenchon schon signalisiert, dass er für einen Kompromiss in der Frage offen ist, die Macron am deutlichsten von der NFP trennt: die Frage, ob Mélenchon und seine Partei an der Regierung beteiligt würden.
Weil es zwischen ihnen und Macron keine fundamentalen Unterschiede gibt, haben sich Mélenchon und die NFP bisher geweigert, zu Protesten oder Streiks gegen Macrons Missachtung des Wahlergebnisses aufzurufen. Wenn die Proteste gegen Macron wieder beginnen, ist es die wichtigste Aufgabe für Jugendliche und Arbeiter, den Bürokraten in der NFP die Kontrolle über den Kampf zu entreißen. Die Proteste und Streiks gegen den Völkermord im Gazastreifen, Rentenkürzungen und Reallohnsenkung der letzten Zeit müssen zu einer Bewegung der internationalen Arbeiterklasse gegen imperialistischen Krieg und für Sozialismus ausgeweitet werden.