Perspektive

Die Krise der französischen Regierung und der Bankrott der Neuen Volksfront

Am Dienstagabend, kurz vor der Eröffnung der Olympischen Spiele in Paris, gab Präsident Emmanuel Macron im staatlichen Fernsehen bekannt, dass seine Partei Ensemble trotz ihrer Wahlniederlage am 7. Juli weiterhin die Regierung stellen wird. Die von ihm ernannten Minister würden bis zum Ende der Spiele Mitte August im Amt bleiben, so Macron. Außerdem lud er den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu, der wegen des israelischen Völkermords im Gazastreifen weltweit verhasst ist, provokativ zu den Olympischen Spielen ein.

Der französische Präsident Emmanuel Macron bei der Stimmabgabe am 30. Juni 2024 [AP Photo/Yara Nardi]

Dass Macron das Wahlergebnis mit Füßen treten und ungestraft Netanjahu umschmeicheln kann, verdankt er vor allem Jean-Luc Mélenchon und seinem Bündnis Nouveau Front Populaire (NFP, Neue Volksfront), die als seine Erfüllungsgehilfen fungieren.

Nachdem die NFP bei den Wahlen am 7. Juli auf Platz 1 gelandet war, gab es in der Bevölkerung eine Welle der Begeisterung über die unerwartete Niederlage des rechtsextremen Rassemblement National (RN, Nationale Sammlungsbewegung) und das Debakel von Macron. Allenthalben wurde Macrons Rücktritt und die Rücknahme der Rentenkürzungen verlangt, die er im vergangenen Jahr durchgesetzt hatte. Auf dem Nato-Gipfel in Washington am 9. Juli wagte Macron nicht, seine Forderung nach der Entsendung von Bodentruppen gegen Russland in der Ukraine öffentlich zu wiederholen.

Doch die NFP versäumte es, die politische Gelegenheit zu nutzen. Nachdem sie erst ein Wahlbündnis mit Macron eingegangen war – angeblich, um die Neofaschisten zu blockieren –, debattierte sie nun öffentlich darüber, ob sie einer Regierung beitreten sollte, die Macrons Politik fortsetzen würde.

Die erneute Stärkung Macrons ist eine Lektion über die prinzipienlosen Bündnisse, die Mélenchon betreibt. Die Parti de l'égalité socialiste (PES, Sozialistische Gleichheitspartei), die französische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, warnte bereits nach der Ausrufung der vorgezogenen Neuwahlen durch Macron und der Bildung des NFP-Bündnisses durch Mélenchon, dass die NFP eine Falle für die Arbeiter ist.

Kein einziges Mal hat Mélenchon versucht, die Millionen von Arbeitern, die ihm ihre Stimme gaben, um gegen sowohl Macron als auch das RN anzugehen, zum Kampf zu rufen. Obwohl sie die Unterstützung aller französischen Gewerkschaftsbürokratien hatte, rief die NFP keinen einzigen Streik aus, um die Arbeiterklasse gegen Krieg, Völkermord und Faschismus zu mobilisieren. Sie schwieg, als die Presse die Geheimgespräche der Regierung Macron mit dem RN enthüllte.

Im Vertrauen auf die Unterstützung der NFP lehnte Macron am Dienstag (23.7.) die Bildung einer Regierung auf der Grundlage des Wahlergebnisses mit den Worten ab: „Es ist klar, dass wir uns bis Mitte August auf die Spiele konzentrieren müssen.“ Forderungen nach der Rücknahme der Rentenkürzungen wies er zurück: „Was unser Land jetzt braucht, ist nicht zu zerstören, was wir gerade erreicht haben, sondern aufzubauen und voranzukommen.“

Auf die Frage, ob er tatsächlich mit dem Neofaschismus sympathisiere, gab Macron unumwunden seine Rolle beim Aufstieg der extremen Rechten zu: „Hören Sie, ich übernehme meinen Anteil der Verantwortung. Wie auch immer, überall in Europa haben die Extremen Zulauf, überall.“

Der Fernsehsender France2 sprach Macron darauf an, dass es in der Bevölkerung auf wenig Verständnis stoße, wenn russische Sportler wegen des Nato-Russland-Kriegs in der Ukraine von wichtigen Veranstaltungen ausgeschlossen werden, israelischen Sportlern jedoch trotz des Völkermords im Gazastreifen keine Beschränkungen auferlegt werden. Macron wischte diese Einwände vom Tisch: „Die Situation ist grundlegend anders. Israel reagierte auf den Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober.“

Macron unterstrich seine Beziehungen zu rechtsextremen und völkermordenden Kräften mit den Worten, Netanjahu „wäre willkommen, trotz der tiefen Meinungsverschiedenheiten, und sie sind tief ... Meinungsverschiedenheiten zu haben, zu versuchen, nützliche Lösungen zu finden, bedeutet jedoch nicht, dass man alle Beziehungen abbricht.“

Macron kann seine Politik des Kriegs, des Völkermords, der Sozialkürzungen und der faschistischen Reaktion, die von den Wählern abgelehnt wurde, nur dank des Bankrotts der NFP fortsetzen. Bis wenige Stunden vor Macrons Rede war es der NFP nicht gelungen, sich auf einen möglichen Premierminister zu einigen. Die Tatsache, dass Mélenchon schließlich der Nominierung der 37-jährigen Lucie Castets zustimmte – einer unbekannten Beamtin des Finanzministeriums, die an derselben Eliteschule für nationale Verwaltung (ENA) wie Macron ausgebildet wurde –, zeigt die Klassenkluft, die seine Partei La France insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich) von den Arbeitern trennt.

Die Ereignisse haben die Warnungen der PES vor der Rolle von Mélenchon und seiner bürgerlichen „populistischen“ LFI bestätigt. Die LFI geht schrittweise vor, um die linke Opposition gegen Macron und das RN zu ersticken. Nachdem Macron am 9. Juni vorgezogene Neuwahlen ausgerufen hatte, schloss sich LFI mit der Sozialistischen Partei (PS) und ihren politischen Satelliten zur NFP zusammen. The PES warnte:

Das ist für all diejenigen, die den Aufstieg der extremen Rechten und von Polizeistaat und Militarismus aufhalten wollen, eine politische Falle. Sie zielt darauf ab, den Kampf für den Sozialismus zu blockieren, indem sie die Arbeiter einem lähmenden Bündnis mit kapitalistischen Regierungsparteien unterordnet. Dem Bündnis werden die bürgerliche Parti socialiste (PS), die stalinistische Parti communiste français (PCF) und die Grünen angehören. Diese korrupten Parteien können die Unterstützer der „Volksfront“ nur in die Katastrophe führen. …

Aber Mélenchons Volksfront ist keine Kraft für Frieden und Demokratie. Ihre Perspektive ist eine Regierung, die auf kapitalistischen Eigentumsverhältnissen beruht. Sie verteidigt die Interessen des französischen Imperialismus. Sie bindet Arbeiter und Jugendliche an die PS, die sich den Sparmaßnahmen verpflichtet hat und unter dem Deckmantel der „Hilfe für die Ukraine“ einen Krieg mit Russland vorantreibt. Seit ihrer Gründung im Jahr 1971 durch den ehemaligen Nazi-Kollaborateur François Mitterrand unterhält sie Beziehungen zur extremen Rechten.

Die NFP verabschiedete ein Wahlprogramm, das die Entsendung französischer Truppen in die Ukraine und die Stärkung des französischen Militärs, der Polizei und der Geheimdienste unterstützt. Auf dieser Grundlage ging die NFP nach der ersten Runde der Wahlen am 30. Juni ein Bündnis mit Macrons Ensemble-Koalition ein, das angeblich dem Kampf gegen das RN diente. Die PSE warnte vor diesem Bündnis und erklärte:

Mélenchon und die NFP bieten Arbeitern keinen Weg zum Aufbau einer proletarischen Massenbewegung gegen Krieg und Faschismus. …

Die NFP arbeitet stattdessen daran, einen solchen Kampf zu ersticken. Sie schließt Wahlabsprachen, Wahlkreis für Wahlkreis, um eine kapitalistische Koalitionsregierung mit Macron zu bilden, in der Mélenchon als Macrons Premierminister fungieren könnte.

Das Verhalten der NFP nach dem 7. Juli hat diese Analysen bestätigt. Die PS, die PCF und die Grünen warben für die Professorin Laurence Tubiana als mögliche Premierministerin, obwohl sie offen dazu aufrief, die mageren sozialen Versprechen aus dem Programm der NFP zu streichen und stattdessen eine Regierung mit Macron zu bilden. Damit hatte Macron grünes Licht für den Versuch, breite Schichten der NFP in eine rechtsgerichtete, von ihm geführte Regierung einzubinden.

Diese Woche nun erklärte Mélenchon gegenüber der italienischen Tageszeitung La Repubblica, dass die RN-Führerin Marine Le Pen „auf einen Schlag 10 Prozent Stimmenzuwachs“ erhalten würde, wenn eine solche Regierung gebildet würde, die den Neofaschisten die Oppositionsrolle überließe. Aber genau das ist es, worauf der größte Teil der von Mélenchon gegründeten NFP hinarbeitet.

Egal, welche Regierung Macron letztendlich bildet, sie wird gegen die Bevölkerung regieren und sich im Kriegszustand mit den Arbeitern befinden. Neun von zehn Franzosen lehnen Rentenkürzungen zur Finanzierung der militärischen Eskalation und die Entsendung von Truppen in die Ukraine ab.

Die Arbeiter dürfen nicht darauf warten, dass sich die an der Neuen Volksfront beteiligten Bürokratien gegen Macron stellen, denn die NFP unterstützt seine Regierung. Der Kampf gegen Macron und Le Pen kann nur von Organisationen der einfachen Arbeiter geführt werden, die sich unabhängig von den Bürokratien gegen imperialistischen Krieg, Völkermord, Austerität und Kapitalismus zur Wehr setzen.

Um die Neofaschisten des RN und Macron zu besiegen, muss dringend eine linke Alternative zur NFP aufgebaut werden. Voraussetzung dafür ist die Verteidigung der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse und des trotzkistischen Erbes gegen den Stalinismus und die kleinbürgerliche Pseudolinke. Darin besteht die Politik der PES. Die Unterstützung der NFP durch das gesamte pseudolinke Milieu – einschließlich der pablistischen Nouveau Parti anticapitaliste (NPA), der Lutte ouvrière (LO, Arbeiterkampf) und der morenoistischen Révolution permanente – entlarvt sie als Komplizin des Imperialismus.

Die Partei, deren Programm und Perspektive sich durch den Bankrott von Mélenchon bestätigt haben und die nun aufgebaut werden muss, ist die Parti de l'égalité socialiste (PES).

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