Perspektive

Oberstes Gericht von Alabama schreibt Embryonen Persönlichkeitsrechte zu

Ein umfassender Angriff auf demokratische Rechte und die Wissenschaft

Der Oberste Gerichtshof von Alabama in Montgomery [AP Photo/Kim Chandler]

Vergangenen Freitag entschied der Oberste Gerichtshof von Alabama, dass tiefgefrorenen Embryonen nach dem Recht dieses US-Bundesstaats Persönlichkeitsrechte zustehen. Das Urteil ist ein umfassender Angriff auf die Wissenschaft, die demokratischen Rechte und die verfassungsmäßige Trennung von Kirche und Staat. Die passive, gleichgültige Reaktion der Regierung Biden auf diese rechtsextreme Provokation beweist erneut, dass kein Teil der kapitalistischen Elite, auch nicht die Demokratische Partei, demokratische Rechte verteidigt. Diese wichtige politische Aufgabe fällt der Arbeiterklasse zu.

Dem Urteil des Obersten Gerichtshofs von Alabama ging eine Zivilklage von Eltern voraus, deren Embryonen in dem Labor, in dem sie für eine In-vitro-Fertilisation (IVF) gelagert wurden, versehentlich zerstört worden waren. Ein vorinstanzliches Gericht hatte die Klage abgewiesen und entschieden, dass ein Embryo kein „ungeborenes Kind“ im Sinne der bundesstaatlichen Verfassung sei.

In Alabama hatte sich in einem Referendum 2018 die Mehrheit der Wähler für ein Abtreibungsverbot in der Verfassung ausgesprochen. Dies wurde umgesetzt, nachdem der Oberste Gerichtshof der USA 2022 ein Urteil gefällt hatte, mit dem das Recht auf Abtreibung abgeschafft wurde.

Im aktuellen Fall nun hob der Oberste Gerichtshof von Alabama die Entscheidung der vorgelagerten Instanz auf und erklärte in Orwellscher Sprache, dass befruchtete Eizellen „extrauterine Kinder“ seien, die denselben Schutz genießen wie beispielsweise ein Schulkind.

Das Urteil ist ein rechtlicher und verfassungsrechtlicher Skandal. Ein Gesetz aus dem Jahr 1872, wonach Eltern wegen des Todes eines „minderjährigen Kindes“ Klage vor Gericht erheben können, wurde auf Embryonen angewandt, die durch In-vitro-Fertilisation (IVF) erzeugt wurden – eine medizinische Technik, die erst in den 1970er Jahren, also mehr als 100 Jahre später, entwickelt wurde.

In der Praxis bedeutet dies das Ende der In-vitro-Fertilisation im Bundesstaat Alabama. Ärzte, Kliniken und Eltern müssen nun befürchten, für die Vernichtung von Embryonen haftbar gemacht zu werden. Bei der künstlichen Befruchtung kommt dies häufig vor, da mehr Embryonen erzeugt als eingepflanzt werden. Überschüssige Embryonen oder solche mit genetischen Anomalien werden im Allgemeinen vernichtet oder für Forschungszwecke zur Verfügung gestellt. Als Reaktion auf das Urteil hat das größte Krankenhaus des Bundesstaats, die Universitätsklinik in Birmingham, alle IVF-Behandlungen eingestellt, weil sie befürchtet, dass „unsere Patienten und Ärzte strafrechtlich verfolgt werden könnten“.

Die künstliche Befruchtung ist einer der wichtigsten medizinischen Fortschritte des letzten halben Jahrhunderts. Millionenfach kamen nach der Einpflanzung von Embryonen gesunde Kinder zur Welt. Im Jahr 2021, dem letzten Jahr mit vollständigen Daten, wurden in den Vereinigten Staaten fast 100.000 IVF-Babys geboren. Selbst wenn es einigen Fruchtbarkeitskliniken gelingen sollte, in Alabama zu überleben, wird die Behandlung durch die Entscheidung des Gerichts wesentlich schwieriger und teurer werden. Bereits jetzt betragen die Kosten 15.000 bis 20.000 Dollar, eine enorme Belastung für Paare aus der Arbeiterklasse, die sich ein Kind wünschen.

Der nationale Kinderwunschverband RESOLVE bezeichnete das Urteil als „schlimm für die Menschen, die von Unfruchtbarkeit betroffen sind – jeder Sechste – und eine In-vitro-Fertilisation benötigen, um eine Familie zu gründen“. Weiter warnte der Verband: „Dieses Urteil hat tiefgreifende Auswirkungen weit über die Grenzen von Alabama hinaus. Alle Amerikaner, die sich Möglichkeiten der Familienplanung wie IVF wünschen oder darauf angewiesen sind, müssen wegen dieser Entscheidung und dem Präzedenzfall, der damit für das ganze Land geschaffen wird, zutiefst betroffen sein.“

Das Urteil in Alabama ist eine unmittelbare Folge des Urteils, das der Oberste Gerichtshof der USA 2022 in der Rechtssache „Dobbs“ erließ. Damit wurde das Abtreibungsverbot wieder eingeführt, das 1973 mit dem Präzedenzurteil in der Sache „Roe v. Wade“ abgeschafft worden war. Das Dobbs-Urteil stellte auch die frühere Entscheidung im Verfahren „Griswold v. Connecticut“ aus dem Jahr 1962 in Frage. Damals war das Verbot der Empfängnisverhütung im Bundesstaat Connecticut aufgehoben und erstmals das Recht auf Privatsphäre in der Verfassung verankert worden. Fortan gab es Lebensbereiche, darunter Entscheidungen über die Familienplanung, in die sich der Staat nicht mehr einmischen durfte. Heute aber machen ultrarechte Gerichtshöfe klar, dass sie keine Einschränkung der Unterdrückungsbefugnisse des kapitalistischen Staats mehr dulden werden.

In verfassungsrechtlicher Hinsicht stellt das Urteil eine dreiste Missachtung des Ersten Zusatzartikels der US-Verfassung dar, wonach der Kongress weder eine Religion zur Staatsreligion erklären noch die freie Religionsausübung verbieten darf. Diese Regelung wurde durch den 14. Zusatzartikel, in dem die Bürgerrechte definiert sind, auf alle Bundesstaaten ausgedehnt. Das 138-seitige Urteil des Obersten Gerichtshofs von Alabama basiert jedoch eindeutig auf christlich-fundamentalistischen religiösen Vorstellungen, die nun den Menschen in Alabama aufgezwungen werden sollen. (Alabama ist zwar der Bundesstaat mit dem höchsten Prozentsatz an Evangelikalen, doch liegt deren Anteil laut aktuellen Erhebungen auch hier nur bei 49 Prozent.)

Der Oberste Richter Tom Parker berief sich in seiner Stellungnahme unmittelbar auf die Bibel, d. h. auf die Schöpfungsgeschichte und den Propheten Jeremia als Grundlage für seine „juristische“ Einschätzung. „Die unrechtmäßige Vernichtung menschlichen Lebens muss unbedingt den Zorn des Heiligen Gottes auf sich ziehen, der die Vernichtung seines Ebenbildes als Affront gegen sich selbst betrachtet“, so Parker. „Bereits vor der Geburt tragen alle Menschen das Bild Gottes in sich, und wenn ihr Leben vernichtet wird, dann auch Seine Herrlichkeit.“

Gegenüber einem am Tag der Urteilsverkündung veröffentlichten Podcast faschistischer QAnon-Verschwörungstheoretiker erhob Parker den Staat zum „Geschöpf Gottes“. Es sei „herzzerreißend“, dass „wir ihn anderen überlassen haben“. Dann berief er sich auf das „Mandat der sieben Berge“, ein weiteres faschistisches Mantra, das die Eroberung von sieben Schlüsselbereichen der amerikanischen Gesellschaft fordert: Religion, Bildung, Familie, Staat, Wirtschaft, Medien und Unterhaltung/Kunst. Außerdem versicherte er, dass seine Maßnahmen als Oberster Richter von der „Gegenwart des Heiligen Geistes“ durchdrungen seien.

Mit diesem Gewäsch gab Parker der so genannten Personhood-Bewegung Auftrieb, die rechtlich verankern will, dass das menschliche Leben mit dem Moment der Befruchtung beginnt. Als Erstes wurde zu diesem Zweck der Fötus in jedem Stadium seiner Entwicklung als menschliches Wesen definiert. Nun werden tiefgefrorene Embryonen als „kleine Menschen“ bezeichnet, so Parker, und das Labor als „kryogene Kinderstube“, wie es in der Begründung des Gerichts heißt. Bisher haben elf Staaten per Gesetz entsprechende Persönlichkeitsrechte eingeführt.

Die Regierung Biden hat keinen Finger gerührt gegen die Flut reaktionärer Gesetze, die nach dem Dobbs-Urteil von 2022 losbrach. Auch die Demokratische Partei hat nichts dagegen unternommen. Jetzt nutzen sie die Sache als Wahlkampfthema und appellieren an die breite Unterstützung der Bevölkerung für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. In der Praxis jedoch tun sie nichts, um dieses demokratische Recht oder andere Errungenschaften zu verteidigen.

Das Weiße Haus gab keine Erklärung zum Urteil in Alabama ab. Seine Pressesprecherin Karine Jean-Pierre widmete dem Thema bei einer Pressekonferenz einen einzigen Absatz. Biden reiste unterdessen durch Kalifornien, um bei den dortigen Milliardären Geld für seinen Wahlkampf aufzutreiben. Am Dienstagabend hielt er eine private Ansprache im Haus des Hollywood-Milliardärs und Zionisten Haim Saban, am Mittwoch trat er bei mehreren Spendenaktionen in der Bay Area auf.

Mit der gleichen Untätigkeit reagierte Biden, als der Gouverneur von Texas, Greg Abbot, offen gegen Bundesrecht verstieß, indem er die texanische Nationalgarde und Polizei anwies, Migranten an der Grenze zu Mexiko zurückzudrängen. Laut Verfassung ist für Fragen des Grenzschutzes ausschließlich die Zentralregierung zuständig.

Biden hätte die texanische Nationalgarde der Kontrolle durch Abbott entziehen und der Befehlsgewalt des Zentralstaats unterstellen können. Er hätte auch die Regierungen anderer Bundesstaaten zur Rechenschaft ziehen können, weil sie die Verfassung missachten und demokratische Rechte angreifen. Aber er unternimmt nichts, da er weiterhin eine Einigung mit den Republikanern im Kongress anstrebt, um den Militäretat für den Krieg gegen Russland in der Ukraine massiv zu erhöhen. Damit lässt er zu, dass ein großer Teil des Landes, der von Gouverneuren und Parlamenten der Republikaner kontrolliert wird, die Politik des faschistischen republikanischen Präsidentschaftskandidaten und Ex-Präsidenten Donald Trump in die Tat umsetzt.

Das Alabama-Urteil wird bei religiösen Fanatikern, die gegen die Trennung von Kirche und Staat sind, und bei Impfgegnern und wissenschaftsfeindlichen Demagogen wie Robert F. Kennedy Jr. Anklang finden. Sie werden daraus die Schlussfolgerung ziehen, dass sie freie Hand haben, weil auch der Oberste Gerichtshof der USA hinter ihnen steht und die Demokratische Partei sowie die Biden-Regierung sie gewähren lassen.

Für die Arbeiterklasse aber muss der Angriff auf das Recht auf freie Familienplanung, einschließlich des Rechts auf Abtreibung, auf In-vitro-Befruchtung und Verhütung, als Bedrohung demokratischer Rechte aufgefasst werden, und sie muss entsprechend handeln. Dazu muss sich die Arbeiterklasse politisch organisieren, und zwar unabhängig vom kapitalistischen Zweiparteiensystem, das sowohl von offenen Faschisten wie Trump als auch von vermeintlich liberalen Vertretern der Konzernoligarchie (und Unterstützern des Völkermords in Gaza) wie Biden vertreten wird. Es kommt darauf an, die Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms gegen das gesamte kapitalistische System und seine Verteidiger zu mobilisieren.

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