Sechzig Jahre seit dem Frankfurter Auschwitzprozess

Am 20. Dezember 1963 wurde im Frankfurter Rathaus, dem Römer, das „Verfahren gegen Mulka und andere“ eröffnet. Fast zwanzig Jahre nach Kriegsende und den Nürnberger Prozessen, in denen die Führungselite Hitlers verurteilt wurde, mussten sich in diesem Verfahren zum ersten Mal in der Bundesrepublik Deutschland einige der persönlich und unmittelbar an der Vernichtungsmaschinerie des Nationalsozialismus Beteiligten vor Gericht verantworten. Der Prozess endete am 19. August 1965.

Wir veröffentlichen hier einen Artikel über den Prozess, der erstmals im März 2004 auf der WSWS erschien. Damals wurde im Haus Gallus in Frankfurt am Main eine vom Fritz-Bauer-Institut erstellte Ausstellung zum 40. Jahrestag des Auschwitzprozesses eröffnet. Die Verhandlungsprotokolle erschienen damals als DVD-Edition.

Späte Ermittlungen

Richter: Was sahen Sie vom Lager

Zeuge2: Nichts
Ich war froh, dass ich wieder wegkam

Richter: Sahen Sie die Schornsteine am Ende der
Rampe
und den Feuerschein

Zeuge2: Ja
Ich sah Rauch

Richter: Was dachten Sie sich dabei

Zeuge2: Ich dachte mir das sind die Bäckereien
Ich hatte gehört, da würde Tag und Nacht Brot
gebacken
Es war ja ein großes Lager

(Peter Weiss: Die Ermittlung, Frankfurt 1965)

Bekanntlich ist die gerichtliche Aufarbeitung des Naziregimes und seiner ungeheuerlichen Verbrechen alles andere als ein Ruhmesblatt der bundesdeutschen Justiz. Die Widerstände gegen derartige Prozesse waren innerhalb der Justiz und unter der politischen Elite der fünfziger und sechziger Jahre erheblich.

Von links nach rechts: Richard Baer, Josef Mengele und Rudolf Höss (1944) [Photo: Bernhard Walther or Ernst Hofmann or Karl-Friedrich Höcker, Public domain, via Wikimedia Commons]

Von den drei führenden KZ-Kommandanten von Auschwitz lebte zu Prozessbeginn keiner mehr. Rudolf Höss und Arthur Liebehenschel waren 1947, entsprechend einer Absprache unter den Alliierten, in Polen verurteilt und hingerichtet worden. Andere Hauptverantwortliche, wie der berüchtigte KZ-Arzt Mengele, konnten fliehen und in Südamerika untertauchen. Richard Baer, der letzte Lagerkommandant von Auschwitz, weigerte sich während der Voruntersuchung zum Frankfurter Prozess, irgendeine Aussage zu machen. Er starb bereits in der Untersuchungshaft, daher kam es gegen ihn nicht mehr zur Anklage. In Frankfurt ging es deshalb nur um einige wenige Mitarbeiter dieser Kommandanten.

Aber vielleicht gerade, weil es nicht nur um die führenden SS-Leute, sondern um die „Handlanger“ ging, führte dieser Prozess und die ausführliche Berichterstattung in der Presse der bundesdeutschen Gesellschaft erstmals ein umfassendes Bild des scheinbar banalen Tagesablaufs der grauenvollen Vernichtungsmaschinerie von Auschwitz vor Augen. Der Prozess trug daher nicht unwesentlich zur Politisierung der jüngeren Generation bei.

Dass sich die Ereignisse von Auschwitz so plötzlich in den Alltag der Bundesrepublik Deutschland drängten, war vor allem den Aussagen der 359 Zeugen aus 19 Ländern - darunter 211 Überlebende des Konzentrations- und Vernichtungslagers - zu verdanken, die sich teilweise unter größten Qualen an die furchtbaren Ereignisse erinnern und über sie mit einer vom Strafprozess verlangten Präzision berichten mussten, die ihre Kräfte oft überstieg. Die Angeklagten, die flankiert von Ihren Verteidigern auf den Bänken der Stadtverordneten Platz genommen hatten, saßen meist betont teilnahmslos dabei.

Hinter ihnen hingen vor den hohen Fenstern zwei große Schautafeln mit Skizzen des Konzentrationslagers Auschwitz I (Stammlager) und des Lagers Auschwitz II (Vernichtungslager Birkenau). Auf den Plätzen des Magistrats saß das Schwurgericht, damals noch mit drei Berufsrichtern und sechs Laienrichtern als Geschworenen. Den Vorsitz führte der Richter Hans Hofmeyer.

Der Prozess sollte zwanzig Monate dauern. Der Saal im Römer war damals der einzige in Frankfurt, der alle Prozessbeteiligten fassen konnte. Im Frühjahr 1964 zog das Gericht dann in das inzwischen eigens zu diesen Zweck umgebaute Bürgerhaus Gallus um, in dem das Verfahren zuende geführt wurde. Rund 20.000 Zuschauer verfolgten im Laufe der Monate das Verfahren.

Am Ende wurden sechs Angeklagte wegen Mordes oder gemeinschaftlichen Mordes zu lebenslangen Zuchthausstrafen, elf zu Zuchthausstrafen von maximal 14 Jahren verurteilt, während drei Angeklagte aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurden, zwei schieden vorzeitig wegen Tod oder Krankheit aus dem Verfahren aus. Für die Richter bestand die Schwierigkeit darin, dass jedem einzeln seine Tatbeteiligung zweifelsfrei nachgewiesen werden musste. Das war auch der Grund für die relativ milden Urteile, die viele der überlebenden Opfer des Nationalsozialismus als unangemessen empfanden.

Von den mehr als 6.000 (andere Quellen gehen von 8.000 aus) ehemaligen SS-Angehörigen, die in der Zeit von 1940 bis 1945 die Lager in Auschwitz bewacht hatten, standen nur 22 in Frankfurt vor Gericht, darunter ein ehemaliger Funktionshäftling, ein sogenannter Kapo. In den zwanzig Monaten, die der Prozess dauerte, zeigten die Angeklagten keinerlei Einsicht oder Reue.

Die Strafen standen in keinem Verhältnis zu den Verbrechen, an denen die Täter schuldig oder mitschuldig waren. Mindestens drei Millionen Juden und etwa ebenso viele politische Häftlinge, Sinti, Roma oder Homosexuelle waren in Auschwitz ins Gas geschickt worden oder durch schwerste Arbeit bei Hunger und Kälte, durch Misshandlungen und bestialische medizinische Versuche, willkürliche Schläge oder Erschießungen zu Tode gekommen. Die Lager hatten eine solche Größe erreicht, dass zum Schluss allein im Vernichtungslager Birkenau 100.000 Häftlinge untergebracht werden konnten.

Wie es zum Prozess kam

Dass es überhaupt zu diesem Prozess kam, war zwei mehr oder weniger zufälligen Ereignissen zu verdanken, die nicht unmittelbar miteinander zusammenhingen. Wie der Mitarbeiter des Fritz-Bauer-Instituts in einem Essay schreibt, hätte nicht viel gefehlt und „es wäre zum großen Auschwitzprozess vor vierzig Jahren überhaupt nicht gekommen“.[1]

Adolf Rögner, ein ehemaliger Auschwitz-Häftling und Kapo, saß (wegen „Meineids und uneidlicher Falschaussage“) in Bruchsal ein. Er erstattete mit einem Brief vom 1. März 1958 an die Staatsanwaltschaft Stuttgart Strafanzeige gegen Wilhelm Boger, vormals Angehöriger der Auschwitzer Lagergestapo. Darin beschuldigte er diesen wegen seiner in Auschwitz verübten Verbrechen und nannte seinen Wohnsitz und Arbeitsplatz.

Die Behörden zögerten jedoch zunächst, der Sache nachzugehen. Erst zwei Monate später, auf Drängen von Hermann Langbein, dem Generalsekretär des Internationalen Auschwitz-Komitees, den Rögner ebenfalls informiert hatte, begannen die Ermittlungen und Befragungen Rögners. Dieser nannte dann noch weitere Namen von Auschwitzer SS-Personal, und Langbein benannte weitere Zeugen. Schließlich wurde ein Haftbefehl gegen Wilhelm Boger ausgestellt, der aber erst sieben Monate nach der Anzeigeerstattung, am 8. Oktober 1958, an seinem Arbeitsplatz verhaftet wurde. Die von Rögner ebenfalls beschuldigten Stark, Broad und Dylewski kamen im April 1959 in Untersuchungshaft.

Unabhängig davon schickte ein Reporter der Frankfurter Rundschau, Thomas Gnielka, Mitte Januar 1959 Dokumente an den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer. Er hatte diese von einem anderen KZ-Überlebenden, dem in Frankfurt wohnhaften Emil Wulkan, erhalten. Wulkan hatte diese Papiere im Mai 1945 in Breslau gefunden. Er hatte dort Akten, die aus einem brennenden SS-Gericht geflogen waren, mitgenommen, ohne sie einordnen zu können. Als er sich im Dezember 1958 um einen Antrag auf Wiedergutmachung bemühte, zeigte er die Papiere dem Journalisten, der sie als Erschießungsakten aus dem KZ Auschwitz identifizierte und dem hessischen Generalstaatsanwalt übergab.

In den Dokumenten, Schreiben der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz und des SS- und Polizeigerichts XV Breslau aus dem Jahre 1942, kamen Namen von angeblich auf der Flucht erschossenen Häftlingen sowie 37 Namen von an den Erschießungen beteiligten SS-Männern vor, u.a. der des späteren Angeklagten Stefan Baretzki. Um den Anschein der Rechtmäßigkeit dieser Morde zu wahren, waren die Opfer ordnungsgemäß schuldig und die SS-Mörder selbstverständlich freigesprochen worden.

Diese Dokumente benutzte der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, um beim Bundesgerichtshof die Zuständigkeit des Landgerichts Frankfurt am Main für den Auschwitz-Komplex zu erwirken, was er im April 1959 auch erreichte. Erst jetzt konnte er systematisch die Bedingungen schaffen, um Klage gegen Auschwitztäter zu erheben, sie zu inhaftieren und die Voruntersuchungen einzuleiten.

Fritz Bauer, ein aus dem Exil zurückgekehrter Sozialdemokrat, der wegen seiner jüdischen Abstammung und aus politischen Gründen hatte fliehen müssen, gehörte zu den wenigen Juristen der frühen Bundesrepublik, die sich um eine juristische Verfolgung der Naziverbrechen verdient gemacht haben. Oft genug war er dabei auf Betonwände gestoßen. Jetzt ergriff er die Gelegenheit und setzte durch, dass der Prozess endlich beginnen konnte.

Bauer wollte die von den Nationalsozialisten in Auschwitz in die Tat umgesetzte „Endlösung der Judenfrage“ zum Gegenstand des Verfahrens machen. Er bemühte sich daher auch, historische Sachverständigengutachten des Instituts für Zeitgeschichte in München in den Prozess einzubringen. Denn es ging ihm nicht in erster Linie um die Verurteilung der einzelnen Täter, sondern vor allem darum, geschichtliche Aufklärungsarbeit zu leisten. Im Nachhinein betrachtet, hatte er damit Erfolg, auch wenn in den vierzig Jahren nach dem Prozess immer wieder gefordert wurde, die alten Geschichten ruhen zu lassen und einen „Schlussstrich“ unter die Nazivergangenheit zu ziehen. Auch die immer wieder von Rechtsextremen vorgebrachten Behauptungen, in Auschwitz seien nie Menschen vergast worden, sind durch den Prozess von Frankfurt ein für alle Mal als übelste Geschichtsfälschungen entlarvt worden.

Ein junger Landtagsabgeordneter der CDU aus Mainz, namens Helmut Kohl, der sich später die „Gnade der späten Geburt“ zu gute halten sollte, hielt Bauer entgegen, der zeitliche Abstand zum sogenannten Dritten Reich sei noch viel zu kurz, um ein abschließendes Urteil „über den Nationalsozialismus“ fällen zu können. Er drückte damit eine in politischen Kreisen der Bundesrepublik durchaus weit verbreitete Ansicht aus.

Die Angeklagten: Handlanger im Befehlsnotstand

Richter: Angeklagter Boger, war Ihnen als
Kriminalkommissar nicht bekannt
dass ein Mensch
der einem solchen Verhör unterzogen wird
alles sagt, was man von ihm hören will

Angeklagter 2: Da bin ich ganz anderer Auffassung
und zwar mit ausdrücklichem Bezug auf unsere
Amtsstelle
Bei der Verstocktheit der Gefangenen
half nur Gewalt zur Herbeiführung von
Geständnissen

Zeuge 8: Dann wurde ich in den Block Elf
gebracht und auf dem Dachboden
an den nach hinten gebundenen Händen
aufgehängt
Das hieß Pfahlhängen
Man hing so hoch
dass die Fußspitzen gerade den Boden berührten
Boger stieß mich hin und her
und trat mir gegen den Bauch.....

Angeklagter 2: Der Zweck der verschärften
Vernehmung war erreicht
Wenn das Blut durch die Hosen lief...

Im übrigen bin ich der Meinung, dass auch heute
noch die Prügelstrafe angebracht wäre
zum Beispiel im Jugendstrafrecht
Um Herr zu werden über manche Fälle von
Verrohung

(Peter Weiss: Die Ermittlung, Frankfurt 1965)

Während die Verteidigung den Auschwitzprozess als „Schauprozess“ zu diffamieren versuchte, der durch eine Art Verschwörung ehemaliger kommunistischer Häftlinge zustande gekommen sei, hüllten sich die Angeklagten, die einen Querschnitt durch das Lagerpersonal darstellten, weitgehend in Schweigen, leugneten entweder jede Tatbeteiligung oder suchten sich als reine Befehlsempfänger dazustellen, die nur untergeordnete Funktionen innehatten. Das Gericht ließ die Behauptung, sie hätte sich im Befehlsnotstand befunden, jedoch nicht gelten und wies nach, dass niemandem, der sich solchen Verbrechen widersetzt hatte, ein erheblicher Nachteil entstanden sei. Das haben Zeugenaussagen zweifelsfrei erwiesen.

Der Untersuchungsrichter Hans Düx, der an der Prozessvorbereitung mitarbeitete, berichtet über den Angeklagten Oswald Kaduk, dem zahlreiche Einzeltötungen und eigenmächtige Selektionen nachgewiesen wurden:

„Sein Auftreten war zwanghaft militaristisch. Bei jeder an ihn gerichteten Frage sprang er auf, nahm Haltung an (Hackenschlag, Hände an die Hosennaht) und gab mit abgehackter Stimme eine Erklärung ab. Als ich ihn belehrte, dass er nicht immer Haltung annehmend aufspringen müsse, schoss er wieder hoch und antwortete schneidig: ‘Jawohl!’ Den Militarismus hatte er offenbar so verinnerlicht, dass er in einem anderen Zusammenhang sogar antwortete: ‘Jawohl, Herr Obersturmführer.’ [Als ihm diese Anrede entfahren war, stutzte er kurz und erklärte dann, das sei aus alter Gewohnheit geschehen. Wenn er mit Amtspersonen spreche, reagiere er häufig so, wie es bei der SS üblich gewesen sei und wie er es früher tausendfach getan habe. Ich hatte in der Tat den Eindruck, dass er die Anrede nicht aus Gründen der Provokation gewählt hatte, sondern dass aufgrund der Vernehmungssituation das tief verinnerlichte Verhaltensmuster unbewusst zutage trat.]

Die Erklärungen Kaduks zu den ihm vorgeworfenen Beschuldigungen waren wesentlich instruktiver als die seiner meistens ausweichend um die Geschehnisse herumredenden Mittäter. Seine Verteidigung war darauf gerichtet, sich als SS-Unterführer in einer untergeordneten Handlangerfunktion darzustellen. Die Todesselektionen hätten SS-Ärzte und höhere SS-Führer vorgenommen. Seine Aufgabe sei es nur gewesen, wie ein Luchs aufzupassen, dass keiner der Todeskandidaten zur Gruppe der Arbeitsfähigen hätte überwechseln können. Ankommende Kinder seien, sofern sie nicht von den SS-Ärzten für medizinische Experimente ausgesucht worden seien, sofort vergast worden. Auch arbeitsfähige Mütter, die sich nicht von ihren für die Vergasung vorgesehenen Kindern hätten trennen wollen, seien mit in die Gaskammer geschickt worden.

Die Judentransporte ‘kamen an wie warme Brötchen’, erklärte Kaduk wörtlich. Mit anderen SS-Männern habe er die von den Ärzten und höheren SS-Führern ausgesuchten Todeskandidaten mit Lastwagen von der Ankunftsrampe zur Gaskammer transportiert. ‘Ich habe niemals mit Bewusstsein getötet, nur manchmal jemanden geschlagen, wenn er sich vor der Arbeit drücken wollte’, resümierte Kaduk. ‘Ein scharfer Hund’ sei er schon gewesen. In Bezug auf den in den sechziger Jahren amtierenden polnischen Ministerpräsidenten Józef Cyrankiewicz, der Häftling in Auschwitz gewesen war, meinte er: ‘Wenn ich damals die Möglichkeit gehabt hätte, hätte ich ihn um die Ecke gebracht.’ Diese Offenbarung stand im offensichtlichen Widerspruch zu seiner Einlassung, einen Tötungsvorsatz habe er nie gehabt, sondern nur durch Schläge für Disziplin sorgen wollen. Seine Verharmlosungsversuche wurden durch vielfältige Zeugenaussagen widerlegt. Das Schwurgericht verurteilte ihn wegen Mordes an insgesamt 1.012 Menschen zu lebenslänglicher Freiheitsstrafe.“[2]

Zu den Angeklagten gehörte Robert Mulka. Er hatte als Adjutant der Lagerleitung die Befehle zur „Abwicklung“ der Transporte gegeben. Der Apotheker Victor Capesius, ein ehemaliger Mitarbeiter der IG Farben und Leiter der SS-Apotheke, war an den Selektionen an der Rampe beteiligt.

Der Angeklagte und SS-Unterscharführer Wihelm Boger von der politischen Abteilung der Lager-SS war an Folterungen, sogenannten „Bunkerentleerungen und Erschießungen“ beteiligt. Ein Prozessbeobachter berichtete: „Die Zuhörer saßen wie gelähmt und blickten mit schreckgeweiteten Augen auf die Frau im Zeugenstuhl. Soeben hatte sie noch mit beherrschter Stimme die Folterung von Häftlingen auf der berüchtigten Boger-Schaukel geschildert, nun fehlten ihr plötzlich die Worte. Stockend berichtete sie, wie eines Tages auf einem Lastkraftwagen fünfzig Kinder im Alter von etwa fünf bis zehn Jahren ins Lager gebracht wurden. ‘Ich erinnere mich an ein vierjähriges Mädchen...’ Da bricht ihre Stimme ab, die Schultern beginnen zu zucken, die Zeugin bricht in verzweifeltes Weinen aus. Lähmendes Entsetzen macht sich breit...“[3]

Im Laufe des Prozesses wurden zahlreiche bestialische Verbrechen Bogers enthüllt, darunter die Erschießung der Lili Tofler, die einem Mitgefangenen einen Brief zugesteckt hatte. Boger hatte sie zuvor vier Tage lang jeden Morgen eine Stunde lang in den Waschraum gestellt und ihr seine Pistole an die Schläfe gehalten. Boger hatte auch ein berüchtigtes Folterinstrument erfunden, die sogenannte Bogerschaukel, den darin aufgehängten Häftlingen wurden die Hoden zerschlagen.

Zu den Angeklagten gehörte auch der Anthropologe Dr. Bruno Beger. Er war ein höherer SS-Offizier und arbeitete zusammen mit dem während des Zweiten Weltkrieges an der Universität Straßburg tätig gewesenen Professor Hirt, der bei Kriegsende Selbstmord beging. Sie wollten eine Schädelsammlung von „jüdisch-bolschewistischen Kommissaren“ anlegen. Da in Auschwitz viele sowjetische Kriegsgefangene inhaftiert waren, wurden die Opfer dort ausgesucht, getötet, skelettiert und die Köpfe in der Universität Straßburg verwahrt. „Der auf ‚jüdisch-bolschewistische Schädel’ spezialisierte ‚Wissenschaftler’ versuchte trotz eindeutiger Beweise in der Voruntersuchung mit ausweichenden Erklärungen zu reagieren. Im Hauptverfahren wurde er zu einer mehrjährigen Freiheitsentziehung verurteilt.“[4]

Hans Stark war wegen Mitwirkung bei Selektionen, Vergasungen und Erschießungen angeklagt, seine Kollegen Pery Broad und Klaus Dylewski ebenfalls wegen Beteiligung an Selektionen und Exekutionen. Max Lustig, der Chef der Gestapo der Stadt Auschwitz, hatte Standgerichtsverhandlungen in Auschwitz durchgeführt. Die Sanitätsgrade Josef Klehr, Hans Nierwicki und Emil Hantl waren sowohl an Selektionen beteiligt, als auch an Tötungen durch Phenolinjektionen. Die Funktionshäftlinge Emil Bednarek und Alois Staller hatten Mitgefangene getötet.

Vom Frühjahr 1942 an rollten die Todeszüge mit Juden in das Vernichtungslager. Allein in diesem Jahr kamen 166 Transporte mit ungefähr 180.000 Deportierten dort an, 1943 waren es 174 mit etwa 220.000, und 1944 beförderte die Reichsbahn ungefähr 300.000 Opfer in 300 Zügen. Es handelte sich um Viehwaggons.

Der Auschwitz-Forscher Werner Renz schildert die mörderische Praxis des KZ-Personals wie folgt:

„Ein eingespielter Vernichtungsapparat führte die ‘Abwicklung’ der Transporte durch. Fernschreiben und Funksprüche kündigten der Kommandantur des Lagers die Ankunft eines Transportes an, die ihrerseits Anweisungen an die Schutzhaftlagerführung, die Politische Abteilung, die Dienststelle SS-Standortarzt, die Fahrbereitschaft, den Wachsturmbann und die Abt. Arbeitseinsatz gab. In jeder mit der ‚Abwicklung’ eines Transports befassten Abteilung gab es einen Dienstplan für den ‘Einsatz’ bei ‘Sonderaktionen’ auf der Rampe. Die zum Rampendienst eingeteilten SS-Führer, SS-Unterführer und SS-Männer hatten festgelegte Aufgaben: Sie beaufsichtigten die Selektionen auf der Rampe, nahmen von Transportführern die Transportpapiere entgegen, teilten die Deportierten in Männer, Frauen und ‘Arbeitsunfähige’ (Alte, Kranke, Kinder) ein, formierten die verschreckten, orientierungslosen Menschen in Fünferreihen und selektierten sie, bestätigten die Übernahme des Todeszuges unter Angabe der ‘Transportstärke’, befehligten das Aufräumungskommando auf die Rampe zum Raub der Habseligkeiten der angekommenen Juden, transportierten die zum Tode Verurteilten mit Lastwagen zu den Gaskammern oder führten die Opfer in Kolonnen dorthin, gaben Anweisungen, sich zum ‘Duschen’ zu entkleiden, täuschten die arg- und wehrlosen Opfer mit lügnerischen Reden, führten sie in die Gaskammern, verriegelten die Türen, brachten mit einem Sanitätskraftwagen das Tötungsmittel Zyklon B zu den Todesfabriken, warfen das Gas ein, beobachteten den Vergasungsvorgang und den Todeskampf der Opfer durch ein Guckloch, stellten den Tod der Menschen fest, ordneten die Verbrennung der Leichen in den Krematorien an, kontrollierten das Ausreißen von Goldzähnen, das Abscheren von Frauenhaaren, überwachten den Raub von Wertgegenständen, vermeldeten per Fernschreiben an die im Reichssicherheitshauptamt sitzenden Buchhalter des Massenmordes die Gesamtzahl der Deportierten, reportierten die Anzahl der ins Lager verbrachten Häftlinge sowie die Zahl der mit Gas Ermordeten, wiesen die ‘arbeitsfähigen’ Männer und Frauen ins Lager ein, ließen sie scheren und einkleiden, karteimäßig erfassen und nummerieren, zwangen sie zu meist mörderischen Arbeiten, durch die die Häftlinge vernichtet wurden. Kranke und geschwächte Lagerinsassen ermordeten sie mit Phenolinjektionen ins Herz, selektierten die nicht mehr ‚brauch- und verwertbaren’ Arbeitssklaven und vergasten sie, erschossen Tausende an der Schwarzen Wand.

In etwa 900 Tagen kamen über 600 Todeszüge mit über einer Million Juden und ca. 20.000 Sinti und Roma in Auschwitz an. Tag für Tag, Tag und Nacht, waren die SS-Leute an der Massenvernichtung beteiligt.“[5]

Wenn es dem Gericht nicht gelungen wäre, mit Hilfe der Zeugenaussagen den Angeklagten ihre individuelle Beteiligung an den Morden und Folterungen nachzuweisen, hätten sie allenfalls wegen Beihilfe belangt werden können.

Die Verteidigung versuchte denn auch alles, um die Zeugen zu verunsichern, die durch ihre grauenvollen Erlebnisse schwer traumatisiert waren und oft nur in der Lage waren zu überleben, weil sie vieles verdrängt hatten, was jetzt gewaltsam wieder ins Bewusstsein gerückt werden musste.

So wurde zum Beispiel der Mord an 119 Jungen im Alter von 13 bis 17 Jahren verhandelt. Die Jugendlichen aus dem Gebiet von Zamosc in Polen wurden am Nachmittag des 23. Februar 1943 mit Phenolinjektionen ins Herz getötet, nachdem sie am Vormittag noch auf dem Hof des Krankenhauses von Auschwitz Ball spielen durften. Einer der Täter war der SS-Unterscharführer und Sanitätsdienstgrad Emil Hantl, der nur zu dreieinhalb Jahren verurteilt wurde und den Gerichtssaal als freier Mann verlassen konnte.

Ein Häftling war zusammen mit 38 anderen in eine „Hungerzelle“ gesperrt worden, die nur drei mal zweieinhalb Meter groß war. Luft bekamen sie nur aus einem handtellergroßen Loch in der Decke. Am Morgen waren über 20 der Insassen erstickt oder im Todeskampf von den anderen totgetreten worden.

Auch die grausamen Details der Vernichtung in den Gaskammern wurden durch die Schilderungen der Zeugen erstmals einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.

Wenn die Türen 20 Minuten nach dem Einfüllen von Zyklon B geöffnet wurden, fanden die Häftlinge, die zu ihrer Räumung abkommandiert wurden, bis zu 2.000 ineinander verkeilte nackte Leichen. Säuglinge, Kinder und Kranke, totgetreten auf dem Boden; dort breitete sich das Gas zuerst aus. Darüber lagen die Frauen, ganz oben die kräftigsten Männer. Um Geld zu sparen, wurde meist nicht genug Zyklon B eingeworfen, so dass die Tötung bis zu fünf Minuten dauern konnte und die schwächsten Opfer in ihrem Todeskampf unten blieben. Für 2.000 Menschen pro Kammer wurden 16 Büchsen à 500 Gramm benutzt, der Preis je Büchse betrug 5 Reichsmark. Etwa 865.000 Juden wurden in den Gaskammern von Auschwitz ermordet.

Mit großer Eindringlichkeit hat Peter Weiss in seinem Drama Die Ermittlung die wesentlichen Aussagen der Zeugen und der Angeklagten des Prozesses konzentriert. Er nennt es ein Oratorium in 11 Gesängen in Anspielung an Dantes Göttliche Komödie und die darin enthaltene Darstellung der Hölle. Auch wenn die kunstvolle Komposition eine gewollte Distanz beim Zuschauer und beim Leser erzeugt, nimmt ihn die Bilderabfolge von der Rampe bis in die Todeskammern doch in einer Weise gefangen, dass er sich dem Geschehen nicht entziehen kann. Es wäre zu wünschen, dass die Erinnerung an den Prozess einige Theater dazu bringt, dieses Stück erneut aufzuführen.

Juristisches Totoschweigen der NS-Verbrechen

Angeklagter 1: Wir alle
das möchte ich nochmals betonen
haben nichts als unsere Schuldigkeit getan
selbst wenn es uns schwerfiel
und wenn wir daran verzweifeln wollten
Heute
da unsere Nation sich wieder
du einer führenden Stellung
emporgearbeitet hat
sollten wir uns mit anderen Dingen befassen
als mit Vorwürfen
die als längst verjährt
angesehen werden müssten
(laute Zustimmung von seiten der Angeklagten)

(Peter Weiss: Die Ermittlung, Frankfurt 1965)

Nach dem Nürnberger Prozess, der noch von den Alliierten organisiert worden war und in dem nur wenige Vertreter der nationalsozialistischen Führungselite wegen ihrer Verbrechen angeklagt und verurteilt wurden, herrschte in der Anfangszeit der Bundesrepublik lange Zeit ein ziemlich geschlossenes Stillschweigen über die Vernichtungslager. Wirtschaftsführer wie Alfried Krupp, die von der Arbeit der KZ-Häftlinge profitiert hatten, wurden mit Billigung der Alliierten nach kurzer Haft wieder freigelassen und konnten ihre Konzerne weiter führen.

Der Kalte Krieg beherrschte damals die Politik und die Medien. Schon bald nach Gründung der Bundesrepublik hatten sich die Alliierten vollständig aus der Verfolgung von Naziverbrechern zurückgezogen und sie der deutschen Justiz überlassen. Da das am 29. Mai 1949 in Kraft getretene Grundgesetz es verbot, Deutsche ans Ausland auszuliefern, wurden zahlreiche untergetauchte Naziverbrecher, deren Straftaten im Ausland oder an Ausländern verübt worden waren, auch nicht an diese Länder ausgeliefert. Die bundesdeutsche Justiz jedoch wurde nur in seltenen Fällen gegen sie tätig.

Alle Straftaten aus der Zeit des Nationalsozialismus, die mit weniger als einem Jahr geahndet worden wären, fielen ohnehin unter eine Amnestie. Ab 1954 galt dies auch für Straftaten, die bis zu drei Jahre nach sich gezogen hätten. Das heißt, die Kleinen ließ man ohnehin laufen. Auch Straftaten wie „Verschleierung des Personenstandes aus politischen Gründen“ wurden amnestiert. Das erleichterte auch vielen größeren Verbrechern das Untertauchen.[6]

„Inzwischen hatten die Westalliierten ‚geradezu in einem Gnadenfieber’ - wie einer der Ankläger von Nürnberg, Robert Kempner später anmerkte, fast alle von ihnen abgeurteilten Naziverbrecher amnestiert....1953 befanden sich die meisten von ihnen schon wieder auf freiem Fuß und der letzte wurde dann 1958 entlassen.“[7]

In der Regierung Adenauer und in den Ministerien saßen hohe Nazis wie Theodor Oberländer[8] und Hans Globke. Daher konnte Oswald Kaduk, einer der meistbelasteten Angeklagten sagen: „Ich verstehe nicht, warum ich hier so hergenommen werde, während die wirklich Schuldigen frei sind. Wenn ich nur an Staatssekretär Globke denke...“.

Hans Maria Globke hatte noch kurz zuvor als Staatssekretär im Bonner Bundeskanzleramt gesessen, obwohl er 1936 Mitautor des Kommentars zu den Nürnberger Rassengesetzen gewesen war. Dieser Kommentar hatte als eine Art Handbuch für den Alltag für Richter, KZ-Wächter oder Wehrmachtsoffiziere erläutert, wie mit Juden oder Sinti und Roma als „Artfremden“ umzugehen sei. Weder Globke noch die Richter, die Juden oder jene, die sich weigerten, sie als Untermenschen zu betrachten, zum Tode oder anderen drakonischen Strafen verurteilten, saßen jemals vor Gericht.

Viele Richter, die willig im Interesse der Nazidiktatur Recht gesprochen hatten, waren wieder in Amt und Würden oder genossen in Frieden ihren Ruhestand. Nach der Wiederbewaffnung wurden die Offiziere von Hitlers Wehrmacht zum Aufbau der Bundeswehr herangezogen, ohne ihre Vergangenheit näher zu untersuchen.

Eine systematische Strafverfolgung von Naziverbrechern hat in der Bundesrepublik nie stattgefunden, genauso wenig wie eine angemessene Entschädigung ihrer Opfer. Bis heute weigern sich Profiteure von Auschwitz wie die Flick-Erben, sich an der Entschädigung der Zwangsarbeiter zu beteiligen. Ebenso wenig zur Verantwortung gezogen wurden die Wirtschaftsführer der IG Farben. Zu ihnen gehörte Heinrich Bütefisch, den die Bundesregierung sogar mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet hatte, obwohl er von einem alliierten Gericht in Nürnberg verurteilt worden war.

Bütefisch gehörte als Direktor der IG-Farben zu den Mitverantwortlichen für die Ausbeutung der Auschwitzhäftlinge als Zwangsarbeiter. Darüber hinaus gehörte er dem exklusiven „Freundeskreis des Reichsführers SS“ an und stand im Rang eines SS-Obersturmführers. Als dies bekannt wurde, ordnete Bundespräsident Heinrich Lübke die Rückgabe des Ordenszeichens an.

Erst 1958 wurde die Ludwigsburger Zentralstelle zur Erfassung dieser Verbrechen eingerichtet. Von einer systematischen Verfolgung der Naziverbrecher konnte aber auch danach nicht die Rede sein. Insgesamt wurden weniger als 500 Personen wegen ihrer Beteiligung an der organisierten Judenvernichtung bestraft.

Nur 100 der 4.500 Personen, die zwischen 1945 und 1949 wegen NS-Delikten vor deutschen Gerichten standen, waren wegen Tötungsverbrechen angeklagt worden (Die Zeit 51/2003). Von den Richtern des für seine skandalöse Rechtsbeugung berüchtigten Volksgerichtshofs wurde nie einer juristisch belangt. Erst in den neunziger Jahren stellte der Bundesgerichtshof fest, dass diese Verschonung der NS-Richter einen „Rechtsfehler“ darstelle und dass eine Bestrafung wegen Rechtsbeugung notwendig gewesen wäre.

In der 1949 gerade gegründeten Bundesrepublik wurde als eines der ersten Gesetze das sogenannte Straffreiheitsgesetz verabschiedet, das alle vor dem 15. September dieses Jahres begangenen Taten, die mit Gefängnis bis zu sechs Monaten beziehungsweise bis zu einem Jahr auf Bewährung geahndet werden konnten, amnestierte. 1950 empfahl der Bundestag, die Entnazifizierung zu beenden. In den fünfziger Jahren folgte dann Gesetz auf Gesetz, meist mit ausdrücklicher Billigung der Alliierten, durch die Naziverbrecher in immer weiterem Umfang straffrei gestellt wurden. Das Wirtschaftswunder, der Kalte Krieg und die Bekämpfung des Feindes im Osten beherrschten Politik und Medien der Bundesrepublik.

Fast die gesamte mittlere und höhere Führungsebene des nationalsozialistischen Vernichtungsapparats war nach der halbherzig durchgeführten „Entnazifizierung“ durch die Besatzungsmächte wieder in Justiz und Verwaltung eingegliedert worden und wurde nie wieder zur Rechenschaft gezogen.

1960 ließ der Bundestag sämtliche Naziverbrechen, sämtliche Tötungsdelikte außer Mord verjähren, nachdem er bereits in den 50er Jahren alle dagegen gerichteten Alliiertenverordnungen aufgehoben hatte. Fritz Bauer bemerkte damals, es sei verständlich, dass Staatsanwaltschaften und Gerichte aus solchen politischen Beschlüssen glaubten, „den Schluss ziehen zu können, nach Auffassung von Gesetzgebung und Exekutive sei die juristische Bewältigung der Vergangenheit abgeschlossen.“[9]

Die generelle Unwilligkeit zu Verfolgung der Naziverbrechen wirkte sich bis in die Ermittlungen zum Auschwitzprozess aus. Der Untersuchungsrichter Hans Düx führt folgenden Vorfall an: „So wurde ein auf dem Dienstweg zu versendendes eiliges Schreiben an die sowjetische Botschaft in Bonn im Justizministerium in Wiesbaden tagelang angehalten, weil in dem Schreiben die Bezeichnung DDR gebraucht worden war. Das Ministerium bestand darauf, es solle die Bezeichnung ‚Sowjetische Besatzungszone (SBZ)’ verwendet werden.“[10]

Erst durch den Auschwitzprozess wurde die skandalöse Debatte um die Aufhebung der Verjährungsfrist für Mord in Gang gebracht, die sich quälend viele Jahre hinzog. Endgültig wurde durch Bundestagsbeschluss die Verjährung für Mord und Völkermord erst am 16. Juli 1979 aufgehoben. Aber absurderweise konnte der erst 1954 ins Strafgesetzbuch eingeführte Paragraph gegen Völkermord auf die Naziverbrechen nicht im Nachhinein angewendet werden. Die Aufhebung der Verjährung galt daher nur für künftige Völkermorde.[11]

Auch wenn die rechtlichen Folgen des Auschwitzprozesses bei weitem nicht den Hoffnungen entsprachen, die viele Opfer und die Initiatoren des Prozesses sich gemacht hatten, hatte er doch das geistige Klima der Bundesrepublik entscheidend verändert. Die ungeschminkte Wahrheit über die Vernichtungslager, die durch ihn ans Licht kam, brachte viele, vor allem junge Menschen dazu, immer wieder nachzufragen, wie es zu diesem ungeheuerlichen Verbrechen kommen konnte. Was waren die wirklichen Ursachen für den Nationalsozialismus? Weshalb konnte er siegen?

Warum war der Widerstand gegen ihn so schwach? Weshalb hat die bürgerliche Demokratie der Weimarer Republik so kläglich versagt? Warum hat die Arbeiterklasse, die über mächtige Organisationen, die Gewerkschaften, die Sozialdemokratische und die Kommunistische Partei verfügte, Hitler an die Macht kommen lassen? Was waren die Ursachen für die Spaltung der Arbeiterbewegung? Warum kam es nicht zu einem gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus?

Fragen, die heute noch von derselben Aktualität sind wie vor vierzig Jahren und sich nur beantworten lassen, durch ein genaues Studium der Geschichte. Die einzig schlüssigen Antworten auf diese Fragen fanden einige von uns damals in den Analysen und Artikeln Leo Trotzkis, die inzwischen von der Geschichte in allen Punkten bestätigt wurden. Auschwitz wäre ohne den Aufstieg des Stalinismus und seine Vorherrschaft über die Kommunistische Internationale nicht möglich gewesen.

Die Erinnerung an den Auschwitzprozess ist eine gute Gelegenheit diese Fragen erneut zu studieren.


[1]

Werner Renz: 40 Jahre Auschwitz-Prozess: Ein unerwünschtes Verfahren. www.fritz-bauer-institut.de/texte/essay/12-03_renz.htm

[2]

Hans Düx: Zufallsprodukt Auschwitzprozess. (http://www.rav.de/infobrief90/duex.htm)

[3]

Conrad Talers Berichte vom Auschwitz-Prozess, zitiert nach Junge Welt: http://www.jungewelt.de/2003/12-20/032.php

[4]

Düx: a.a.O

[6]

vergl. Ingo Müller: Furchtbare Juristen, München 1987, S. 242ff

[7]

ebd., S. 244

[8]

Theodor Oberländer war Vertriebenenminister im Kabinett Adenauer und Vertriebenenfunktionär. Er hatte im Dritten Reich zur akademischen Elite der Nationalsozialisten gehört und sich als Vertreter des Amtes Ausland/Abwehr federführend an der Besetzung Osteuropas beteiligt. Nachdem er in Ostberlin wegen Kriegsverbrechens zu lebenslanger Haft verurteilt worden war, musste er 1960 die Regierung verlassen.

[9]

Ingo Müller a.a.O.: S. 244

[10]

Hans Düx: Zufallsprodukt Auschwitzprozess. (http://www.rav.de/infobrief90/duex.htm)

[11]

ebd., S. 249f

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