Die Leipziger Buchmesse war in diesem Jahr von einer deutlichen Politisierung geprägt. Während Politik und Medien jede kritische Stimme gegen den Völkermord in Gaza und den Stellvertreterkrieg gegen Russland unterdrücken, wurden diese Fragen auf der Buchmesse, wie zuvor schon auf der Berlinale, von Autoren und Lesern umfassend diskutiert.
Seinen deutlichsten Ausdruck fand das auf der Päsentation des Buchs „Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert“ von David North, dem Vorsitzenden der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und der Socialist Equality Party in den USA. Mit mehr als 150 Teilnehmern platzte das Sachbuchforum in der Messehalle 5 aus allen Nähten und auf Norths Verurteilung der imperialistischen Kriegspolitik und der Rückkehr des deutschen Militarismus folgte heftiger Applaus. Viele Zuhörer kauften nach der Veranstaltung direkt das Buch und ließen sich ihr Exemplar vom Autor signieren.
Auch der Messestand des Mehring Verlags, der das Buch herausgebracht hat, fand große Resonanz. Es entwickelten sich rege Diskussionen. Der Verlag verkaufte dreimal so viele Bücher wie in den Jahren zuvor.
Die Leipziger Buchmesse ist traditionell ein großer Lese- und Debatten-Treffpunkt. Wegen der Corona-Pandemie war sie ab 2020 drei Jahre lang ausgefallen. In diesem Jahr fanden auf der Messe und im Rahmen des Lesefestivals „Leipzig liest“ 2800 Veranstaltungen an mehr als 300 Orten statt. Viele von ihnen drehten sich um die Weltkriegsgefahr, den Aufstieg der AfD und die Klimakatastrophe.
Grund für die veränderte Stimmung auf der Buchmesse ist die beispiellose politische Krisensituation. Auch Teilnehmer, die seit Jahrzehnten regelmäßig die Buchmesse besuchen, sprachen von einem völlig veränderten politischen Klima.
Die stetige Eskalation des Stellvertreterkriegs gegen Russland in der Ukraine, die von Debatten über deutsche „Kriegstüchtigkeit“, deutsche Atombomben und militärischen Schulunterricht begleitet wird, gibt ebenso Anlass zur Besorgnis wie die Unterstützung der Bundesregierung für den Genozid in Gaza. Letzterer führte zu vielfältigen Protestaktionen während der Messe.
Die Krise des kapitalistischen Systems ist weit fortgeschritten. Das zeigen die immer greifbareren sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Probleme. Die Pläne eines faschistischen Geheimtreffens in Potsdam, Migranten zu deportieren, haben in den vergangenen Wochen anhaltende Massendemonstrationen ausgelöst. Auch die Wahl eines AfD-Landrats in Thüringen, die Vereidigung eines AfD-Oberbürgermeisters in Pirna und drohende Wahlerfolge der AfD im Herbst schüren Empörung und Angst, dass die Gespenster der Vergangenheit wiederkehren.
Auf der Messe war aber auch die Zunahme des Klassenkampfs sichtbar. Ein eintägiger Streik der Verkehrsbetriebe fand zwar nur in der von Verdi gedämpften und kontrollierten Form statt, hatte aber dennoch spürbare Folgen. Jedem wurde bewusst, dass gegenwärtig überall Streiks und soziale Protestaktionen stattfinden, auch wenn die Gewerkschaften sie nach Kräften isolieren und auf wenige Stunden beschränken.
Attacken auf Scholz und Steinmeier
Die politische und intellektuelle Selbstbeweihräucherung der Regierung und einiger Kulturfunktionäre, die solche Großveranstaltungen gerne nutzen, um sich als Verfechter von menschlicher Kultur, Wissen und Fortschritt zu inszenieren, stieß auf heftigen Widerstand. Gegner des Völkermords in Gaza reagierten auf Auftritte von Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, beide SPD, mit heftigem Protest.
Scholz hatte am Vormittag im Bundestag in einer Regierungserklärung seine Unterstützung für die Ukraine im Krieg gegen Russland und für Israel im Genozid an den Palästinensern bekräftigt, bevor er abends im Leipziger Gewandhaus eine Rede zur Eröffnung der Buchmesse hielt.
Er begann mit den Worten: „Uns alle – und da schließe ich mich mit ein – verbindet die Liebe zum Lesen.“ Darauf stand im obersten Rang eine Frau auf und rief: „Herr Scholz, Sie haben kein Recht, hier über Demokratie zu sprechen, während Ihr Geld und Ihre Waffen tausende und abertausende Menschen im Gaza und in der Westbank ermorden.“
Scholz reagierte provokativ: „Hör auf zu brüllen!“ Doch die Rednerin antwortete: „Nein, auf keinen Fall. Das Blut der Palästinenser klebt an Ihren Händen. Sie sind für den Völkermord mitschuldig. Ich bin eine Israeli und ich sage Ihnen, Ihr Geld finanziert den Faschismus und die Apartheid.“ Als sie von Sicherheitskräften abgeführt wurde, rief sie noch: „Stoppt den Völkermord!“
Als Scholz danach an sein Redemanuskript anknüpfen wollte und rief: „Uns alle führt hier in Leipzig die Macht des Wortes zusammen, nicht die Macht des Geschreis!“, stand auf der gegenüberliegenden Seite der Empore eine andere Frau auf und setzte den Angriff auf die Kriegspolitik der Ampel-Regierung fort. Als auch sie aus dem Saal entfernt wurde, stand hinter ihr ein Mann auf und attackierte Scholz erneut.
Am zweiten Tag der Buchmesse sprach Bundespräsident Steinmeier zum Thema: „Wo stehen wir als Land im doppelten Jubiläumsjahr von 75 Jahren Grundgesetz und 35 Jahren Friedlicher Revolution?“ Auch seine Rede wurde mehrmals von Gegnerinnen des Völkermords unterbrochen. Nacheinander traten sieben Palästinenserinnen und Israelis auf und attackierten die Waffenlieferungen und die politische Unterstützung der Bundesregierung für die rechtsextreme israelische Regierung und ihren völkermörderischen Krieg in Gaza.
Im Rahmen der Eröffnungsversammlung zur Buchmesse wurde auch der Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2024 verliehen. Den Preis erhielt der israelisch-deutsche Philosoph Omri Boehm für sein Buch „Radikaler Universalismus. Jenseits der Identität“.
Boehm lehrt in den Vereinigten Staaten Philosophie. Er vertritt in seinem Werk die Idee eines jüdisch-palästinensischen „binationalen Bundesstaates“ als Alternative zum 1948 gegründeten jüdischen Staat Israel. Er ist ein Gegner der Zweistaatenlösung und verlangt „eine gerechte Lösung für alle Einwohner Palästinas“. Boehm stützt sich in seiner Philosophie des „Universalismus“ auf Immanuel Kant, dessen 300. Geburtstag im kommenden Monat gefeiert wird.
In seiner Dankesrede forderte er, auch den Störern zuzuhören. Die deutsch-jüdische Freundschaft müsse sich dadurch bewähren, dass man sich in der derzeitigen Situation unangenehme Wahrheiten zumute. Das Publikum antwortete auf seine Rede mit stehenden Ovationen, was die F.A.Z. mit den Worten kommentierte: „Da spürte man, dass auch im Saal die Sympathien eher aufseiten der Palästinenser lagen.“
Großes Interesse am Mehring Verlag
Das wurde bei der Buchpäsentation von David North besonders deutlich. Die Ablehnung des Genozids in Gaza, des Kriegs gegen Russland und der Rückkehr des Militarismus wurde vom Publikum begeistert aufgenommen.
Gleich zu Beginn erklärte North, dass Trotzki gerade in Deutschland von größter Bedeutung ist, weil er wie kein anderer vor den Gefahren von Krieg und Faschismus gewarnt habe. Trotzki habe erklärt, dass der Kapitalismus in die Katastrophe des Weltkriegs führt, wenn er nicht gestürzt wird und eben diese Frage spitze sich heute wieder zu. Das zeige sich in der Ukraine ebenso wie in Gaza.
In scharfen Worten griff North den Militarismus der Bundesregierung an. Wenn Bildungsministerin Stark-Watzinger fordere, Kriegsunterricht an den Schulen einzuführen, solle sie den Film „Oppenheimer“ ansehen, in dem die Auswirkungen des Atomkriegs greifbar sind. „Kinder sollten nicht auf Krieg vorbereitet werden“, erklärte er unter Applaus des Publikums. „Sie sollten auf die Verhinderung eines Kriegs vorbereitet werden. Deutschland braucht keine neue Generation von jungen Siegfrieds, es braucht eine neue Generation von Sozialisten.“
Wozu die Regierung fähig sei, sehe man derzeit in Gaza. Niemand solle sich davon einschüchtern lassen, wenn ausgerechnet die herrschende Klasse in Deutschland die Opposition gegen den Genozid als Antisemitismus diffamiere. Als jemand, dessen Familie Opfer des Holocaust gewesen sei, könne er der Regierung nur empfehlen, beim Thema Antisemitismus den „Mund zu halten“. „Der schreckliche Genozid, der hier in Deutschland stattgefunden hat, wird als Rechtfertigung genutzt, für die gleichen schrecklichen Verbrechen gegen die Palästinenser“, so North.
Höre man deutsche Politiker vom Atomkrieg sprechen, könnte man meinen, sie seien total verrückt geworden. „Aber dieser Wahnsinn hat objektive Gründe. Der Widerspruch zwischen globaler Produktion und Nationalstaat kann nicht friedlich gelöst werden. Er führt entweder zum imperialistischen Krieg oder zur sozialistischen Revolution.“
Deshalb sei die einzige Möglichkeit, um einen Weltkrieg zu verhindern die internationale Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Die Arbeiterklasse sei heute stärker denn je, aber sie brauche das notwendige Bewusstsein. „Man muss das Ergebnis des Verrats der Sozialdemokratie und des Stalinismus überwinden“, betonte North. „Und das ist nur möglich, wenn die Arbeiterklasse vertraut ist mit den Lehren der Geschichte“.
Das erfordere ein marxistisches Verständnis der Gesellschaft und revolutionären Optimismus. „Um Optimist zu sein, braucht man ein wissenschaftliches Verständnis der Probleme unserer Zeit, dann sieht man die Möglichkeiten“, so North. „Wenn man krank ist, und zu einem schlechten Arzt geht, wird dieser sagen: ‚Man kann nichts machen‘. Ein guter Arzt sagt: ‚Es gibt Möglichkeiten‘. In der Politik sind die richtigen Ärzte die Trotzkisten.“
In einem anschließenden Interviewgespräch mit Johannes Stern, Chefredakteur der deutschsprachigen WSWS und Vertreter des Mehring Verlags, betonte North: „Wenn Trotzkis Warnungen vor Faschismus und Krieg in den 1930er Jahren angenommen und befolgt worden wären, würden wir heute in einer völlig anderen Welt leben. Viele der Tragödien, die stattgefunden haben, hätten nicht stattgefunden... Dieses Mal müssen wir sicherstellen, dass auf die Warnungen der trotzkistischen Bewegung reagiert wird. Wir müssen diese Bewegung aufbauen. Es ist die einzige Partei, die wirkliche eine Perspektive hat und sich auf diese Lehren der Geschichte stützt.“
Am Stand des Mehring Verlags entwickelten sich an allen Messetagen intensive Diskussionen über die Gefahr eines Dritten Weltkriegs, über die AfD, den Faschismus und die Aktualität des Trotzkismus. Viele Besucher waren erfreut, ausführlich über politische Fragen diskutieren zu können, was an anderen Verlagsständen nicht möglich war.
Vor allem Trotzkis Bedeutung als Alternative zum Stalinismus, der der nationalistischen Theorie vom „Sozialismus in einem Land“ die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution entgegensetzte, stieß auf großes Interesse. Gerade in Ostdeutschland ist diese Frage auch 35 Jahre nach dem Zusammenbruch des stalinistischen DDR-Regimes zentral.
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